# taz.de -- Korruptionsskandal auf Malta: Bis in die höchsten Kreise | |
> Ein Ex-Minister steht im Verdacht, in einen Mord verwickelt zu sein. | |
> Jetzt musste auch der Regierungschef zurücktreten. Was macht das mit | |
> Malta? | |
Bild: Der ehemalige Premierminister Joseph Muscat mit seiner Familie | |
Viele haben das Buch unterm Arm, das die Partei gemacht hat. Es heißt | |
„Joseph“ und ist kiloschwer. Sie rufen diesen Namen, dass die Wände | |
wackeln, im sandfarbenen Kordin-Sportkomplex, einer Turnhalle auf einem | |
Hügel, über dem Hafen von Maltas Hauptstadt Valletta. Vor der Tür parken | |
schwarze Jeeps mit Fähnchen auf der Motorhaube, die Botschafter durften | |
vorfahren, alle anderen müssen vor den Absperrungen parken. Tausende sind | |
an diesem Freitagabend Mitte Januar hier, um Joseph Muscat, 45, ein letztes | |
Mal als Premierminister von Malta zu seiner Partei sprechen zu hören. | |
Die Bühne im Innern ist gemacht für eine Lichtgestalt. Ein weißes | |
Rednerpult auf einem Podest in der Mitte des Saals, für „Joseph“, zu seinen | |
Füßen das Volk. Die Hälfte hier ist unter 30, manche weinen. Die | |
Scheinwerfer lassen seine blauen Augen leuchten, er hat abgenommen, sein | |
Gesicht ist jungenhaft, seine Frau steht nah bei ihm und hat tatsächlich | |
eine Art weiße Pelzjacke an, die an Hermelin erinnert und an die sie ihre | |
beiden Töchter drückt. Wer die Szenerie, das Licht, die Bühne entworfen | |
hat, hat sich bei amerikanischen Wahlkämpfen viel abgeschaut. | |
Zwischen den Sätzen gehen Muscats Mundwinkel nach oben und immer wieder | |
auch seine Hände. Er redet von der Einheit der Nation und der Gerechtigkeit | |
und der Zukunft, er spricht, als danke er nicht ab, sondern trete an, als | |
fordere er hier die alten Mächte heraus und kämpfe für das Gute. Aber es | |
gibt keine alten Mächte, außer ihm selbst. | |
Abgewählt hätten die Malteser ihn nicht. Im Mai hatte Muscats | |
sozialdemokratische PL sagenhafte 53 Prozent bei der EU-Wahl bekommen und | |
Muscat hatte für sich noch Höheres im Sinn: den Posten als nächster | |
EU-Ratspräsident. Doch das ist passé, ebenso wie er sein Amt und seine | |
Macht an diesem Abend verliert. Wegen eines Mordes, einer Toten, die hier | |
über allem schwebt, aber deren Namen an diesem Abend niemand nennt. Die | |
Menschen auf diesem Parteitag, der eine trotzige Jubelfeier ist, sie | |
glauben Muscat, dass er mit diesem Mord nichts zu tun hat. Oder sie glauben | |
es nicht, aber verzeihen ihm. | |
## Ein Hund und drei Bombenleger | |
Auf Malta heißt es, ein Hund habe ihn letztlich vom Thron gestoßen. Ein | |
Spaniel namens Peter, der Geldscheine erschnüffelt. Am 18. November des | |
letzten Jahres führte ein Zöllner ihn am Gate des Fluges TK 1371, Turkish | |
Airlines nach Istanbul, vorbei. Einer der Passagiere hatte 210.000 Euro im | |
Handgepäck. Der Zoll rief Beamte der Economic Crimes Unit. Und der | |
Verhaftete sagte, von wem er das Geld hatte: von einem Taxifahrer namens | |
Melvin Theuma. Den hatte die Polizei schon eine Weile als Geldwäscher im | |
Visier – und im Verdacht, der Mittelsmann im Galizia-Mord zu sein. | |
Theuma machte den Ermittlern ein Angebot, das diese nicht ablehnen konnten: | |
