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# taz.de -- Rückkehr zum Tourismus in Italien: Warten auf Gäste
> Die Sonnenschirme stehen im Viermeterabstand, Fußball ist verboten,
> Strandtennis erlaubt: Italien bereitet sich auf die Sommersaison vor.
Bild: Normalerweise kann man sich am voll belegten Strand kaum einen Weg bahnen…
Giancarlo Farnetani beobachtet skeptisch die Wellen, die über den Sand
schwappen. Seit Tagen läuft er über den Strand, wo die Badeanlagen für die
Sommersaison aufgebaut werden. „Was soll ich im Büro?“, fragt er. „Das h…
ist wichtiger.“ Der große, weißhaarige Mann ist seit 25 Jahren
Bürgermeister des toskanischen Küstenorts Castiglione della Pescaia, wo
jährlich rund 400.000 Deutsche urlauben. An einem Juniwochenende wie diesem
könnte sich Farnetani normalerweise am voll belegten Strand kaum einen Weg
bahnen, heute geht das mühelos.
Die [1][Auswirkungen der Viruskrise auf seine Gemeinde] bereiten Farnetani
Sorgen, aber auch die Überschwemmungen der letzten Tage. „Die Leute hatten
gerade ihre Bars und Liegestühle aufgebaut, und jetzt können sie noch mal
von vorne anfangen.“ Der Strand der Badeanlage ist schon wieder aufgeräumt,
das angeschwemmte Strandgut säuberlich zu Häufchen zusammengerecht.
Alles ist vorbereitet für die ersten Badegäste aus Deutschland und dem Rest
Europas. Die Sonnenschirme stehen im vorgeschriebenen Abstand von vier
Metern. Die Liegen müssen reserviert und wie Duschen und Klos regelmäßig
desinfiziert werden. Fußball ist verboten, Strandtennis erlaubt. Wer sich
sonnt und badet, benötigt keine Maske. Sie muss nur griffbereit sein.
An diesem Tag genießen vor allem die Einheimischen ihren Strand und die neu
gewonnene Freiheit nach dem Lockdown. Ein Junge beißt in seine Pizza, seine
Mutter löst Kreuzworträtsel. Zwei Biker schälen sich aus ihren
Mikrofaserklamotten. Alles scheint fast normal, zumindest für die
Badegäste.
## Von Normalität zum finanzellen Ruin
[2][Doch für die Tourismusbranche ist in diesem Jahr gar nichts normal.]
Täglich demonstrieren in Mailand, Venedig, Rom und Neapel Betreiber*innen
und Angestellte von Reiseagenturen, Busunternehmen, Hotels. Sie fordern von
der Regierung ein effizientes Rettungspaket. Für Kultur und Tourismus
sollen insgesamt gerade mal 5 Milliarden Euro lockergemacht werden, das ist
weniger als der Hilfskredit an den Autokonzern Fiat-Chrysler, der seinen
Hauptsitz längst nach Amsterdam verlegt hat.
Dabei bezeichnete die Wirtschaftszeitung Ilsole24ore die Reisebranche noch
zu Beginn des Jahres als das „Erdöl Italiens“. Der Tourismus beschäftigte
im Jahr 2019 4,2 Millionen Menschen und erwirtschaftete 13,2 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: In Spanien sind es 14,6 und in
Deutschland 8,6 Prozent. Vor allem Städte wie Rom und Venedig, die in den
letzten Jahren zur Standardroute der Billigflieger und der
Kreuzfahrtschiffe gehörten, stehen jetzt vor einer Katastrophe.
## Roms Innenstadt bleibt leer
In der Via del Lavatore, die [3][im Stadtzentrum Roms] zum legendären
Trevibrunnen führt, muss man sich normalerweise mühsam an lärmenden
Touristenmassen vorbeidrücken. Jetzt ist es still, nur ein paar Bars und
chinesische Souvenirläden haben geöffnet. Während das Leben und die Lokale
in den Wohnvierteln der italienischen Hauptstadt wieder Fahrt aufnehmen,
gibt es in der Innenstadt so gut wie keine Gäste. „Wir werden vorerst nicht
öffnen“, sagt ein Restaurantbesitzer, der zwischen aufgestapelten Tischen
steht. „Vielleicht machen wir auch erst nächstes Jahr auf.“ 80 Prozent
seiner Gäste seien US-Amerikaner, erklärt er.
Wo wie in Castiglione della Pescaia eine frische Brise weht und die
Sandstrände lang und breit sind, sieht man das anders. „Hier haben alle
gemeinsam wieder aufgemacht. Und jetzt warten wir“, erklärt Bürgermeister
Farnetani. Es soll Hoffnung signalisieren für die Menschen, die hier
arbeiten und bereits Ostern und Pfingsten keine Einnahmen hatten. Fast alle
kommen aus dem Ort oder aus der Gegend, auch die Familie Pieraccini, die
das Bagno Castiglionese seit über 30 Jahren betreibt. Vor ihrer weiß
gestrichenen Bar hängt ein Schild mit dem Hinweis „plastic free“. Darauf
sind hier alle stolz.
Das Territorium von Castiglione della Pescaia – zu dem lange Strände, ein
Hafen, ein mittelalterlicher Stadtkern, die Landzunge Punta Ala und auch
die Etruskerstadt Vetulonia gehören – war die erste plastikfreie Gemeinde
in Italien. Auch das 156 Kilometer lange Radwegenetz ist Teil des
umweltfreundlichen Tourismuskonzepts des Ortes, das nun für andere
italienische Küstenstädte ein Modell werden soll. Bürgermeister Farnetani
koordiniert dieses Jahr die Initiative „G20 spiagge“, in der sich 20
Badeorte zusammengetan haben. Sie suchen Unterstützung für die Förderung
eines nachhaltigen Küstentourismus – nicht nur bei der Regierung in Rom,
sondern auch beim Europaparlament.
