| # taz.de -- Geschichte des Schwimmsports: Wie das Wasser weiß wurde | |
| > Sklaverei und Kolonialismus haben die afrikanische Schwimmtradition | |
| > zertört. Der moderne Sport hat schwarze Schwimmer*innen weiter | |
| > ausgegrenzt. | |
| Bild: Aufgetaucht: Simone Manuel holt 2016 als erste schwarze US-Schwimmerin Ei… | |
| Der Schwimmtrainer James Counsilman trug den Spitznamen „Doc“, weil er so | |
| wissenschaftlich arbeitete. Bis heute stehen seine Bücher in den Regalen | |
| von Trainern in aller Welt. Richtig berühmt wurde der 2004 verstorbene | |
| US-Amerikaner als Betreuer von Mark Spitz, siebenfacher | |
| Goldmedaillengewinner der Olympischen Spiele 1972. Damals war im Team USA | |
| kein einziger schwarzer Schwimmer und keine schwarze Schwimmerin vertreten. | |
| Der „Doc“ machte sich Gedanken, woran es liegt. „Mehr weiße Muskelfasern… | |
| hätten Schwarze, das war eine Theorie, die Counsilman gelesen hatte. Aber | |
| er referierte auch Soziologen, die dem widersprachen. Counsilman selbst | |
| blieb unentschieden: Einerseits sei mit Training zwar jede schwimmerische | |
| Verbesserung denkbar, befand er, aber andererseits könne man doch mit | |
| solchen Überlegungen „die Unterschiede der grundsätzlichen Möglichkeiten | |
| zwischen einzelnen Menschen und vielleicht sogar zwischen Rassen“ erklären. | |
| „Doc“ Counsilman war kein übler Rassist, er formulierte vielmehr das, was | |
| in seiner Zeit verbreitetes Denken war. Theorien über eine „andere | |
| Knochendichte“, „fehlende Wassertragfähigkeit“ oder über „extra | |
| Muskelschichten“ bei Schwarzen galten damals als neutrale | |
| Naturwissenschaft. Doch dieser rassistische Diskurs über Schwarze, die | |
| angeblich nicht schwimmen können, nahm nicht einmal zur Kenntnis, dass es | |
| schon damals schwarze Weltklasseschwimmer gab. | |
| Zu den besten gehörte Enith Brigitha, die 1972 für die Niederlande im | |
| Finale über 100 Meter Freistil schwamm. Geboren war Brigitha in Curaçao in | |
| der Karibik, bis heute eine Kolonie namens Niederländische Antillen. Vier | |
| Jahre später, bei den Olympischen Spielen in Montreal, gewann Brigitha über | |
| 100 und 200 Meter Freistil Bronze. Nicht wenige, sie selbst gehört dazu, | |
| sind der Meinung, dass ihr zumindest über 100 Meter nachträglich Gold | |
| zusteht: Schließlich galten die Erst- und Zweitplatzierte, [1][Kornelia | |
| Ender und Petra Priemer aus der DDR, als gedopt]. | |
| Schwarze Weltklasseschwimmer wurden aber schlicht nicht wahrgenommen und | |
| Talente so gut wie nie gefördert. Um so größer war die Überraschung, als | |
| 1988 mit Anthony Nesty aus Surinam der erste Olympiasieger anschlug: Gold | |
| über 100 Meter Schmetterling in Seoul. Die [2][International Swimming Hall | |
| of Fame] (ISHF) im kalifornischen Fort Lauderdale (USA) bemüht sich seit | |
| Jahren, die vergessene, verdrängte und bewusst verleugnete Geschichte | |
| schwarzer Schwimmer und Schwimmerinnen aufzuarbeiten, nicht nur in den USA. | |
| Heraus kam, dass diese länger, vielleicht sogar besser, in jedem Fall aber | |
| beeindruckender ist als die Geschichte weißer Schwimmer. | |
| Die Geschichte beginnt in Afrika. Im Jahr 1445 wunderten sich | |
| portugiesische Seeleute, die an der Küste des Senegal angekommen waren, die | |
| lokalen Fischer würden „wie Kormorane“, wie Vögel schwimmen. Der Historik… | |
| Kevin Dawson, der zur Wasser- und Schwimmkultur in Afrika geforscht hat, | |
| schreibt: „Die meisten Weißen konnten nicht schwimmen.“ In der Tat gab es | |
