# taz.de -- Corona-Solidarität mit Italien: Leben ist Leben. Oder? | |
> Wenn wir freie Intensivbetten haben, warum fliegen wir dann nicht kranke | |
> ItalienerInnen ein? Ein moralphilosophischer Zwischenruf. | |
Bild: In Italien wird gestorben, in Deutschland gibt es Kapazitäten bei den In… | |
Aus [1][Italien] erreichen uns erschütternde Bilder: PatientInnen werden | |
„triagiert“, also nach behandelbar und sowieso zum Tode verurteilt | |
unterschieden, wobei die Letzteren dann sterben gelassen werden. | |
Erschütternd ist das insbesondere deshalb, da diese Menschen nicht sterben | |
müssten, wenn sie entsprechend intensivmedizinisch betreut würden, wozu | |
Italien die Kapazitäten fehlen. | |
Gleichzeitig wird in Deutschland die Kapazitätsfrage beruhigend | |
beantwortet: So erklärt Professor Rainhard Busse, | |
Gesundheitswissenschaftler von der Technischen Universität Berlin, in „MDR | |
Wissen“: „Insgesamt haben wir in Deutschland etwa 27.000 bis 28.000 | |
Intensivbetten. Das sind im Vergleich zu Italien bezogen auf 1.000 | |
Einwohner zweieinhalbmal so viele. Wir kommen mit unseren Kapazitäten also | |
gut hin. Auch die italienischen Verhältnisse würden uns nicht überlasten.“ | |
Derartige Statements findet man derzeit häufig, etwa auch von Professor Uwe | |
Janssens. Er ist Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für | |
Intensiv- und Notfallmedizin. | |
Beruhigend, nicht wahr? Aber nicht für den Moralphilosophen. Der oder die | |
muss ständig damit aufräumen, dass Moral sich nur auf die erstreckt, die | |
uns „near and dear“ sind, denn diese Überzeugung ist uns vielleicht sogar | |
genetisch von der Evolution eingeprägt. Aber was natürlich ist, ist noch | |
lange nicht gut, wie ein Blick auf alle Naturkatastrophen lehrt. Jedenfalls | |
zeigt die Geschichte, dass der Bereich der moralisch zu Berücksichtigenden | |
immer größer wird: von den Mitgliedern der eigenen Sippe, zu den männlichen | |
Bürgern Athens, zu allen Griechinnen und Griechen, dann spätestens seit der | |
Französischen Revolution zu allen Menschen und heute wohl auch zu allen | |
schmerzfühlenden Lebewesen, welcher biologischen Art auch immer. | |
## Gründe für einen Universalismus | |
Die Gründe dafür sind klar: Erstens ist es reiner Zufall und somit | |
unbedeutend, wann und wo jemand geboren wird. Rechte sollten nicht an | |
solchen Zufällen hängen. Zweitens, Rechte hängen an den Eigenschaften, | |
Schmerz zu empfinden und Wohlergehen erfahren zu wollen, also an den | |
Bedürfnissen. Bei Bedürfnissen setzt die Moral an: Empfindungslose Dinge | |
und Lebensformen kann man nicht schädigen, da sie kein Interesse haben, | |
unversehrt zu bleiben. Es liegt ihnen nichts an ihrer Existenz oder | |
Unversehrtheit. Mit der Empfindungsfähigkeit heben alle Interessen an und | |
besondere Fähigkeiten wie die, Angst um die eigene Zukunft zu haben, | |
erzeugen dann spezielle Interessen und Bedürfnisse. | |
Gleiche Bedürfnisse muss man gleich behandeln, sonst handelt man sich | |
Widersprüche ein. Immer wenn wir keine relevanten Unterschiede zwischen | |
zwei Dingen benennen können, müssen wir sie gleich behandeln. Das gilt | |
schon rein sprachlich: Zwei Dinge, die beispielsweise rot, essbar und von | |
einer gewissen chemischen Zusammensetzung sind, müssen wir beide als | |
„Tomaten“ bezeichnen, wenn es keinen relevanten Unterschied gibt. So | |
funktionieren Sprache, Argumentation und Ethik. | |
ItalienerInnen, ChinesInnen und Deutsche sind Menschen, die schon seit der | |
Französischen Revolution erst einmal gleich zählen und gleichen Wert haben. | |
Das ist [2][Grundlage der Menschenrechte,] auf die wir so stolz sind. Ob | |
ItalienerInnen oder Deutsche sterben, ist – so gesehen – völlig egal, es | |
sollte keiner mehr sterben, als unvermeidbar ist. Wenn wir also freie | |
Betten haben, dann sollten wir kranke ItalienerInnen einfliegen, die darin | |