seine Freiheit gegen den Namen des Auftraggebers für den Mord an Daphne | |
Caruana Galizia, der Investigativjournalistin, die 2017 vor ihrem Haus mit | |
einer Autobombe getötet wurde. Und die in den Jahren zuvor vor allem über | |
ein Thema berichtet hatte: die krummen Geschäfte von Ministern [1][aus dem | |
Kabinett von Joseph Muscat, vor allem von Kabinettschef Keith Schembri.] | |
Seit dem Tag ihres Todes hatte Galizias Familie vor allem diesen öffentlich | |
verdächtigt, an dem Mord beteiligt gewesen zu sein. | |
2017, zwei Monate nach Galizias Tod, nahm die Polizei auf Malta drei Männer | |
fest. Dass sie die Bombe gelegt hatten, galt bald als erwiesen. Warum und | |
wer sie dafür bezahlt hatte, blieb offen. Die Indizien dafür, dass Leute | |
aus Muscats Umfeld dazugehören könnten, haben sich seitdem so verdichtet, | |
dass die Anti-Korruptions-NGO OCCRP Muscat im Dezember den zweifelhaften | |
Titel „Man of the Year in Organized Crime and Corruption“ verlieh. | |
„‚Man of the Year‘ in organisierter Kriminalität. Ein Regierungschef. Ka… | |
man sich das vorstellen?“, fragt Corinne Vella. Sie ist die Schwester | |
Galizias und sie kann sich das sehr gut vorstellen. Am Morgen des Tages, an | |
dem Muscat abdankt, sitzt sie in der Lobby des Corinthia Spa Resort in | |
einem Villenviertel nahe Valletta, sie trägt eine cremefarbene Daunenjacke | |
und einen schwarzen Rollkragenpullover. Vella arbeitet freiberuflich als | |
Beraterin, aber seit ihre Schwester ermordet wurde, ist die Familie vor | |
allem mit einer Kampagne beschäftigt, deren Ziel es ist, Muscat und einen | |
Teil seines Kabinetts vor Gericht zu sehen. | |
## Schmiergeld und Auftraggeber | |
In der Regierung seien „Kriminelle, kein Zweifel“, sagt Vella und erinnert | |
an die lange, lange Liste von Indizien, die Medien in den letzten Jahren | |
gegen Muscat und sein Umfeld gesammelt haben: Da sind die Luxusreisen, die | |
Muscat selbst bezahlt haben will, obwohl sein offiziell angegebenes | |
Familieneinkommen bei weniger als 5.000 Euro im Monat liegt. Die Kritik aus | |
dem EU-Parlament wegen anrüchiger Passverkäufe an reiche Geschäftsleute aus | |
Osteuropa und dem Nahen Osten. Die vier laufenden Verfahren rund um | |
illegale Visaverkäufe. Die Briefkastenfirmen seiner Minister in der | |
Karibik. Die Behauptung des Geldwäschers Theuma, einen monatlichen Scheck | |
aus dem Büro des Premierministers erhalten zu haben – nachdem er, Theuma, | |
im Auftrag eines Geschäftsmanns die Auftragskiller für den Mord an Galizia | |
gesucht hatte. Und noch vieles mehr. | |
Theuma nannte den Ermittlern nach seiner Verhaftung 2019 den Namen des | |
Unternehmers Yorgan Fenech, Sproß einer lokalen Millionärsfamilie. [2][Der | |
wurde daraufhin Mitte November beim Fluchtversuch mit seiner Yacht | |
verhaftet] und kurz darauf wegen Mordes angeklagt. Galizias Recherchen | |
hatten darauf hingedeutet, dass Fenech offenbar an Schembri und einen | |
weiteren Minister Millionen an Schmiergeld zahlen wollte, weil er die | |
Konzession für den Bau eines Gaskraftwerks erhalten hatte. | |
Fenech hat angedeutet, dass auch Kabinettschef Schembri an dem Mord | |
beteiligt war. Doch bevor er aussagt, will er Strafminderung. Auch Schembri | |