| zwar in der griechischen und römischen Antike eine entwickelte Schwimm- und | |
| Badekultur, aber im Mittelalter verschwand, vor allem unter dem Druck der | |
| Kirche, die Fähigkeit zu schwimmen in Europa fast völlig. | |
| Um so mehr staunten die Europäer, die in Afrika anlegten, dass sich | |
| Menschen wie selbstverständlich im Wasser bewegen konnten. Im Jahr 1455 | |
| etwa kam der venezianische Händler Alvise da Cadamosto im Senegal an. Dass | |
| die Menschen, Männer wie Frauen, dort schwimmen konnten, faszinierte ihn so | |
| sehr, dass er einmal fragte, ob jemand einen Brief zu einem drei | |
| Schiffsmeilen entfernten Ziel transportieren könne. Trocken durch einen | |
| Fluss, das fand er selbst, sei eine „unmögliche Aktion“. Doch zwei | |
| Freiwillige meldeten sich, der Brief kam trocken an. „Die besten Schwimmer | |
| der Welt“ seien die Afrikaner, befand der beeindruckte Cadamosto. | |
| Nach der Versklavung tauchten Schwarze für ihre Herren nach Perlen und | |
| gingen fischen. Und wenn deren Schiffe sanken, waren es oft die Afrikaner, | |
| die die Weißen retteten. Auch nicht selten gelang es Afrikanern, von | |
| Sklavenschiffen über die Reling zu springen, ans Ufer zu kraulen und so der | |
| Sklaverei zu entkommen. Kein Weißer hätte ihnen je folgen können. Ähnliches | |
| wird noch aus den amerikanischen Bürgerkriegszeiten berichtet. | |
| Berühmt wurde etwa Tice Davids, ein Sklave aus Kentucky. Er sprang 1831 in | |
| den Ohio River und kraulte um sein Leben, während der Sklavenhalter ein | |
| Boot suchte, um ihn zu verfolgen. Der sah Davids nicht mehr und erzählte | |
| überall herum, der sei wohl ertrunken. Da war Davids längst in Ripley, | |
| Ohio. Später erlangte er seine Freiheit. | |
| ## Vertreibung von den Stränden | |
| Bei allem weißen Überlegenheitswahn: Dass Schwarze in puncto | |
| Wasserbeherrschung Weißen etwas voraushatten, war unübersehbar. „Als die | |
| Weißen das Schwimmen für sich entdeckten, hat man die Schwarzen von den | |
| sicheren Stränden und aus den Schwimmbädern vollständig verbannt“, hat | |
| Bruce Wigo von der ISHF der Buchautorin Lynn Sherr erzählt. Ausschluss von | |
| Stränden, Verbot in Schwimmbädern, schlechte bis gar keine Schulangebote | |
| (und dann ohne Schwimmunterricht) und rein weiße Sportclubs, kaum | |
| Schwimmbäder in von Schwarzen bewohnten Gegenden. Die Liste an | |
| Ausschlussmöglichkeiten ist lang. | |
| Möglich wurden sie durch die Entstehung des modernen Sports, wie wir ihn | |
| heute kennen und wie er erst mit der industriellen Revolution aufkam: | |
| Körperliche Leistungen wurden plötzlich messbar in Metern und Zeiten | |
| gemacht, so wurden sie auf der ganzen Welt vergleichbar. Fortbewegung wurde | |
| normiert: So entstanden letztlich vier Schwimmarten. Rekorde wurden | |
| registriert, die Auskunft geben, wer der schnellste Schwimmer der Welt ist. | |
| Dieser moderne Sport war anfänglich eine rein weiße Veranstaltung. Und | |
| nicht nur das, er war auch rein männlich, christlich, heterosexuell, nur | |
| für vermögende Europäer und Nordamerikaner. | |
| Kurz gesagt: Schwimmen wurde Sport, und Sport war weiß. | |
| Zudem zeigt Schwimmen auch, wie verschiedene Unterdrückungsformen | |
| zusammenhängen: Solange es Geschlechtertrennung in Schwimmbädern gab, also | |
| reine Männer- und reine Frauenbecken, badeten in Großstädten Schwarze und | |
| Weiße zusammen. Das ergab sich schon aus der Bedeutung von Schwimmbädern | |
| für viele Working-Class-Familien, Stichworte: Hygiene und Volksgesundheit. | |
