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# taz.de -- Kinder in Deutschland: Ihr lebt hier im Paradies!
> Unsere Autorin kann nicht verstehen, warum die Deutschen sich für
> kinderfeindlich halten. Als US-Amerikanerin weiß sie, wie sich das
> wirklich anfühlt.
Bild: In Deutschland ein normaler Anblick, in den USA undenkbar: Kinder radeln …
Deutschland soll ein kinderfeindliches Land sein. Sagen die Deutschen. Aber
was ist dran an dieser Behauptung? Okay, es gibt [1][Restaurants, die
Kinder ausgeschlossen haben], damit Erwachsene in Ruhe essen können. Und
manche Leute wirken sehr genervt, wenn ein Kind in der Straßenbahn
herumschreit.
Und sicher, es gibt besorgniserregende Statistiken über Kinderarmut,
schlechte Pisa-Werte und fehlende Kita-Plätze. Aber als zugewanderte
US-Amerikanerin erlebe ich Deutschland dennoch als ein Paradies für Kinder.
In den USA haben Eltern Angst, ihre Kinder allein zur Schule gehen zu
lassen. Das Leben für Kinder gilt dort als so gefährlich, dass es in den
meisten Staaten illegal ist, Kinder unter zehn Jahren unbeaufsichtigt zu
lassen! [2][Die Polizei greift dann ein] und Kinder können aus ihren
Familien geholt werden, wenn sie allein zum Spielen in den Park gehen oder
im Auto vor einem Supermarkt warten.
Es gibt noch extremere Indikatoren für Kinderfeindlichkeit in den USA. Ich
denke an Zuwandererkinder, die an der Grenze von ihren Eltern getrennt, in
Käfigen gehalten werden, ohne medizinische Versorgung und [3][in einem
weitgehend privatisierten Sozialsystem unauffindbar verloren] gehen.
Im Jahr 2018 entschied ein Bundesgericht in Detroit – wo den öffentlichen
Schulen Lehrkräfte, Bücher und sichere Gebäude fehlen –, dass Kinder
[4][kein Recht auf Grundbildung und Alphabetisierung] haben.
Schulschießereien geschehen jede Woche und gehören zur Normalität.
Weil Eltern in den USA ahnen, dass es anders gehen muss, ist ein Markt für
hoffnungsvolle Berichte über andere (europäische) Lebensweisen mit Kindern
entstanden. Zum Beispiel hat das Buch [5][„Achtung Baby: The German Art of
Raising Self-Reliant Children“] von Sara Zaske aus dem Jahr 2018 für große
Aufmerksamkeit gesorgt. Darin ist von deutschen Kindern zu lesen, die
selbstständig ihre Städte erkunden. Und trotz der Verletzungsgefahr mit
Messer und Gabel essen! Oder im Kindergarten übernachten – und das ohne
ihre Eltern.
„Wenn Sie sich fragen, wo Sie heutzutage glückliche, normale,
un-helicoptered Kinder finden, lautet die Antwort: Deutschland!“ Das
schrieb Lenore Skenazy, die [6][Gründerin der Bewegung Free-Range-Kids],
einer Art Selbsthilfegruppe für Eltern, die ihren Kindern ein bisschen mehr
Freiheit zutrauen wollen. „Free Range“ ist eigentlich ein Begriff aus der
ökologischen Landwirtschaft. Für freilaufende Hühner.
## Anspruchsvolle Spielplätze, kostenloses Bio-Obst
Als ich vor sechs Jahren mit meinem damals dreijährigen Sohn nach Bremen
gezogen bin, hat mich auch die unterschiedliche Einstellung zum Leben mit
Kindern sehr bewegt. In Deutschland besteht Einigkeit, dass es eine
Notwendigkeit für gute und bezahlbare Kindertagesbetreuung gibt. Mütter
können Jahre frei nehmen, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Und sogar
Väter haben einen Anspruch auf Elternzeit!
Dieser Ansatz ist eine große Abweichung von dem, was ich in den USA erlebt
habe. Obwohl ich in Vollzeit als Journalistin arbeitete, habe ich nur
während meiner Schwangerschaft eine bezahlbare Krankenversicherung bekommen
können. Aber es gab keinen Mutterschutz, ich musste bis zur Geburt arbeiten
und habe hinterher drei Wochen Urlaub bekommen. Und das war ein
vergleichsweise großzügiges Angebot vom Arbeitgeber.
Meine Liste der Gründe, warum die Deutschen aufhören sollten, sich für
kinderfeindlich zu halten, ist lang. Darauf steht auch: anspruchsvolle
Spielplätze, ausgedehnte Gewöhnungsphasen in Kindergärten und kostenloses
Bio-Obst und -Gemüse in den Schulpausen.
Als ich mich mit meiner neuen Adresse beim Einwohnermeldeamt anmeldete,
erfuhr ich dort ungefragt, dass Mütter eine Haushaltshilfe beantragen
können, wenn sie krank oder überfordert sind. Das hat mich so beeindruckt,
dass ich Freunden in den USA davon berichtete. Es gibt zudem Kindergeld,
ein bezahlbares Studium und Mutter-Kind-Kuren.
Und selbst wenn auch hier das Auto den Straßenverkehr dominiert: Es
existieren immerhin Bürgersteige und Radwege, auf denen sich Kinder
einigermaßen sicher bewegen können. Hinzu kommt der öffentliche
Personennahverkehr.
Als mein Sohn eine Nacht im Krankenhaus verbringen musste, waren die Wände
des Kinderflügels mit Auszügen aus der [7][UN-Erklärung zu Kinderrechten]
geschmückt. Die USA haben die Kinderrechts-Konvention als einziger der 193
Mitgliedsstaaten nicht unterzeichnet. Das heißt, die Rechte auf
Gesundheitsvorsorge, Bildung, Spiel sowie Schutz vor Ausbeutung werden
US-amerikanischen Kindern nicht ausdrücklich garantiert. Und weder Kinder
noch Erwachsene erfahren – anders als hierzulande – davon, dass es solche
Rechte überhaupt gibt. Obwohl ich studiert habe, war dieser Krankenhausflur
meine erste Begegnung mit diesem Text.
Inzwischen ist die kinderfreundliche Infrastruktur dieses Sozialstaats so
alltäglich für mich geworden, dass mir vieles nur auffällt, wenn ich
darüber nachdenke – so wie jetzt für diesen Artikel.
Bei allem Ärger über das, was in Deutschland vielleicht noch besser laufen
könnte für Kinder: Es gibt viel, was sich lohnt zu verteidigen.
22 Feb 2020
## LINKS
[1] /Kolumne-Fremd-und-befremdlich/!5580133/
[2] https://edition.cnn.com/2014/07/31/living/florida-mom-arrested-son-park/ind…
[3] https://edition.cnn.com/2018/05/26/politics/hhs-lost-track-1500-immigrant-c…
[4] https://www.nytimes.com/2018/07/04/education/detroit-public-schools-educati…
[5] https://sarazaske.com/upcoming-book-achtung-baby/
[6] https://letgrow.org/
[7] https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/un-kinderrechtskonvention-im-wortl…
## AUTOREN
Eartha Melzer
## TAGS
Kinder
Kinderrechte
Kindererziehung
USA
Kinderrechte
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