| # taz.de -- Volksgruppe der Jenischen in Deutschland: Anerkennung für die Unsi… | |
| > Die Jenischen möchten als nationale Minderheit anerkannt werden und | |
| > gründen einen eigenen Zentralrat. Die Bundesregierung zeigt sich bisher | |
| > stur. | |
| Bild: Alexander Flügler zeigt in Singen Fotos seiner Vorfahren | |
| Karlsruhe taz | Sie waren über Jahrhunderte fahrende Handwerker und | |
| Händler, mit einer eigenen Sprache, Musik und Lebensweise, die Jenischen. | |
| Lange waren sie in Deutschland eine [1][weitgehend unsichtbare Minderheit.] | |
| „Wir Jenischen gehören seit Jahrhunderten dazu und werden trotzdem immer | |
| wieder an den Rand gedrängt“, so beschreibt der Singener Unternehmer | |
| Alexander Flügler die Alltagserfahrung seiner Volksgruppe. Anders als Sinti | |
| und Roma definieren sie sich nicht über ihre ethnische Herkunft, sondern | |
| über Familien. Heute, nachdem fast alle Jenischen sesshaft sind, ist | |
| unklar, wie viele von ihnen in Deutschland leben. Die Regierung geht von | |
| 8.000 aus, der Zentralrat spricht von 400.000 und geht davon aus, dass | |
| viele Menschen gar nicht mehr wissen, dass sie aus einer Jenischen-Familie | |
| stammen. | |
| Mit der Unsichtbarkeit soll es jetzt vorbei sein. Im Herbst vergangenen | |
| Jahres hat der Singener Unternehmer am Rande eines Kulturtreffens im | |
| bayerischen Ichenhausen den „Zentralrat der Jenischen“ gegründet. Den | |
| Vorsitz hat Flügler übernommen. Der Verein setzt sich für die Erforschung | |
| von Geschichte, Kultur und Sprache ein. Das wichtigste Ziel des Vereins ist | |
| eine Anerkennung der Jenischen als nationale Minderheit, ähnlich wie Roma, | |
| Sinti, oder die dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein. | |
| Die Hürden dafür liegen hoch. Die Bundesregierung hat zur Anerkennung von | |
| Minderheiten Kriterien definiert, dazu gehört der Nachweis einer eigenen | |
| Sprache, Kultur und Geschichte. | |
| ## Verfolgt von den Nazis | |
| Ein erstes Treffen mit dem Beauftragten der Bundesregierung für nationale | |
| Minderheiten Bernd Fabritius verlief für die Vertreter des Zentralrats | |
| offenbar ernüchternd. Der Zentralrat brachte linguistische Studien vor, die | |
| die jenische Sprache als eigenständig, aber mit dem Jiddischen verwandt | |
| charakterisieren. Doch Fabritius blieb bei der schon lange vertretenen | |
| Linie der Bundesregierung, die Jenischen seien ein „heterogener Teil der | |
| Bevölkerung“, der die Kriterien nicht erfülle. | |
| Darauf hat der Zentralrat jetzt eine Entgegnung formuliert, die der taz | |
| vorliegt. Fabritius Haltung könne nur aus Unkenntnis erfolgen, glaubt der | |
| Zentralrat. In einem Brief fordert der Vorstand eine seriöse | |
| wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Anliegen. Die erste | |
| Stellungnahme von Fabritius sei das Gegenteil davon. „Es werden Vorurteile | |
| übernommen, die teilweise vom Nationalsozialismus geprägt worden sind“, | |
| heißt es in dem Brief. | |
| Paradox genug, müssen die Jenischen, um ihre Identität nachzuweisen und | |
| Familienmitglieder wiederzufinden, Regierungsdokumente aus der Nazizeit | |
| nutzen, die den Nazis dazu dienten, Angehörige dieser Volksgruppe zu | |
| identifizieren und zu verfolgen. | |
| Auch wegen der Verfolgung im Dritten Reich hat die Bundesregierung wohl | |
| kein allzu großes Interesse daran, noch weitere Minderheiten anzuerkennen. | |
| Sie fürchtet die Forderung nach Entschädigungszahlungen. Denn wie auch | |
| [2][Sinti und Roma] wurden die Jenischen unter den Nazis verfolgt und zum | |
| Teil auch vernichtet. | |
| ## Vorbild Schweiz | |
| Doch um Entschädigungszahlungen geht es den Jenischen ausdrücklich nicht. | |
| Es sei nie um Renten oder Entschädigungen gegangen, schreibt der ehemalige | |
| Sprecher im Bundesgesundheitsministerium Klaus Vater in einem Text auf | |
| seinem Blog. Auch der Spitzenbeamte, inzwischen im Ruhestand, hat jenische | |
| Wurzeln und war beim Treffen mit dem Minderheitenbeauftragten dabei. „In | |
| manchen Fällen wollten die von den Nazis Gequälten nur noch vor dem | |
| Lebensende erleben, dass Staat und Gesellschaft sich ihrer erinnern“, so | |
| Vater. | |
| Vorbild für eine Anerkennung könnte die Schweiz sein, wo die staatliche | |
| Repression gegen Jenische bis in die 1970er Jahre andauerte. Die heute etwa | |
| 40.000 Jenischen in der Schweiz werden dort als Minderheit anerkannt und | |
| ihre Lebensform als Reisende wird vom Staat unterstützt. Gemeinden müssen | |
| Lagerplätze ausweisen, auf denen die Fahrenden campieren können. | |
| Sollte Fabritius eine nähere Auseinandersetzung mit dem Thema weiterhin | |
| ablehnen, die dem Stand der Forschung standhält, will der Zentralrat | |
| rechtliche Schritte prüfen. „Wir sind in den letzten Jahren von Pontius zu | |
| Pilatus gelaufen“, sagt Flügler. Immer mal wieder habe es ermutigende | |
| Signale gegeben, Ergebnisse jedoch nicht. Aber Flügler gibt nicht auf: „Wir | |
| werden dem Bundestag und den Landesparlamenten so lange auf die Nerven | |
| gehen, bis man uns den uns zustehenden Platz in der Gesellschaft einräumt.“ | |
| 23 Jun 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Alltag-der-Jenischen/!5333111 | |
| [2] /Mahnmal-fuer-ermordete-Sinti-und-Roma/!5689497 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Stieber | |
| ## TAGS | |
| Minderheitenrechte | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Antiziganismus | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Umweltaktivist über Lehren aus Corona: „Die Regierung möchte uns töten“ | |
| Ailton Krenak ist prominenter indigener Umweltaktivist in Brasilien. Ein | |
| Gespräch über Corona, Kolonialismus und Europas blinde Flecken. | |
| Mahnmal für ermordete Sinti und Roma: Eine gesellschaftliche Baustelle | |
| Mehr als 500 Menschen demonstrierten in Berlin gegen Baupläne der Bahn, die | |
| das Mahnmal für Sinti und Roma einschränken könnten. | |
| Alltag der Jenischen: Die Unsichtbaren | |
| Jenische? Nie gehört? Eine reisende Minderheit, über die nicht viel bekannt | |
| ist, kämpft in Baden-Württemberg um ein eigenes Kulturzentrum. |