wurde im November kurz verhaftet, ist aber wieder auf freiem Fuß. Offiziell | |
gilt er als Zeuge. Den Abend, bevor er verhaftet wurde, verbrachte Schembri | |
im Haus Muscats. Spät in der Nacht benutzte er sein Handy. Als die Polizei | |
ihn morgens holte, war das Handy weg. Viele glauben, dass er von der | |
anstehenden Verhaftung wusste. Schembri streitet alles ab, Muscat hält zu | |
ihm. | |
Muscat war im Wesentlichen darüber gestolpert, dass Schembri offenbar | |
interne Ermittlungsergebnisse an den Geschäftsmann Fenech weitergegeben | |
hatte. Die Familie Galizias hatte darauf gedrängt, dass Muscat, der | |
Jugendfreund Schembris, sein Amt niederlege, damit die Ermittlungen | |
ungestört laufen können. Doch erst als auch die EU zu verstehen gab, dass | |
es so nicht weitergehen könne, [3][kündigte Muscat im Dezember seinen | |
Rückzug an]. | |
## Verehrung und Vertuschung | |
Seiner Beliebtheit hat das kaum Abbruch getan. „Kein Wunder“, sagt Vella. | |
„Fast 80 Prozent der Malteser sehen fern. Nur 22 Prozent lesen Zeitung. Und | |
das Fernsehen in Malta ist parteiisch – sogar der staatliche Sender“, sagt | |
sie. „Viele denken, das Ganze sei eine Verschwörung gegen Muscat.“ | |
Am nächsten Tag wird seine Partei, die PL, einen Nachfolger wählen. Wird es | |
dann besser? Vella senkt die Stimme. Die beiden Kandidaten für den | |
Spitzenposten „können nicht schlimmer sein, aber sie sind nicht besser“, | |
sagt sie. Zu nah dran seien sie, Muscat zu treu ergeben. Ihr | |
Wahlversprechen sei „Kontinuität“. Für Vella kann es angesichts der | |
vergangenen Jahre kaum eine schlimmere Ankündigung geben. Keiner der beiden | |
möglichen Nachfolger vermöge aus Muscats Schatten herauszutreten. „Er ist | |
immer noch so populär. Er kann jedem Nachfolger sagen: Wenn du mich nicht | |
unterstützt, zerstöre ich deine Karriere.“ Und „Unterstützung“, da ist | |
Vella sich sicher, heißt: Hilfe bei der Vertuschung. | |
Muscats Popularität kommt nicht von ungefähr. Für ihre Anhänger ist die PL | |
in Malta so wie Real Madrid für die Fußballfans in der spanischen | |
Hauptstadt: eine Entscheidung fürs Leben. | |
Das hat auch damit zu tun, dass der Erzbischof der damals allmächtigen | |
Kirche von Malta 1961, aus Angst vor dem Kommunismus, die PL-Anhänger | |
offiziell ausschloss: Die Parteifunktionäre durften keine Sakramente mehr | |
empfangen, nicht kirchlich heiraten und nicht einmal mehr auf dem geweihten | |
Teil des Friedhofs begraben werden. Das Lesen oder den Verkauf | |
sozialistischer Zeitungen, die Teilnahme an den Labour-Versammlungen und | |
die Wahl der Partei erklärte die Kirche zur „Todsünde“. So wurde die Part… | |
zum sozialen Bezugspunkt der aus der Kirche verstoßenen Arbeiter. Und sie | |
blieb es bis heute, auch wenn der Bann später aufgehoben wurde. | |
## „Wachstum auf Steroiden“ | |
Muscat privatisierte und deregulierte, wie es viele andere europäische | |
Sozialdemokratien taten. Doch in Malta überstand die Partei die neoliberale | |
Wende vorerst schadlos. Das Wirtschaftswachstum lag seit 2014 im Schnitt | |
bei schwindelerregenden 7,4 Prozent, das ist fast viermal so viel wie in | |
der EU insgesamt. So kam Geld in die Kassen, das Muscat unter die Leute | |
bringen konnte: für höhere Renten, Gratis-Kitas, mehr Geld für | |
