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# taz.de -- Die Wahrheit: Am Ende des Fernsehregenbogens
> Die letzte Grenze von Netflix ist fast erreicht: Extremseher kommen dem
> mystischen Sendeschluss immer näher und gucken sich eckige Augen.
Bild: Hinter dem Bildschirm beginnt das Nichts
Die Coronapandemie droht den Streaming-Giganten Netflix in die Knie zu
zwingen. Der Aktienkurs fällt, der digitalen Abspielplattform gehen langsam
die Inhalte aus. Während des Lockdowns im Frühjahr wurde so viel Content
weggeschaut wie nie zuvor. Binger, also Menschen, die bis zum Exzess
fernsehen, behaupten bereits, sich bis zum Ende des Regenbogens geglotzt zu
haben.
Allerdings erreicht man die allerletzte Seite von Netflix nur, wenn man
monatelang auf mehreren Geräten rund um die Uhr schaut. Was unter normalen
Umständen einer Elite von Couch-Potatoes vorbehalten ist, könnte in einem
verregneten Lockdown-Herbst gängige Praxis werden. „Eine zweite Binge-Welle
überstehen wir nicht“, meint ein Netflix-Insider.
Mittlerweile hat sich unter jungen Bingern ein regelrechter Kult um die
mythische „Last Frontier“ jenseits der Programmberge gebildet. Galt das
Netflix-Füllhorn den Digital Natives bisher als unerschöpflich, muss sich
nun auch die Generation Z erstmals mit der metaphysischen Frage
herumplagen: Wohin geht die Seele, wenn der Abspann gelaufen ist?
Intensiv-Netflixer beschreiben den Übergang von der finalen Episode ins
Nichts als transzendente Erfahrung. Allerdings ist keiner der Extremgucker
unbeschadet zurückgekehrt. Manche bekamen viereckige Augen, andere zogen
sich einen Dekubitus, den Skorbut oder Chipskrümel im Bett zu. Doch alle
vereint die Ahnung, dass es auf der anderen Seite des Bildschirms eine
andere Welt geben könnte. Manche wollen ein Testbild am Ende eines dunklen
Tunnels gesehen haben, andere glauben, dass hinter der allerletzten Folge
der allerletzten Show eine Tür aufgeht, die den TV-Konsumenten als
Hauptfigur direkt in die eigene Lieblingsserie führt.
## Frühgeschichte des Fernsehens
Aufschluss könnte ein Blick in die Frühgeschichte des Fernsehens geben. „In
den heiligen Texten der Altvorderen finden wir Hinweise auf eine kultische
Praxis namens Sendeschluss“, erklärt der 23-jährige Bewegtbildarchäologe
Tycho-Leon Pistorius und blättert in einer zerfledderten Hörzu, die bei
einer Grabung am Mainzer Lerchenberg gefunden wurde. „Offenbar ein
Übergangsritus in die Schattenwelt, aber da können wir nur mutmaßen. Unsere
Kenntnis analoger Stammesgesellschaften ist einfach zu gering.“
Doch auch von anderer Seite droht der Streaming-Plattform Ungemach. Wenn
der Nachschub aus den Film- und Fernsehstudios weiterhin ausbleibt, könnte
es zu Content-Engpässen mit unabsehbaren Folgen kommen. Coronarestriktionen
und Finanznot erschweren derzeit die Dreharbeiten, die Mimen müssen bei
ihrem Spiel auf physische Nähe verzichten. Nicht einmal Klassiker, die
klassischerweise ohne Fummelszenen auskommen, können noch ordnungsgemäß
durchgespielt werden. Aus Sicherheitsgründen endet die Knutschtragödie
„Romeo und Julia“ neuerdings mit der Balkonszene.
Schon arbeiten Autoren an Büchern, die geltende Abstandsregeln
dramaturgisch sinnhaft in die Handlung integrieren. Das Remake des
Slasher-Movies „Acht Millimeter“ wird auf „Acht Meter“ verlängert, vom
„Dreckigen Dutzend“ wiederum muss ein halbes abgezogen werden. „Zweikämp…
lassen wir nur noch zu Pferd mit mittelalterlichen Turnierlanzen
ausfechten“, verrät uns ein Drehbuchautor, der am neuen Bond-Film mit dem
Arbeitstitel „Der Mann mit der goldenen FFP-Maske“ arbeitet. „Das wirkt v…
allem im zeitgenössischen Spionagethriller etwas albern.“
## Unbeachtete Fernsehnationen
Schon wird auf bereits abgedrehte Produktionen zurückgegriffen, die
neuerdings auch aus bisher eher unbeachteten Fernsehnationen stammen
dürfen. „Scandi Noir ist passé“, lässt Netflix etwa in einer
Programmankündigung wissen. „Der neue heiße Scheiß ist Skipetar Noir. Denn
nichts zeigt die Abgründe der menschlichen Seele albtraumhafter als die
Innenstadt von Tirana.“
Allerdings sind die Synchronstudios schon jetzt überlastet, für die
Bearbeitung außereuropäischer Stoffe fehlen oft sprachliches Know-how und
kulturelle Sensibilität. Bisweilen kann man nur von einer „gefühlten
Übersetzung“ der Werke sprechen. So wurde der einstündige Monolog aus dem
Meisterwerk „Magnolien im Ostwind“, in dem der koreanische Regisseur Jo
Jong Paik seine Hauptdarstellerin Verheerungen der japanischen Kolonialzeit
aufarbeiten lässt, mit einem einzigen Satz untertitelt: „Frau beschwert
sich in ausländischer Sprache.“
Jüngst gab es gar diplomatische Verwicklungen zwischen Netflix und seinem
zentralasiatischen Publikum, nachdem die beliebte Kochshow „The Great Uzbek
Plow-Off“ als episches Rachedrama zweier verfeindeter Familien missdeutet,
entsprechend untertitelt und vermarktet wurde. Ein interkulturelles
Missverständnis, wie Netflix betont: „Womöglich hat uns die Eingangsszene,
in der ein bärtiger Patriarch dem anderen bärtigen Patriarchen das Auge mit
dem Löffel auszustechen versucht, auf eine falsche Fährte gesetzt. Das
haben wir nicht gleich mit familientauglicher Unterhaltung assoziiert.“
24 Jul 2020
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Fernsehen
Netflix
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