versorgt werden, wenn dies medizinisch Sinn macht. Oder wir sollten nicht | |
benutzte [3][Atemgeräte] nach Italien ausleihen. | |
Ob das angesichts der langen Dauer, die Corona-Kranke beatmet werden | |
müssen, der Fall ist, ob man also in dem Zeitintervall, von heute, wo | |
unsere Geräte noch unausgelastet sind, bis zu dem Zeitpunkt, wo alle Geräte | |
in Deutschland benötigt werden, Menschen retten kann, das müssen Mediziner | |
beantworten. | |
Genauso sollten wir Atemschutzmasken und Schutzhandschuhe nach Deutschland | |
schaffen, wenn es in Schweden zum Beispiel mehr als genug davon gäbe. So | |
sollte wenigstens ein europäischer, letztlich aber ein globaler Austausch | |
organisiert werden. Denn wem ist geholfen, wenn es nach Ende der | |
Corona-Krise noch tausende ungenutzter Atemschutzmasken in Schweden gibt? | |
Wir sollten gerade knappe Ressourcen so verteilen, dass sie optimalen | |
Nutzen schaffen. | |
## Vorteile nationaler Organisation | |
Aber dagegen sprechen ein allgemeiner und ein praktischer Einwand: | |
Allgemein gesehen, ist es eben nicht so, dass wir global organisiert sind. | |
Das hat auch Vorteile. Jeder weiß vor Ort am besten, wie die Dinge | |
effizient oder gerecht zu organisieren sind. Erfüllt jeder Nationalstaat | |
diesen Job, geht es letztlich allen damit besser. | |
Aber dieses Argument ist lediglich organisatorischer Art. Man ist sich | |
einig darüber, dass Menschen prinzipiell gleich viel wert sind, schlägt | |
aber ein verglichen mit dem Globalismus gegebenenfalls besseres Mittel vor, | |
um die Menschen am besten zu schützen: den funktionierenden Nationalstaat. | |
Was aber, wenn dieses Mittel eben nicht mehr funktioniert? | |
Der praktische Einwand lautet: Wenn wir wirklich ItalienerInnen in deutsche | |
Betten legen oder Beatmungsgeräte verleihen und der Höhepunkt der Krise bei | |
uns schneller einsetzt als erwartet, könnten noch italienische Patienten | |
die deutschen Betten oder Maschinen belegen, die dann „für uns“ blockiert | |
sind. Gemäß der obigen ethischen Grundsätze könnte man wiederholen: „Ob | |
ItalienerInnen oder Deutsche sterben, ist völlig egal.“ Aber wir sind nun | |
mal national organisiert und deutsche KassenpatientInnen haben vielleicht | |
vorrangig Anspruch auf deutsche Betten. | |
Zudem ist ein konsequenter Universalismus weder durchsetzbar noch | |
durchhaltbar, wie die Flüchtlingskrise gezeigt hat. Es führt also kein Weg | |
an einem Kompromiss vorbei, der aber eben internationaler gedacht sein muss | |
als unser jetziges Denken. Daher sollten wir zum Beispiel nicht völlig an | |
die Grenzen gehen und eine gewisse Anzahl an Betten oder Maschinen als | |
Notfallreserve zurückhalten. | |
Jedenfalls sollte man die Diskussion auf dieser Ebene führen, denn es kann | |
nicht sein, dass mit der Wiederkehr der Grenzen auch unsere Moral wieder | |
ins antike Griechenland zurückkehrt. Europa gibt derzeit mit dem | |
wiederkehrenden Nationalismus ein erbärmliches Bild ab. | |
## Nationale Vorteile ohne Nationalismus | |
Auch wenn sich mit der Message, in diese Richtung zu diskutieren, kein | |
Wahlkampf gewinnen lässt: Erst solches Denken berechtigt uns, uns über | |
Donald Trump und seinen peinlichen Versuch zu erheben, deutsche | |
Impfstoffforschung ausschließlich für die USA zu erwerben. Und dann wird | |
klar, dass universelles Denken sogar Win- win-Situationen schaffen könnte: | |
Wenn wir den Ländern helfen, die auf dem Höhepunkt der Krise sind, würden | |
diese auch uns leichter helfen, wenn die Krise bei ihnen bereits wieder | |
abflaut. Das könnte beispielsweise geschehen, indem sie bereits von Corona | |
geheilte, immune Pflegekräfte anbieten, wenn sie bei uns knapp werden | |
sollten. | |
20 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Bernward Gesang | |
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