Arbeitsunfähige, dazu ein steigender Mindestlohn. | |
„Ein Wachstum auf Steroiden“, sagt Manuel Delia dazu. Als Galizia starb, | |
hat der Ökonom und Blogger Mahnwachen organisiert, vor Muscats Palast. | |
„Occupy Justice“ hat er sie genannt. Der Name ist angelehnt an „Occupy Wa… | |
Street“, die Bewegung, die die Wirtschaft unter ethische, demokratische | |
Kontrolle stellen wollte. Auf Malta, fand Delia, müsse man zuerst mit der | |
Justiz anfangen. | |
Zwei Jahre haben sie demonstriert, bis zu 20.000 Menschen gingen auf die | |
Straße. An diesem Samstag soll ihre Bewegung in ein neues Stadium | |
übergehen. Während die PL ihre 17.000 Mitglieder dazu aufruft, einen | |
Nachfolger für Muscat zu bestimmen, hat Delia zu einem Votum in das St. | |
Aloysius’ College geladen. „Republikka“ ist der neue Name, 600 Menschen | |
sind gekommen, sie sitzen im historischen Theatersaal der Jesuitenschule, | |
an der Decke goldener Stuck, gestützt von Marmorsäulen, es mutet an wie ein | |
teures privates Internat, und jene, die hier sind, als hätten sie einst | |
solche Schulen besucht. Es sind Akademiker, viele über 50. | |
„Neues Malta, neue Republik“, der Slogan hängt über der Bühne. Vier Stun… | |
wird debattiert, über ein Manifest, das der Gesellschaft den Weg zu einem | |
ethischen, demokratischen Neustart weisen soll. Vier Seiten ist es lang, es | |
geht um Rechenschaft und Transparenz, Ökologie, Moral, Gerechtigkeit, alles | |
klingt vernünftig. Als am Ende des Vormittags um Zustimmung gebeten wird, | |
gehen fast alle Stimmkarten in die Höhe. | |
„Eine größere zivilgesellschaftliche Bewegung dieser Art gab es noch nie | |
auf Malta“, sagt Delia. Er steht vor dem Eingang, da ist das Licht besser, | |
und gibt einem italienischen Fernsehsender ein Interview. Er spricht | |
schnell und druckreif, sogar auf Italienisch. Delia hat an der London | |
School of Economics studiert. | |
## Neues Malta | |
Die Steroide? „Wenn Malta weiterhin denkt, dass seine Wirtschaft darauf | |
basieren kann, praktisch null Steuern von Unternehmen zu kassieren, die an | |
ihrem eigentlichen Firmensitz höhere Steuern bezahlen müssten“, dann werde | |
das irgendwann von außen unterbunden werden, sagt er. Die Regierung sei | |
„unfähig, sich gegen die Infiltrierung von Kriminellen zu behaupten“. Wenn | |
die Mafia komme und in den Casinos der Insel Geld wasche, „dann sieht man | |
hier kein Blut auf dem Boden. Man sieht nur Typen im Anzug.“ Die Opfer | |
seien in Albanien, Osteuropa, Italien. „So kann man leicht abstreiten, dass | |
es die Mafia gibt, und einfach weitermachen.“ | |
Ja, er wolle mehr Polizei. Aber vor allem brauche es ein „neues | |
Wirtschaftsmodell, mit moralischem Kompass“. All das aber sei „tabu“ für | |
die Parteien. Denn die würden direkt von Sponsoren finanziert werden. | |
Öffentliche Parteienfinanzierung gebe es praktisch keine. „Also verfolgen | |
die Parteien kein öffentliches, sondern private Interessen.“ Und dennoch: | |
Eine Anti-Parteien-Bewegung sei Republikka nicht. „Parteien sind wichtig. | |
Sie müssen sich nur verändern.“ | |
Im Oktober ist sein Buch „Murder on the Malta Express“ erschienen, eine | |
Rekonstruktion des Galizia-Mordes. Delia hat es mit zwei hochdekorierten | |
