| # taz.de -- Lob des Picknicks: Essen, das uns erdet | |
| > Das Picknick ist eine kulinarische Raumaneignung im besten Sinne. Egal, | |
| > ob mit Goldrand-Geschirr und Spitzenkleid oder mit Oliven auf dem | |
| > Baugerüst. | |
| Bild: Einen Korb braucht man für ein Picknick nicht zwingend. Ein Stück Wasse… | |
| Der Mensch soll sich von Zeit zu Zeit erden, aber sich zu erden ist gar | |
| nicht so einfach. Es gibt unzählige Ratgeber zu diesem Thema und natürlich | |
| sehr viele Tipps, die man im Jahr 2020 befolgen soll, um angeblich besser | |
| runterzukommen von all dem Work-Life-Pandemic-Balance-Stress. | |
| Da heißt es dann beispielsweise, dass Sport erdet und Gartenarbeit | |
| (logisch) und Malen. Manch eine WG ist überzeugt, dass ein regelmäßiger | |
| abendlicher Trommelkreis erdet, was Nachbar:innen der WG wiederum von der | |
| Erde an die Decke oder auf die Palme oder sonst wohin bringt. Was alle | |
| diese Tipps jedenfalls gemeinsam haben, ist eine Abwendung vom Digitalen | |
| und eine Hinwendung zum ganz analogen Boden und zu sich selbst. | |
| Eine der schönsten Möglichkeiten, sich dem Boden zuzuwenden, ist ein | |
| Picknick. Leider ist auch das Picknick wie alles – inklusive allem, was | |
| einfach nur Spaß machen soll – politisch. Und natürlich gibt es diverse | |
| Akteur:innen, die schon seit Jahrhunderten ausdauernd versuchen, das | |
| Picknick als solches zu versauen. Wespen, zum Beispiel, Ameisen, | |
| Eurozentrismus, Klassismus und das Patriarchat. | |
| Auf Youtube kann man sich ansehen, wie eine [1][britische Hausfrau im Jahr | |
| 1935] diverse Blätterteighäppchen für ein Picknick im Freien so aufwendig | |
| vorbereitet, dass ihr Ehemann auf das gewohnt bürgerliche Speisen am | |
| Esstisch verzichten kann. Da schneiden Frauenhände kleine Körbchen aus | |
| Salatgurken und befüllen sie mit einer Mischung aus Mayonnaise und | |
| geriebenem Käse, während die edukative Erzählstimme vermittelt: Wenn dein | |
| Mann keine Lust hat, draußen zu essen, dann ist das möglicherweise deine | |
| Schuld. | |
| ## Eine Sache für weiße Gesellschaften | |
| Wer sich etwas mit der Geschichte des Picknicks beschäftigt, stellt | |
| außerdem nach kurzer Zeit fest, dass Picknicken besonders in Kunst und | |
| Kultur so gut wie immer eine Sache für feine weiße Gesellschaften ist. Da | |
| sitzen dann in strahlend helle Spitzenkleider gehüllte Frauen auf karierten | |
| Picknickdecken, daneben Männer in maßgeschneiderten Anzügen, man trägt Hut, | |
| gern auch mal mit Seidenband, und die Kinder hopsen fröhlich zwischen den | |
| hübschen Zweigen einer Trauerweide umher. | |
| Das ist idyllisch, aber eben auch absurd, führt man sich vor Augen, dass | |
| dieses Picknicken wohlhabender Europäer:innen als besonders kultiviert gilt | |
| – wohingegen die Praxis des Draußen-auf-dem-Boden-Essens, wenn sie | |
| außerhalb Europas und/oder von weniger reichen Menschen durchgeführt wird, | |
| eher als rückschrittlich oder unzivilisiert gelesen wird. | |
| Im Jahr 2020 wissen wir zum Glück: Picknick ist für alle da, und die Regeln | |
| für das Picknick kann sich ein:e jede:r selbst machen. Mit Mayokäse | |
| gefüllte Salatgurken für den Ehemann sind sowohl aus kulinarischer als auch | |
| aus feministischer Sicht absoluter Schmu – aber wer’s probieren will, soll | |
| das ruhig tun. | |
