| # taz.de -- „Corona in der Welt“ – Moldawien: Dann kam sie, die Seuche | |
| > Die Pandemie hat auch das 5.000-Seelen-Dorf Cișmichioi erreicht. Die | |
| > Menschen sind nervös. Sie haben viele Fragen, bekommen aber nur wenige | |
| > Antworten. | |
| Bild: „Quarantäne“ in der Dorfbibliothek. Hier werden keine Besucher bedie… | |
| Cișmichioi taz | In den vergangenen 200 Jahren haben wir und unsere | |
| Vorfahren hier im Dorf Cișmichioi im Budschak, einem Teil von Bessarabien, | |
| schon viel erlebt: Revolutionen, Kriege, Hunger, Repressionen und | |
| Epidemien. Heute sind wir Bewohner von Cișmichioi genauso wie alle anderen | |
| Bürger der Moldau mit einem neuen großen Problem konfrontiert: dem | |
| Coronavirus, das gnadenlos Menschenleben von der Erde fegt. | |
| „Das Dorf der Quellen“, so ungefähr lässt sich der Name von Cișmichioi, | |
| einem der südlichsten Dörfer des autonomen Gebietes Gagausien, [1][das zur | |
| Republik Moldau gehört], übersetzen. | |
| Aus Archivunterlagen geht hervor, dass die Vorfahren der Bewohner von | |
| Cișmichioi im russisch-türkischen Krieg von 1806–1812 vom heutigen Terwel | |
| in Nordostbulgarien in die Steppen des Budschak gekommen waren. Die ersten | |
| 18 Familien, es waren 103 Personen, sind 1809 hierhergekommen und haben | |
| sich direkt an einer Quelle niedergelassen. So sind wir auf den Namen | |
| unseres Dorfes gekommen, „Çeşmäküüyü“. | |
| Seit über drei Wochen hören wir jetzt täglich von Dutzenden Neuinfizierten | |
| in Moldau. Bis vor Kurzem war nicht eine einzige Person in Gagausien | |
| infiziert. Natürlich war uns klar, dass wir bisher einfach nur Glück gehabt | |
| haben. Wir wussten, dass die Pandemie kommen wird, sich langsam, aber | |
| unaufhaltsam wie ein Schimmel ausbreiten wird. Schon dieses Warten ließ die | |
| Menschen erschaudern. Aus Angst ging niemand mehr auf die Straße, alle | |
| grüßten sich nur aus großer Entfernung und waren auch dabei wortkarg. Die | |
| Zeit schien stillzustehen. | |
| Und dann ist sie gekommen, [2][die Seuche]. Ausgerechnet in meinem | |
| heimatlichen Cișmichioi wurde die erste Coronainfektion Gagausiens | |
| festgestellt. Wir hatten ja damit gerechnet. Trotzdem traf uns die | |
| Nachricht wie ein Blitz. | |
| Erfahren haben wir das am 1. April, dem Tag des Humors. Und das war sofort | |
| das wichtigste Nachrichtenthema. Die Telefone liefen heiß, jeder wollte | |
| wissen, wer diese infizierte Person sei, die ja nun eine Bedrohung für die | |
| vielen anderen, die sich mit ihr getroffen hatten, darstellte. | |
| Schnell wurde bekannt, um wen es sich handelte. In einem Dorf mit gerade | |
| einmal 5.000 Menschen, die sich alle mehr oder weniger gut kennen, ist das | |
| auch kein Problem. Und die, die mit diesem Menschen Kontakt hatten, haben | |
| dies sofort der örtlichen Ambulanz mitgeteilt. | |
| Ab sofort gab es für uns nur noch ein „vor“ und ein „nach“ dem 1. Apri… | |
| schien, als sei die Quelle des Dorfes versiegt. Natürlich hatten wir alle | |
| die schrecklichen Fernsehbilder aus China oder Italien im Kopf. Aber | |
| emotional waren uns diese Bilder so fern wie Szenen aus einem Horrorfilm. | |
| Und auch dann, als in der Republik Moldau schon die ersten Fälle | |
| registriert worden waren, nahmen die meisten Bürger diese Nachrichten immer | |
| noch so wahr, als beträfe das nicht uns. | |
| In der Folge waren dann die einen ganz gesetzestreue Bürger, leisteten, wie | |
| auch ich und meine Familie, den Empfehlungen unseres Präsidenten und | |
| Premierministers Folge und sperrten uns in unseren eigenen vier Wänden ein. | |
| Andere wiederum machten so weiter wie bisher und brachten damit sich und | |
| andere in Gefahr. Das ließ Emotionen hochkochen. Einige warfen dem | |
| Infizierten Verantwortungslosigkeit vor, weil er andere gefährdet habe. | |
| Andere wiederum nahmen ihn mit dem Argument in Schutz, der Betreffende habe | |
| ja gar nicht gewusst, dass er infiziert war. | |
| Doch was uns am meisten beunruhigt ist der Umstand, dass ein Drittel der | |
| Infizierten [3][in Moldau] Personen aus dem Gesundheitswesen sind. Was ist, | |
| wenn diese Zahl weiter ansteigt? Wer wird uns dann noch behandeln können? | |
| Und es stellt sich auch die Frage, ob der Staat auf eine Pandemie gut genug | |
| vorbereitet war. Wir haben viele Fragen, bekommen aber nur wenige | |
| Antworten. | |
| Doch wie es so schön heißt: Alles Schlechte bringt auch irgendetwas Gutes. | |
| Der Coronavirus hat geschafft, was bisher keiner Regierung gelungen ist: Er | |
| hat die meisten unserer Landsleute, die im Ausland arbeiten, wieder in die | |
| Heimat gebracht. Der Virus hat uns die Möglichkeit gegeben, wieder Zeit mit | |
| der Familie zu verbringen. Auch können wir unsere Zukunftspläne überdenken. | |
| Und während sich die Menschheit in Isolation befindet, versucht die Natur, | |
| sich neu zu beleben und von der jahrhundertelangen schädlichen Tätigkeit | |
| des Menschen zu erholen. Nein, der Quell des Lebens versiegt nicht. | |
| Aus dem Russischen Bernhard Clasen | |
| 18 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alla Bjuk | |
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