Journalisten aus England und Italien geschrieben. Wer alles an dem Komplott | |
beteiligt war, haben die drei allerdings auch nicht herausgefunden. Die | |
Polizei habe Kabinettschef Schembri nicht einmal wegen seiner | |
Briefkastenfirmen in Panama befragt, klagt Delia. | |
„Das Problem ist nicht Schembri. Das Problem ist: Wer ist der Polizist, wer | |
der Staatsanwalt, wer der Richter?“ Er hat Muscats Rede am Vorabend | |
verfolgt. Solcher Jubel sei „normal, wenn jemand wie Merkel in Ehren geht. | |
Aber Muscat geht in Schande, weil sein Büro an einem Mord beteiligt ist.“ | |
## Sonntäglicher Familienausflug | |
Während Delia in der Schulaula sitzt, läuft die erste Urwahl in der | |
Geschichte der PL. Anders als bei der SPD in Deutschland dürfen die | |
Parteimitglieder nur einen einzigen Tag lang abstimmen, nur persönlich, in | |
einem von 44 Wahllokalen im Land. Bis zum Abend geben 92,5 Prozent aller | |
Parteimitglieder ihre Stimme ab. Ab 20 Uhr versammeln sich Journalisten in | |
einem Theater an der Rückseite der Parteizentrale in Hamrun, einem Vorort | |
von Valletta. Die Bühne, auf der ausgezählt wird, ist mit Plexiglasscheiben | |
abgetrennt. „Vor zwei Uhr wird das hier nichts“, sagt ein Reporter. Die | |
Wahlurne von der Insel Gozo sei noch unterwegs und vorher werde nicht | |
angefangen. | |
Die Zähler sind dann doch schon um eins fertig. Die PL hat sich für Robert | |
Abela entschieden, einen 42-jährigen Rechtsanwalt. Sein Vater George Abela | |
war von 2009 bis 2014 Staatspräsident, seine Frau Lydia ist | |
Generalsekretärin der PL. Mit beiden betreibt Abela eine Kanzlei in der | |
Altstadt von Valletta. Er selbst war der juristische Berater von Muscat. | |
Die Demos für den Rücktritt Muscats, nach der Verhaftung von Fenech und | |
Theuma, hat Abela eine „Provokation“ genannt. | |
Am nächsten Abend geht im Kordin-Sportkomplex das weiter, was sie Parteitag | |
nennen. Anträge, Debatten oder Abstimmungen gibt es keine. Es ist eine | |
Show, und zwar eine ziemlich gute. Von einer Stimmung wie hier kann die SPD | |
nur träumen, wahrscheinlich kann davon jede andere sozialdemokratische | |
Partei auf der Welt nur träumen. | |
Die Idee der Volkspartei wird hier todernst genommen. Die Menschen machen | |
ihren sonntäglichen Familienausflug hierher, sie haben sich schick gemacht, | |
die Kinder sind dabei, es gibt Bier und Pizza und Eis und ohrenbetäubenden | |
Discopop und nur einen einzigen Programmpunkt: Abelas erste Rede. Die | |
Partei hat schon einen Film über den gestrigen Wahltag fertig, er läuft auf | |
allen Bildschirmen. | |
## Schuld und Vergessen | |
Abelas Rede beginnt 90 Minuten später als angekündigt. 30 Minuten davon | |
kommt er zu spät, 60 Minuten dauert sein Zug durch die Menge. Dann spricht | |
Abela von dem weißen Rednerpult, die Menschen rufen „Robert, Robert“, so | |
wie sie vor zwei Tagen Muscat zugerufen haben. Ihre Loyalität gilt der | |
Partei. Abela sagt, dass die Partei eine Zeit hinter sich gebracht habe, an | |
der die Parteimitglieder „keine Schuld“ tragen, und dass die Partei eine | |
der „sozialen Gerechtigkeit und nationalen Einheit“ sei. | |
„Er hat Daphne nicht einmal erwähnt“, sagt Corinne Vella, die Schwester der | |