| Der Historiker Jeff Wiltse von der University of Montana hat das | |
| untersucht. „Wenn Städte Männern und Frauen erlaubten, zusammen zu | |
| schwimmen“, wenn also die Geschlechtersegregation aufgehoben wurde, sagte | |
| Wiltse in einem Interview, „dann trennten Beamte Pools nach Rassengrenzen, | |
| vor allem, weil sie nicht wollten, dass schwarze Männer weißen Frauen in | |
| solch intimen Räumen schwimmend näherkommen.“ | |
| ## Schwimmen als weiße Aktivität | |
| Schwarze waren aus dem neuen System Sport, das doch angeblich für alle da | |
| war, ausgeschlossen. Der Historiker Kevin Dawson vergleicht das mit dem | |
| Banjo, dem aus Afrika stammenden Zupfinstrument. „So wurde auch das | |
| Schwimmen aufgegeben, und im Nachhinein gilt es als ‚weiße‘ Aktivität.“ | |
| Schwarze indes mussten um ihre Teilhabe kämpfen, für ihr Recht zu | |
| schwimmen. Wenn man es mit Leichtathletik oder Boxen vergleicht, stellten | |
| sich Erfolge erst spät ein, abgeschlossen ist der Kampf immer noch nicht. | |
| Bruce Wigo vermutet, dass dies daran liegt, dass Schwimmen kulturell | |
| weißgewaschen wurde. „Wenn man ein schwarzes Kind für eine Schwimmgruppe | |
| gewinnen will, was denken da seine schwarzen Freunde? Dass es sich ‚wie ein | |
| Weißer benimmt‘.“ Das erste Mal, dass ein schwarzer Schwimmer das Finale | |
| einer US-Meisterschaft erreichte, war 1962: Nate Clark aus Ohio wurde | |
| Fünfter über 200 Yard Schmetterling. Bei den Frauen dauerte es sogar bis | |
| 1988, als endlich Sybil Smith von der Boston University über 100 Yard | |
| Rücken Sechste wurde. | |
| Und Afrika? Der moderne Sport mit seinen strikten Regeln und Rekorden war | |
| nicht mehr für Seen und Flüsse vorgesehen. Schwimmbäder, drinnen oder | |
| draußen, 25 oder 50 Meter lang, galten als Voraussetzung für „richtiges“ | |
| Schwimmen. Diese kulturelle Hegemonie des Sports verdrängte die große | |
| afrikanische Wasserkultur. Schwimmsport fand zwar auch hier weiterhin | |
| statt, aber beispielsweise im Apartheid-Südafrika nur in Sportclubs für | |
| Weiße, dort aber mit unglaublichen Erfolgen. | |
| Der zweite Mensch, der die 100 Meter Kraul unter 50 Sekunden schwamm, war | |
| 1976 mit 49,44 Sekunden der Südafrikaner Jonty Skinner – ein Weißer. Der | |
| brach den gerade mal 20 Tage alten sensationellen Weltrekord, den Jim | |
| Montgomery (USA) bei den Olympischen Spielen in Montreal aufgestellt hatte. | |
| Weil Südafrika vom Weltsport ausgeschlossen war, hatte Skinner nicht bei | |
| Olympia antreten dürfen, und wegen des Sportbanns wurde Skinners Weltrekord | |
| offiziell nicht gewertet. | |
| Südafrika blieb auch nach dem Ende der Apartheid eine Schwimmnation – eine, | |
| die immer noch weiß ist. „Bis heute hat noch kein schwarzer Schwimmer | |
| Südafrika bei den Olympischen Spielen repräsentiert“, schreibt die | |
| Bloggerin [3][Cheryl Roberts]. Auch zum Kader, der diesen Sommer nach Tokio | |
| gereist wäre – und [4][nach der Verschiebung] 2021 antritt – gehörten nur | |
| zwei schwarze Brustspezialisten. Schwarze Schwimmerinnen haben in dem Land, | |
| aus dem die frühere Weltklassekraulerin Charlene Wittstock, heutige Fürstin | |
| Charlène von Monaco, stammt, bis heute kaum Chancen. | |
| Aber immerhin haben Schwimmer und Schwimmerinnen wie Enith Brigitha und | |
| Anthony Nesty den rassistischen Müll über „Extramuskeln“, „mangelnde | |
| Wassertragfähigkeit“ und „besondere Knochen“, wie sagt man, versenkt. | |
| 25 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Krauss | |
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