# taz.de -- Sozialabbau in Deutschland: Besser, als wir denken | |
> Der Sozialstaat? Kaputtgespart. Das Gesundheitssystem? Ausgedünnt. Kritik | |
> ist allgegenwärtig – aber auch falsch. | |
Bild: Eine Krankenschwester mit Abstrichstäbchen in der Corona-Ambulanz Zwickau | |
Es ist wohl unvermeidlich: Nachdem am Beginn der Corona-Pandemie | |
pragmatisches Handeln zur Einschränkung der Ansteckungsrate im Vordergrund | |
stand, kommen nun die Schuldzuweisungen. Da werden Geister beschworen, die | |
man schon immer für die Übel in der Welt verantwortlich machte, „die | |
Chinesen“, der Kapitalismus oder die Globalisierung. | |
Für die Co-Vorsitzende der Fraktion der Linken im Bundestag, Amira Mohamed | |
Ali, ist es der Sozialabbau. Sie sagte in einem [1][Interview mit der taz]: | |
„Es ist schon krass, wie die Probleme, auf die wir immer hingewiesen haben, | |
jetzt wie unter einem Brennglas vergrößert werden. … Jetzt werden die | |
Verwerfungen in diesem schlecht ausgestatteten Sozialstaat und dem | |
kaputtgesparten Gesundheitswesen noch deutlicher sichtbar.“ Im selben | |
Interview spricht sie sogar von einem totgesparten Gesundheitswesen. | |
Die große Erzählung, eine neoliberale Elite habe den sozialstaatlichen | |
Konsens mutwillig gekündigt und den [2][Abbau des Sozialstaats] betrieben, | |
ist weit verbreitet. Dies scheint so evident zu sein, dass es keines | |
Beleges bedarf. In der jetzigen Pandemie geht es vorrangig um den | |
Gesundheits- und Pflegebereich. Sozialabbau? Die Gesundheitsausgaben in | |
Deutschland belaufen sich derzeit auf etwa 400 Milliarden Euro pro Jahr, | |
also gut eine Milliarde Euro pro Tag. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt | |
liegt heute bei 11,5 Prozent – zwei Prozentpunkte mehr als 1992. | |
Bezogen auf die aktuelle Wirtschaftsleistung ist das immerhin ein | |
Mehraufwand von 70 Milliarden Euro. Was den Zugang zum Gesundheitswesen | |
angeht, gilt Deutschland aufgrund des Rechts und der Pflicht zur | |
Krankenversicherung als vorbildlich, 99,9 Prozent der legal dauerhaft in | |
Deutschland lebenden Personen sind abgesichert. | |
Im Pflegebereich ist die Sozialabbauthese empiriefreie Empörung. In den | |
vermeintlich neoliberalen Regierungsjahren von Helmut Kohl wurde die | |
Pflegeversicherung als weitere Säule des umlagefinanzierten | |
Sicherungssystems aufgebaut. Der Beitragssatz wurde von 1,7 Prozent im Jahr | |
1996 auf heute 3,05 Prozent(mit Beitragszuschlag für Kinderlose 3,4 | |
Prozent) nicht ganz verdoppelt. Die letzte Anhebung um einen halben | |
Prozentpunkt – immerhin ein Mehrvolumen von circa 8 Milliarden Euro – hat | |
auf die Debatte zur Pflege keine Auswirkungen gehabt. | |
Das ist symptomatisch für die Sozialdebatte in Deutschland. Selbst | |
substanzielle Verbesserungen werden kommentarlos abgehakt, wenn sie | |
erreicht wurden. Die Mehraufwendungen sind durchaus notwendig. Die Zahl der | |
Pflegebedürftigen nahm zu, weil der Pflegebedürftigkeitsbegriff erweitert | |
wurde, um den Belangen demenziell erkrankter Personen gerecht zu werden. | |
## Erheblicher Personalanstieg | |
5,6 Millionen Menschen arbeiten heute im Gesundheits- und Pflegebereich, im | |
Jahr 2000 waren es erst 4,0 Millionen Menschen. Ein Teil dieses Anstiegs | |
sind Teilzeitkräfte. Aber auch in Vollzeitäquivalenten gemessen gibt es | |
seit 2000 einen erheblichen Anstieg, von 3,3 auf 4,0 Millionen. Nun ist es | |
jedem unbenommen, dies für ungenügend wenig zu halten. Aber Frau Ali sagte | |
nicht, in der jetzigen Krise zeige sich schmerzhaft, dass der Sozialstaat | |