Toten, am nächsten Tag. Die PL wolle, glaubt sie, den Mord aus dem | |
öffentlichen Gedächtnis tilgen. Die Jubelbilder von den | |
Parteiveranstaltungen sollen ihn überlagern. Vella sitzt auf der | |
Zuhörerbank im voll besetzten Saal 2.10 des Gerichtsgebäudes in der | |
Altstadt von Valletta. Am frühen Montagnachmittag geht hier die öffentliche | |
Anhörung im Fall Galizia weiter. Es ist eine Art paralleles | |
Gerichtsverfahren, das nicht primär der Strafverfolgung, sondern der | |
Aufklärung dient. Hier gelten die gleichen Regeln wie im Strafverfahren: | |
Wer geladen wird, muss kommen und aussagen. | |
Zufrieden ist Vella trotzdem nicht. „Das hätte sofort nach dem Tod beginnen | |
müssen“, sagt sie. Aber Muscat habe alles Mögliche getan, um die Anhörung | |
zu verhindern. Erst „zwei Jahre lange Kampagnen von den UN, den | |
EU-Institutionen, dem Europarat, Amnesty, Reporter ohne Grenzen und | |
Abgeordneten“ hätten den Beginn der Anhörung im Dezember 2019 durchsetzen | |
können. Vieles von dem, was über den Fall öffentlich bekannt ist, stammt | |
aus diesen Anhörungen. | |
Heute ist ein Ex-Polizist dran. Er soll erklären, warum Galizia nicht | |
besser bewacht wurde. Eine Anfrage dafür habe es nie gegeben, sagt er. | |
Einmal habe er das Haus der Journalistin aufgesucht, als „ihre Tür | |
angezündet worden war“. Dort habe er nur ihren Mann angetroffen. Der sitzt | |
in der letzten Reihe im Gerichtssaal und hört mit versteinerter Miene zu. | |
## „Skepsis ist angebracht“ | |
Nur dreihundert Meter weiter, im prächtigen St. George’s Palast im Zentrum | |
Vallettas, beginnt jetzt Abelas Vereidigung. Auf dem Vorplatz haben sich | |
Schaulustige versammelt. Medien sind, anders als sonst, von der Zeremonie | |
ausgeschlossen. Aus Sicherheitsgründen, ist zu lesen. So etwas hätten sie | |
„noch nie erlebt“, sagen angereiste Journalisten den lokalen Kollegen. „I… | |
sage ja: Sie wollen alle Bilder kontrollieren“, sagt Corinne Vella. Sie | |
steht am Gatter und beobachtet, wie Muscat den Palast verlässt und unter | |
dem Jubel der Umstehenden in seinen Wagen steigt. Er wolle künftig „mehr | |
Zeit mit der Familie verbringen“ und „sich um den Sport auf Malta kümmern�… | |
hat er gesagt. | |
Die EU gratuliert Robert Abela, aber die guten Wünsche haben einen strengen | |
Unterton. Ratspräsident Charles Michel twittert, er heiße Abelas | |
„Entschlossenheit, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren, willkommen“. Der | |
Grüne Sven Giegold schreibt: „Skepsis ist angebracht. Ein Neustart ist nur | |
mit klarer Distanzierung zum alten System von Korruption und Klientelismus | |
möglich.“ Giegold hatte den Galizia-Fall mehrfach im EU-Parlament auf die | |
Tagesordnung gesetzt. Im Dezember hatte er die Insel mit einer von ihm | |
initiierten „Eil-Delegation zur Beurteilung des Rechtsstaats“ besucht. Die | |
Beurteilung fiel nicht besonders gut aus. | |
Um 18 Uhr nimmt Abela im Castille-Palast seine Amtsgeschäfte auf. Zu dieser | |
Zeit geht Keith Schembris Telefon wieder ans Netz, seine Nummer erscheint | |
bei den Messengerdiensten WhatsApp und Signal. „Er war nie weg“, sagt | |
Corinne Vella. | |
21 Jan 2020 | |
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