# taz.de -- Familienmord beschäftigt Frankreich: Zu fröhlich, zu glücklich | |
> Die Zeitschrift „Society“ veröffentlicht die Hintergründe zu einem | |
> dramatischen Mord aus dem Jahr 2011 – und alle wollen ein Exemplar haben. | |
Bild: In der Vergangenheit führte die Spur im Fall immer mal wieder in dieses … | |
Vor einigen Wochen, zu Beginn dieses seltsamen, aber irgendwie schönen | |
Sommers, in dem man französische Strände des Physical Distancings wegen | |
„dynamisch“ besucht und sich daran gewöhnt hat, permanent Leuten zu | |
begegnen, die aussehen, als würden sie gleich eine Bank ausrauben, in dem | |
endlich mal keiner Monate mit seinem Urlaubsziel angab, einfach weil sich | |
diesmal fast alle auf spontan zusammengebastelten (Inlands-)Routen bewegen, | |
saßen wir bei einem Freund in der Bretagne auf der Terrasse seines | |
angemieteten Hauses und sprachen über Mord und zu glücklich wirkende | |
Menschen. | |
Dieses Haus, das oberhalb einer Klippe unweit von Pont-Aven, der Stadt von | |
Gauguin und der berühmten [1][„Schule von Pont-Aven“] lag, sei komisch, | |
hatte er angekündigt, irgendwas sei mit den Besitzern faul. Sie würden auf | |
den vielen, in allen Ecken verteilten Fotos zu fröhlich, zu glücklich, zu | |
aufgeräumt aussehen, fand er, die vielen „Super-Mama“-, „Bester Papa der | |
Welt“- und „La vie est belle“- Magneten am Kühlschrank würden doch im | |
Grunde von einer tiefen Verzweiflung, vielleicht sogar von Welthass zeugen. | |
Dieser Freund, das muss man vielleicht dazu sagen, bevor er wie ein | |
Misanthrop wirkt, hat vor vielen Jahren ein Buch über einen Mann | |
geschrieben, der eines Tages, quasi aus dem Nichts, seine Familie ermordet, | |
nur damit diese nicht aufdeckt, dass alles in seinem angeblich so schön | |
geordneten Leben erlogen war. | |
Unser Freund hat also Erfahrung mit Menschen, die aus der vermeintlich | |
harmonischen Banalität ihres Alltags heraus ganz plötzlich etwas sehr | |
Unerwartetes und Düsteres tun. Nur dachte er bei dem Haus gar nicht an | |
„seinen“ Mörder, sondern an einen, über den gerade ganz Frankreich sprich… | |
[2][Xavier Dupont de Ligonnès]. | |
## Einzementierte Leichen | |
In Deutschland erinnert man sich wahrscheinlich nicht an diese Geschichte, | |
die das Land ähnlich wie die des „kleinen Grégory“ in Atem hielt und in | |
diesem Sommer wieder hält: Dupont de Ligonnès war ein ganz normaler Bürger, | |
ein freundlicher Nachbar, ein fürsorglicher Ehemann und Vater. Zumindest | |
sah es immer so aus. Bis man 2011 unter der Terrasse des Familienhauses die | |
einzementierten Leichen seiner Frau und seiner vier zwischen dreizehn und | |
zwanzig Jahre alten Kinder fand und ihn nie wieder sah. | |
Jetzt entwickelte sich neun Jahre nach der Tat so etwas wie eine | |
„XDDL“-Hysterie. Seitdem die lesenswerte Zeitschrift [3][Society ] den | |
ersten Teil ihrer Recherche über den Fall veröffentlicht hat, trifft man | |
kaum noch jemanden, der einen nicht fragt: „Hast du schon Dupont de | |
Ligonnès gelesen? Das ist doch wie Truman Capote! Wie ‚Kaltblütig!‘.“ O… | |
aber einem ganz uncoronamäßig auf die Pelle rückt und aufgeregt fragt: | |
„Hast du das Heft? Kannst du es mir geben?“ | |
Denn, so unwahrscheinlich es mitten in der Pressekrise auch ist: Das Heft | |
ist quasi unauffindbar. In den sozialen Netzwerken drehen die Leute | |
regelrecht durch. Wer an einem Kiosk gleich mehrere Exemplare findet, | |
fühlt sich, „als hätte er im Lotto gewonnen“, man sendet Tipps raus, wo m… | |
es noch bekommt, wenn einer es im Zug liest, liest der Nachbar gleich mit | |
und schreibt auf Twitter „Blätter doch nicht so schnell um!“. | |
Es ist, wenn man so will, das Buch des Sommers. Und das, obwohl man in | |
dieser tatsächlich grandios geschriebenen, fast 100 Seiten langen Recherche | |
eigentlich nichts Neues erfährt. | |
## Woher die Faszination? | |
Wir haben uns in diesem komischen Haus in der Bretagne sitzend gefragt, was | |
das über uns alle aussagt, dass einer, der eines Tages beschließt, sein von | |
Konventionen und Bildern bestimmtes Leben und alles was damit zu tun hat, | |
zu zerstören, uns so fasziniert. | |
Ob es überhaupt etwas aussagt. Wir kamen zu keinem Schluss. Außer | |
vielleicht dem, dass es möglicherweise in mancher Hinsicht nicht so | |
schlecht ist, dass dieser Sommer alle ein bisschen aus ihrem Trott und der | |
sogenannten, von einigen so heiß zurückersehnten „Normalität“ reißt. | |
11 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://www.finistere-tourismus.com/auf-den-spuren-gauguins-und-der-schule-v… | |
[2] https://www.lemonde.fr/economie/article/2020/08/09/xavier-dupont-de-ligonne… | |
[3] https://www.society-magazine.fr/ | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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