## Saubere Campingplätze für lokale Touristen
Die Maremma ist die südlichste Gegend der Toskana und der [4][respektvolle
Umgang mit der Natur] seit Langem ein Markenzeichen des lokalen Tourismus.
Es gibt mehr freie und dennoch gepflegte Strände als in anderen Regionen,
außerdem Gärten, Wein- und Sonnenblumenfelder, große Pinienhaine. Diese
stehen zum Teil unter Naturschutz, zum Teil dürfen sie [5][als
Campingplätze genutzt] werden.
Im Umland der Lagunenstadt Orbetello, die von Castiglione della Pescaia auf
der Schnellstraße in Richtung Rom erreicht wird, schlagen im Camping Africa
nicht nur ausländische Reisende auf. „Wir haben im Moment vor allem für
unsere Stammgäste geöffnet“, erklärt Alessio Albertazzi, ein junger
Manager, der Campingplätze, Hotels und Ferienwohnanlagen verwaltet, die
sich unter dem Namen Maremmavacanze zusammengeschlossen haben.
Er öffnet einen Waschraum, in dem die Laufwege penibel vorgezeichnet sind.
Nur jedes zweite Waschbecken darf benutzt werden. Viermal am Tag wird mit
Trockendampf desinfiziert. Die Gäste bekommen bei der Ankunft ein Blatt mit
Covid-19-Verhaltensvorschriften in die Hand gedrückt. „Ehrlich gesagt habe
ich mehr Angst vor der Bürokratie als vor dem Virus“, gesteht Albertazzi.
Aber das nur so am Rande, denn am Ende sind er und die anderen gut auf die
sehnlichst erwarteten Gäste vorbereitet. Und der dicke Mann, der gerade
fluchend sein Zelt aufrollt, erzeugt fast ein Gefühl von Normalität.
## Weit weg vom Normalbetrieb
Dies will sich in den Hotels noch nicht einstellen. Das I Presidi an der
Lagunenpromenade von Orbetello ist das größte Haus am Platz. Auch hier ist
alles penibel geregelt, der Service perfekt wie immer. Trotzdem wurden fast
alle Buchungen während des Lockdowns storniert, neue treffen nur zögerlich
ein. Hotelbesitzer Fabrizio Mari zahlt weiter Miete und Personal, Geld vom
Staat erhält er nicht. „Das haben wir der Lombardei zu verdanken, die erst
das Virus im Land verbreitet hat und jetzt Zuschüsse für ihre
Industrieunternehmen kassiert“, schimpft er. Zudem muss die Hotelbranche
den Run auf die Ferienhäuser verkraften, weil viele Reisende denken, dass
sie dort vor dem Virus sicherer seien und sich freier bewegen könnten. „Ich
glaube kaum, dass dort so oft und professionell desinfiziert wird wie bei
uns“, sagt Mari.
Mehr Bewegung gibt es dagegen in den Restaurants, denn auch viele
Einheimische sind froh, dass sie [6][mal wieder auswärts essen] können. Die
Maske darf man am Tisch ablegen, Kontaktdaten sind in italienischen Lokalen
nicht erforderlich. In der Trattoria Ovosodo an der Piazza Mario Cortesini
von Orbetello scheint der Kellner allerdings täglich schmaler zu werden,
weil er mit Maske bestimmt hundert Kilometer am Tag zurücklegt, ein ewiges
Gerenne zwischen drinnen und draußen, bis er die Tische desinfiziert,
eingedeckt, serviert und wieder abgeräumt hat.
## Gastronomen werden kreativ
Andere hingegen lassen sich neue Geschäftsideen einfallen – wie das
Fischrestaurant Oste Dispensa auf der Landzunge Giannella. Das Lokal hat
kurzerhand eine mobile Küche eingerichtet und bedient jetzt die Badegäste
direkt am Strand. Das Slow-Food-Restaurant beteiligt sich wie rund tausend
andere an dem Projekt Vetrina Toscana, mit dem die Region allen eine
Plattform zur Verfügung stellt, die lokale Küche und Spezialitäten
anbieten, auch Geschäften und Produzenten.
Einen ähnlichen Service gibt es auch für Hotels und alle anderen Strukturen
auf der regionalen Website Visit Tuscany, wo auch gebucht werden kann. „Es
ist ein alternatives Angebot zu den Online-Agenturen, die den Gewinn ihrer
Kunden beträchtlich schmälern“, sagt Stefano Ciuoffo, Tourismusbeauftragter
der Region Toskana.
Doch nicht nur die multinationalen Ketten sahnen ab, sondern zunehmend auch
[7][die Mafia]. Ein aktueller Bericht der italienischen Polizei warnt
davor, dass kriminelle Organisationen aus der gegenwärtigen Krise des
Tourismus Profit schlagen werden. Nur sie verfügen im Moment über
überschüssiges Kapital, um es in die Unternehmen verzweifelter Hoteliers,
Strandbarbetreiber und Restaurantbesitzer zu investieren. Diese
Infiltration kann nur die Politik mit sofortigen Kapitalspritzen und
pragmatischen Hilfsprogrammen verhindern und vielleicht auch ein
Bürgermeister, der die Strände und den Rest seines Territoriums fest im
Blick hat.
17 Jun 2020
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## AUTOREN
Michaela Namuth
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