weniger stark ausgebaut wurde, als sie sich dies gewünscht hätte. | |
Trotz der Leistungen des Sozialstaats muss man nicht in Ehrfurcht | |
erstarren, man darf darüber streiten, wie er weiter verbessert werden kann. | |
Es gibt weiterhin große, ungenutzte Potenziale, den an sich gut ausgebauten | |
Sozialstaat stärker, als dies heute gelingt, auf die Vermeidung sozialer | |
Notlagen auszurichten. Gesundheitswesen und Pflege bleiben | |
Reformbaustellen. Natürlich hat Frau Ali recht, wenn sie Tarifbindung für | |
alle Pflegekräfte fordert. Aber auch hier herrscht nicht überall nur Elend. | |
Die Erfolge der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bei den Verhandlungen für | |
den öffentlichen Dienst hatten auch Signalwirkung für Träger im | |
Sozialbereich, so sie denn tariflich vergüten. Die Fachkräfte i[3][n der | |
Altenhilfe] können bei der Vergütung nicht mit Top-Stundenlöhnen in der | |
Industrie mithalten. Aber wie die Tarifarchive von Wohlfahrt intern und der | |
Hans-Böckler-Stiftung zeigen: Die sozialen Dienstleister mit den besten | |
Tarifen zahlen Altenpflegern mit Berufserfahrung ähnlich viel oder nicht | |
wesentlich weniger als die Industrie ihren Fachkräften, etwa Chemikanten, | |
Anlagemechanikern oder Betriebselektronikern. Es gibt aber auch | |
tarifgebundene Pflegeeinrichtungen, die schlecht bezahlen, man kann es | |
nicht anders sagen. Und es gibt weiterhin tarifungebundene Anbieter. | |
## Pflegeversicherung als Vollkasko-System | |
Die weitere Verbesserung der Pflegequalität und die Sicherung guter | |
Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte sind notwendig, um die Attraktivität | |
des Pflegeberufs zu steigern, von Gründen der Fairness mal ganz abgesehen. | |
Das ist besonders dringlich in jenen Heimen, in denen sich Pflegekräfte | |
abhetzen müssen und wenig verdienen. Verbindliche | |
Personalbemessungsschlüssel müssen überall durchgesetzt werden, sonst ist | |
der Überlastung vieler Pflegekräfte nicht beizukommen; auch da kostet jede | |
substanzielle Verbesserung viel Geld. Daher sollte man vorsichtig sein mit | |
teuren Wünschen an anderer Stelle. Beliebt ist zurzeit die Forderung, die | |
Pflegeversicherung zu einer Vollkasko-System weiterzuentwickeln. Es würde | |
vorrangig aber diejenigen entlasten, die jetzt durch eine | |
Zusatzversicherung privat vorsorgen oder, wenn die Pflegebedürftigkeit | |
eintritt, ihr Vermögen einsetzen. Bei den Vermögenden wirkte dies als | |
Erbenschutzprogramm. | |
Wir brauchen ohne Zweifel eine Debatte, was wir aus der jetzigen Situation | |
lernen müssen. Es kann keine Vorsorge geben, die uns auch dann noch | |
entspannt sein lässt, wenn sich ein Virus pandemisch ausbreitet, aber wir | |
sind offensichtlich auf eine Pandemie dieses Ausmaßes nicht vorbereitet. | |
Nur werden wir deshalb nicht in einem völlig anderen Sozialstaat landen. | |
Einsatzpläne für eine Pandemie, den Abbau der Abhängigkeit von Lieferketten | |
bei medizinischen Gütern, die in einer Krise zusammenbrechen können, mehr | |
Koordination internationaler Forschung für Testverfahren und Impfstoffe, | |
vieles ist zu diskutieren. | |
Aber man sollte in dieser Krise nicht den Sozialstaat diskreditieren. Das | |
erzeugt Angst, weckt Erwartungen, die nach der Pandemie keine politische | |
Kraft erfüllen kann, und arbeitet den populistischen Kräften in die Hände, | |
die ohnehin mit der Verleumdung mobilisieren, die Politik würde sich um die | |
Belange der Bevölkerung nicht kümmern. | |
6 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Georg Cremer | |
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