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# taz.de -- Zu viele Corona-Tagebücher: Fade wie Furzen
> Die aktuelle Tagebuchflut ist nichtssagend. Dabei gäbe es so viel
> interessanteren Stoff. Die ihn erleben, haben aber keine Zeit zum
> Schreiben.
Bild: Meine gesammelten Abenteuer
Als ich zehn war, bekam ich mein erstes Tagebuch. Ein blaues Exemplar mit
einer Diddl-Maus vorne drauf. Mein Onkel verarschte mich und riet mir,
unbedingt so detailliert wie möglich zu schreiben. Schließlich wüsste man
nie, ob man nicht als Bekanntheit stirbt und die Tagebücher veröffentlich
würden.
Schon damals durchschaute ich das System Kinderselbstbetreuung, doch ich
befolgte seinen Rat. Nach meinem Besuch im Phantasialand hieß es etwa: „Am
Eingang (10:30) haben wir die Karten (Kinder 19,50€) gekauft und sind
reingegangen. Ich war 4-5 Mal in der Geisterbahn, (…) auf dem
Doppelkarussell 4x, 3x Galaxi, 2x Auto Shooter“ und so ging es noch eine
ganze Seite weiter.
Etwa so unspektakulär wie die Ergüsse aus der neuen Textgattung
Corona-Tagebuch, dem letzten Unbehagen, das in Pandemie-Zeiten gefehlt hat.
Eigentlich sind Tagebücher alles andere als irrelevant. Anne Frank, Kurt
Cobain, Alice Walker und Frida Kahlo haben etwas gemeinsam: Ihre Tagebücher
bilden ein Archiv von Erfahrungen und Beobachtungen, die entweder
systematisch ausgelöscht oder gesellschaftlich stigmatisiert wurden und es
teilweise noch werden.
Corona-Tagebücher sind größtenteils jedoch fade Protokolle aus der
weißdeutschen Bürgerlichkeit, mit oder ohne Einblicke ins
Hetero-Kleinfamilienleben. Manche schreiben nieder, dass sie wieder kein
Klopapier beim Einkaufen bekommen haben, andere sind irgendwo „gestrandet“,
weil sie trotz der ersten globalen Lockdowns noch ihren Flug nach
Marrakesch oder einen anderen Urlaubsort wahrnehmen wollten. Oder sie
mussten über zwei Tage lang online Schlange „stehen“, um 5.000 Euro auf
Merkels Nacken zu beantragen.
## Keine Blockbuster
Diese Erfahrungen sind weder unsichtbar noch selten. Es ist wie beim
Furzen. So ziemlich jeder Mensch kennt es. Aber schreiben alle darüber? Zum
Glück nicht. Es benötigt ein gewisses Maß an Entitlement, an
Anspruchshaltung, um davon auszugehen, dass der eigene gewöhnliche Film,
der leise im Kopf geschoben wird, eigentlich ein Blockbuster ist, der zur
Primetime ausgestrahlt werden sollte. Wen juckt es, was Leonie oder Clemens
in ihre Tagebücher schreiben, wenn sie original dasselbe erleben wie 70
Prozent der Gesellschaft?
Viel interessanter wären die Corona-Tagebücher von Menschen, die gerade
keine Zeit dafür haben, ihre Erfahrungen aufzuschreiben, weil ihre Berufe
das System aufrechterhalten. [1][Krankenhauspersonal],
[2][Lieferbot_innen], [3][Supermarktangestellte] und die Sicherheitskräfte,
die neuerdings den Drogerie- oder Baumarkt ins Berghain der Zeiten von
Physical Distancing verwandeln.
Sie haben es nicht nur mit dem Querschnitt der Gesellschaft zu tun, sondern
sind gezwungenermaßen beschäftigt mit dem Sammeln von Eindrücken, dass sie
nicht dazu kommen, nach vier Tagen Langeweile in der Eigenheim-Residenz
eine_n auf Max Frisch zu machen. Herkömmliche Tagebücher sind nicht ohne
Grund mit einem Schloss versehen.
14 Apr 2020
## LINKS
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[2] /Essenslieferdienste-in-der-Corona-Krise/!5671129
[3] /Beschaeftigte-im-Supermarkt-und-Corona/!5675167
## AUTOREN
Hengameh Yaghoobifarah
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