# taz.de -- Pflege und Arbeit in Zeiten von Corona: Meine Mutter erhält das Sy… | |
> Die Arbeit meiner Mutter ist anstrengend und schlecht entlohnt. Klatschen | |
> hilft ihr wenig, fairer Lohn und Pension dagegen schon. | |
Bild: Hände wundgeklatscht? Das ist nett, aber reicht nicht aus | |
„Stehe unten vor deiner Tür.“ Ich blicke aus dem Fenster und da steht sie. | |
Sie ist mit dem Auto extra zu mir gefahren, um mir Essen zu bringen. | |
[1][Dabei bin ich weder krank noch in Quarantäne]. Ich bin 29 Jahre alt – | |
aber eben trotzdem ihr Kind. Und so hat sie sich nach einer weiteren Woche | |
arbeiten, mit dem ständigen Risiko, angesteckt zu werden, in die Küche | |
gestellt und mir Essen für mindestens vier Tage zubereitet. | |
Bei der Übergabe berühren wir uns nicht. Sie stellt die Tasche mit der | |
gefüllten Tupperware auf den Boden, ich hebe sie auf. Wir halten zwei Meter | |
Abstand. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich meine Mama nicht umarmen | |
kann, ihr kein Bussi geben kann. Sie liegt nur ein paar Jahre unter der | |
Risikogruppe und hat in ihrem Beruf viel Kundenkontakt, und auch ich war | |
die letzten Wochen jobbedingt nicht durchgehend in Selbstisolation – wir | |
könnten beide den Virus in uns tragen, also belassen wir es bei einem „Hab | |
dich lieb und pass bitte auf dich auf“. | |
Ich gehe wieder in meine Wohnung, wasche meine Hände für 20 Sekunden und | |
setze mich an den Esstisch. Mamas Essen spendet Trost, sie hat sogar | |
Butter, Öl und Vitaminkapseln eingepackt – nur für alle Fälle. | |
Meine Mutter erhält in diesen Tagen nicht nur mich, sondern auch das | |
System. Die sogenannten Systemerhalterinnen im Handel, in den | |
Gesundheitsberufen, Apotheken und Trafiken [2][sind überproportional oft | |
weiblich]. Oft Frauen mit Migrationshintergrund, wie meine Mutter. Oft in | |
Jobs, die kein hohes Ansehen genießen, nicht gut bezahlt sind und gern mal | |
von Kunden zum Aggressionsabbau missbraucht werden. | |
## Neue Wertung von Berufsgruppen | |
In der Coronakrise aber ist alles anders. [3][Die Leute klatschen Punkt 18 | |
Uhr aus ihren Fenstern], um sich bei Menschen wie meiner Mutter zu | |
bedanken. Für diese Wertschätzung hat es echt einen Virus gebraucht, der | |
die ganze Welt lahm legt. Keiner drängt mehr, keiner quengelt – alle | |
bleiben ruhig, egal wie lange meine Mutter bei der Arbeit braucht. | |
Über 20 Jahre übt sie diesen Beruf schon aus, ich kenne unzählige | |
Anekdoten, die anders klingen. Sie kommt immer müde nach Hause, Kunden, die | |
sich beschweren, rassistische Bemerkungen, neue Computerprogramme, die sie | |
überfordern. In letzter Zeit plagt sie die Sorge, ihren Job zu verlieren, | |
weil sie nicht mehr die Jüngste ist und die Technik immer komplizierter | |
wird. | |
Auch wenn sie ihren Job nicht verliert, wird ihre Pension klein ausfallen, | |
auch diese Gedanken begleiten sie seit Jahren. Sie setzt gerade ihre | |
Gesundheit aufs Spiel für ein Land, in dem sie Jahrzehnte über | |
diskriminiert wurde und das sie am Ende ihres Berufslebens nicht | |
ansatzweise ausreichend für ihre harte Arbeit entlohnen wird. | |
Es ist nett, dass wir für Menschen wie meine Mutter klatschen und bei der | |
Wertung von Berufsgruppen plötzlich umdenken. Wie wäre es aber mit besserer | |
Bezahlung und einer fairen Pension? Damit sich Menschen in diesen Berufen | |
nach Corona nicht wieder Sorgen um ihre Zukunft machen müssen. | |
31 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Melisa Erkurt | |
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