| ## Ein bisschen dekadente Anarchie | |
| Picknick ist schließlich ein bisschen Anarchie, Picknick ist Freiheit, und | |
| zwar eine, die selbst ein gefährliches Virus uns nicht nehmen kann, weil | |
| picknicken mit Abstand geht oder allein oder notfalls auch in der eigenen | |
| Wohnung, ganz flexibel eben. Außerdem kann ein Picknick sowohl provisorisch | |
| und simpel als auch dekadent sein, man kann also von allem ein bisschen | |
| haben, und das ist sonst ja eher selten. Während andere beliebte | |
| Snacking-Settings – etwa das Büffet – oft viel zu förmlich daherkommen, | |
| bleibt das Picknick im wahrsten Sinne bodenständig. | |
| Man breitet seine Decke aus, und das ist eine getroffene Entscheidung: Hier | |
| ist der Ort, an dem ich esse. Dieser Ort muss mitnichten aussehen wie ein | |
| Manet-Gemälde, genauso wenig, wie man für die Mahlzeit an sich einen | |
| Picknickkorb mit angeschnalltem Goldrand-Geschirr benötigt. Picknicken geht | |
| überall und mit allem: auf einer Wiese mit einem geklauten Apfel, den man | |
| aus Prinzip isst, obwohl er zu sauer ist. An einem See mit einer Tüte | |
| Tortilla-Chips, die auf den feuchten Badeanzug krümeln. An einer | |
| Autobahnraststätte mit labbrigen Fastfood-Pommes, auf einem Parkhausdach | |
| mit selbst gemachtem Sushi oder auf dem nervigen Baugerüst vor dem | |
| Schlafzimmerfenster mit Wein und Oliven. Picknick ist kulinarische | |
| Raumaneignung im besten Sinne. | |
| Während man die verschiedenen Speisen auspackt, kann man dann staunen und | |
| bestaunen lassen, was da so alles zubereitet und mitgebracht wurde. | |
| Erleichtert sein, wenn jemand ein Messer dabeihat. Improvisieren, wenn | |
| nicht. Sich klug finden, wenn man süßes Obst aus alten Marmeladengläsern | |
| isst oder Limonade aus ihnen trinkt, weil man die ja zwischendurch | |
| zuschrauben und so Wespen fernhalten kann. Stolz sein, wenn man | |
| anschließend den anfallenden Müll in den Schraubgläsern sammelt. | |
| ## Rumliegen, die Wolken beobachten, genießen | |
| Man kann außerdem rumliegen und beobachten, abwechselnd die Wolken und das | |
| Drumherum. Genießen, dass man so viel mehr sehen kann als nur die Menschen | |
| oder Tiere, mit denen man sonst am Esstisch sitzt. Vielleicht geht jemand | |
| mit Hund vorbei oder jemand mit Kind. Vielleicht kommt ein | |
| Haubentaucherclan zu Besuch, vielleicht grüßt man sich. Viel anderes hat | |
| man schließlich nicht zu tun. | |
| Die Singer-Songwriter-Model-Schauspielerin Zooey Dechanel hat mal gesagt: | |
| „Nothing is better than a picnic.“ Das ist natürlich extrem kompromisslos, | |
| es kommt auch hier mal wieder drauf an. Wahr ist aber: Ein Picknick ist | |
| eine der schönsten und zugleich vernünftigsten Möglichkeiten, für ein paar | |
| Stunden diese Sache mit der Pandemie zu vergessen. Rumliegen, Löcher in die | |
| Luft gucken, ab und zu eine Weintraube oder ein Fleischklößchen oder ein | |
| Stück Fladenbrot in den Mund schieben. Die eigenen Gedanken aufzählen oder | |
| sich anderer Leute Gedanken vorlesen. | |
| Und dabei dann nicht einmal bemerken, dass man zwar auf dem Boden ankommen, | |
| aber trotzdem kurz ein bisschen gedanklich abheben kann. | |
| 16 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=dIeQlkiM7L0 | |
| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
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