# taz.de -- David Grossman „Was Nina wusste“: Endlich aufräumen | |
> Warum hat Vera damals ihre Tochter allein gelassen? Die Geschichte „Was | |
> Nina wusste“ ist virtuos erzählt, und führt in die Vergangenheit zurück. | |
Bild: Das Strafgefängnis auf der Insel Goli Otok wurde 1988 stillgelegt. Es ka… | |
Zu Beginn scheinen die Sympathien klar verteilt. Die 90-jährige Vera ist | |
die Heldin der Geschichte: Als einstige Partisanin und Witwe des | |
vermeintlich stalinistischen Kommunisten Miloš wurde sie nach dessen | |
Selbstmord in Titos Jugoslawien im Straflager inhaftiert, landete 1963 im | |
israelischen Kibbuz und heiratete dort Tuvia, mit dem sie der Verlust einer | |
großen Liebe verband. Keusch drehten Vera und Tuvia beim Sex die im | |
Schlafzimmer hängenden Bilder ihrer Ex-Gatten um: „Und diese Wand haben sie | |
gekannt sehr gut“, erklärt Vera verschmitzt. | |
Zwei jugendliche Kinder bringen die beiden mit in die Ehe: Vera die | |
17-jährige Nina und Tuvia den ein Jahr jüngeren Rafael, der sich auf den | |
ersten Blick lebenslänglich in Nina verliebt, später mit ihr ein Kind | |
zeugt, Gili, und doch von ihr verlassen wird. Nina, dieses Urteil steht | |
zunächst fest in David Grossmans neuem Roman, ist auch Jahrzehnte später | |
noch schwer traumatisiert, nymphomanisch, unfähig oder nicht willens, ihre | |
Geschichte aufzuarbeiten. Eine Antiheldin und Buhfrau, das monströse Opfer. | |
Denn es ist Gili, die die Geschichte der Mutter und Großmutter erzählt. Und | |
sie ist zunächst parteiisch, muss parteiisch sein: So wie Vera einst die | |
sechsjährige Nina verließ, um auf der Felseninsel Goli Otok Zwangsarbeit zu | |
verrichten, so hat Nina die kleine Gili verlassen, die bei Rafael und Vera | |
aufwuchs. Nina zog nach New York, später nach Norwegen und kehrt höchstens | |
alle paar Jahre nach Israel zurück. | |
Die Abwesenheit der Mutter ist das fürchterliche Erbstück, das nun auch die | |
kinderlose Gili bedroht. Deshalb ist Gili, die das Kinderthema latent | |
umtreibt, nur zu bereit, sich zusammen mit Vera, Nina und Rafael auf die | |
Reise nach Kroatien zu machen, in Veras Geburtsort Čakovec und vor allem | |
auf die einstige Gefangeneninsel Goli Otok. Doch es geht um mehr als | |
Sightseeing in der Vergangenheit: Ein Film soll daraus werden, eine | |
Erinnerungshilfe. | |
## Ein Film um sich selbst zu erklären | |
Denn Nina platzt beim Geburtstag ihrer Mutter mit einer Horrornachricht | |
heraus: Bei der Mittfünfzigerin wurde gerade Demenz diagnostiziert. Drei, | |
vier Jahre bleiben ihr noch, bevor sie sich selbst vergessen haben und eine | |
andere geworden sein wird. Sie will den Film, um sich künftig selbst zu | |
erklären, wer sie ist oder war. Eigentlich soll der ungeliebte Geliebte | |
Rafael, der früher Filmregisseur war, die Reise mit der Kamera begleiten, | |
aber an seiner Stelle ergreift Tochter Gili, sein einstiges Skriptgirl, das | |
Ruder. | |
David Grossmans kunstvolle Konstruktion erlaubt es, das Aufzeichnen der | |
Geschichte, ihr Making-of gewissermaßen, permanent zu reflektieren. Immer | |
wieder fließen Kameraeinstellungen, Blick- und Rederichtungen in die | |
Beschreibung ein und verdoppeln oder verdreifachen gar die Erzählsituation. | |
Denn am Ende erzählt Grossman, wie Gili darüber schreibt, wie sie den Film | |
drehten. Wie sich Nina über die Kamera an ihr künftiges Ich wendet oder | |
Vera sich dieser Adressierung verweigert, weil sie bestimmte Dinge ihrer | |
Tochter nicht ins Gesicht sagen kann: „Warum filmen wir dieses Gespräch | |
hinter Ninas Rücken?“, fragt sich Gili. „Warum jetzt noch, wenige Stunden | |
bevor wir alle zusammen auf die Insel fahren, um doch endlich aufzuräumen | |
mit dem, was uns seit drei fucking generations die Familie vergiftet?“ | |
## Ungeheurer Sog | |
Der nicht unkomplizierten Anlage zum Trotz entwickelt „Was Nina wusste“ | |
