| # taz.de -- Kinder im Straßenverkehr: Ach-du-Scheiße-Zeitlupen-Momente | |
| > Es sind Augenblicke, in denen sich die Zeit zu dehnen scheint. Etwa wenn | |
| > das Kind auf die Straße rollt, während man um sein Leben brüllt. | |
| Bild: Mit Kindern im Straßenverkehr kommt es öfter mal zu krassen Situationen | |
| Halt an! Halt an!!! HALT AN!!!! Ich bin zu weit weg. Ein Meter fehlt. Und | |
| ich hab meine kleine Tochter hinten auf dem Fahrradsitz. Ich kann nicht | |
| nach der Großen greifen. Ich kann sie nicht festhalten. Und so muss ich | |
| dabei zusehen, [1][wie sie auf ihrem kleinen Fahrrad auf die Straße rollt] | |
| und wie von links der Kombi angefahren kommt und wie sie gar nicht zu | |
| realisieren scheint, was da gerade passiert. | |
| Es ist einer dieser wenigen Momente im Leben, in denen die Zeit sich zu | |
| dehnen scheint[2][. Obwohl es nur Sekunden sind, erscheinen sie ewig lang] | |
| und ich erlebe sie übertrieben bewusst. Das letzte Mal hatte ich so einen | |
| Moment, kurz bevor ich den Wagen meiner Eltern gegen die Mauer unseres | |
| Vorgartens setzte. In der halben Sekunde vor dem Zusammenstoß hatte ich | |
| viel zu viele klare Gedanken. Der klarste war: „Ach du Scheiße, jetzt | |
| gleich fahr ich gegen die Mauer, das gibt Ärger, aber ich kann jetzt auch | |
| nichts mehr machen, also bremsen, zurücklehnen und genießen.“ | |
| Und jetzt tritt meine Tochter in die Pedale. Also brülle ich: „HALT AN!!!!“ | |
| Der Autofahrer macht eine Vollbremsung. Meine Tochter merkt wohl auch noch, | |
| dass was nicht stimmt. Und dann steht sie da. Ihr Vorderrad ein paar | |
| Zentimeter neben der Beifahrertür. Die Beifahrerin fährt das Fenster | |
| runter, fragt meine Tochter, ob alles okay sei. Ganz lieb. Keine | |
| Schuldzuweisung. Doch meine Tochter ist starr. „Alles gut“, sage ich. Und: | |
| „Tut mir leid.“ | |
| ## Die Wut auf der anderen Straßenseite | |
| Wir überqueren die Straße. Alles noch mal gut gegangen. Wie meistens im | |
| Leben. Mein Dilemma beginnt auf der anderen Straßenseite. Ich bin froh. Und | |
| wütend zugleich – auf meine Tochter und mich. Wertschätzend soll man ja | |
| immer erst mal sein. Habe ich gelesen. Doch was soll ich Wertschätzendes | |
| sagen? „Richtig toll, wie du es geschafft hast, nicht überfahren worden zu | |
| sein, aber …“ | |
| Ich will ihr deutlich machen, wie schön es ist, dass es ihr gut geht, | |
| liebevoll sein, trösten. Und ich will meiner Tochter klarmachen, dass sie | |
| aufpassen muss. Und ich darf den Ärger über mich selbst, dass ich sie nicht | |
| genug beschützt habe, nicht an ihr auslassen. Und ich darf das alles auf | |
| keinen Fall miteinander vermengen. | |
| Ach, und eine Sache noch: Ich will das Ganze noch vor der Kita besprechen, | |
| denn ich glaube, dass eine unmittelbare Reaktion für Kinder | |
| nachvollziehbarer ist. | |
| Ich hab’s nicht geschafft. Glaube ich. Meine Wut überwog. Die Chance, es | |
| besser zu machen, kommt hoffentlich und leider bald. Hoffentlich, weil es | |
| bedeutet, dass dann wieder einmal alles gut gegangen sein wird. Und leider, | |
| weil ich auf diese Ach-du-Scheiße-Zeitlupen-Momente gut verzichten könnte. | |
| 9 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jürn Kruse | |
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