schnell einen ungeheuren Sog. Denn das Problem ist weniger, dass nicht alle | |
Beteiligten und bald auch die Leserin ungefähr wüssten, wie die Geschichte | |
gelaufen ist, auch wenn bis zum Schluss immer neue Details hinzukommen. | |
Sondern vielmehr, wer die Ereignisse und Entscheidungen wie bewertet und | |
wer wem davon erzählen kann. | |
Es geht um Schmerz, Verrat, bittere Schuldgefühle, blinde Flecken, aber | |
auch um eine große Sehnsucht nach Liebe und Verzeihung. Grossmans Schreiben | |
aus Gilis mitfühlender Perspektive setzt sich wie getrieben immer neuen | |
Gefühlswaschgängen aus und nutzt dennoch jede Gelegenheit, um mit | |
sarkastischem Witz nach Luft zu schnappen, einen Moment des Abstands | |
herzustellen. | |
David Grossman macht keinen Hehl daraus, dass Vera, Nina und Gili reale | |
Vorbilder haben. Er war mit Eva Panić-Nahir (1918–2015) eng befreundet, | |
erhielt von ihr den ausdrücklichen Auftrag, ihre und die Geschichte ihrer | |
Tochter neu zu erzählen und gegebenenfalls neu zu erfinden. | |
## Gefühlsausschläge sichtbar gemacht | |
Er ist nicht der Erste: Schon Danilo Kiš hat Ende der 1980er Jahre die | |
vierteilige Fernsehdoku „Nacktes Leben“ über Eva gedreht und damit die | |
Schrecken von Lagern wie Goli Otok publik gemacht. Auch den Film (auf | |
Youtube unter dem Titel „Eva“ zu sehen) über die Reise der drei Frauen auf | |
die Insel gibt es, allerdings haben ihn nicht Enkelin und Stiefsohn, | |
sondern die israelischen Regisseure Macabit Abramson und Avner Faingulernt | |
gedreht. | |
Gerade im Vergleich mit diesem durchaus sehenswerten Dokumentarfilm zeigt | |
sich, wie virtuos und unprätentiös Grossman von Traumatisierung erzählt, | |
wie er Denkbewegungen und Gefühlsausschläge zugleich sichtbar macht. Eva | |
Panić-Nahir wusste sicher, dass sie mit der Fiktionalisierung ihres Lebens | |
den Richtigen betraut: Grossman verlor selbst 2006 einen Sohn, der als | |
Soldat im Krieg gegen den Libanon kämpfte. Sein Roman „Eine Frau flieht vor | |
einer Nachricht“, an dem er zu dieser Zeit schrieb, handelt auch vom Umgang | |
mit diesem Schmerz. | |
In „Was Nina wusste“ verschiebt sich mit jeder Seite das Bild, das Gili am | |
Anfang von Vera und Nina hatte. Veras Konturen werden härter, die Ninas | |
weicher. Veras Erfahrungen im Straflager auf Goli Otok, albtraumhafte | |
Schilderungen von physischer und seelischer Folter, fließen als anders | |
typografierte Erinnerungen ein. Tagsüber muss Vera stundenlang schutzlos in | |
der Sonne stehen, um einem Setzling der Lagerkommandantin Schatten zu | |
spenden, nachts quälen sie Träume von Miloš, der nach Nina fragt. | |
## Der Versuch eine überlebensgroße Liebe zu retten | |
Umso unausweichlicher stellt sich immer wieder die Frage, warum Vera, von | |
Titos Schergen vor die Wahl gestellt, sich nicht von dem toten Miloš | |
distanzierte, um bei ihrer Tochter zu bleiben, sondern ihm um den Preis von | |
Höllenqualen die Stange hielt und dafür Nina „auf die Straße“ setzte | |
(tatsächlich bliebt sie zweieinhalb trostlose Jahre bei Veras Schwester)? | |
War das Veras Antwort auf Miloš’ Selbstmord, der verzweifelte Versuch, die | |
überlebensgroße Liebe zwischen der Jüdin und dem Sohn armer serbischer | |
Bauern doch noch zu retten? | |
Statt Antworten zu geben, statt womöglich Urteile zu fällen, bleibt | |
Grossman Gilis Perspektive treu. Und Gili, das Skriptgirl, notiert: „Sie | |
zuckt zusammen. Als hätte ich sie ins Gesicht geschlagen. Zündet sich noch | |
eine Zigarette an, bietet auch meinem Vater eine an. Mir nicht. Sie | |
befiehlt ihm, die Kamera anzustellen, und er gehorcht. Ihre Finger zittern. | |
Was tu ich ihr hier an. Wenn sie erkennen würde, was sie getan hat, würde | |
sie auf der Stelle zu einem Häufchen Staub zerfallen.“ | |
31 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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