# taz.de -- Kinoempfehlung für Berlin: Die aus der Reihe fallen | |
> Jochen Kraußer schuf Filme über Abweichler. Das Zeughauskino widmet dem | |
> Regisseur, der seit 1969 bei der Defa beschäftigt war, eine Werkschau. | |
Bild: „Leuchtkraft der Ziege“ (1087) | |
Jochen Kraußer interessiert sich nicht nur für Menschen, die aus der Reihe | |
fallen, sondern auch für ihre Beziehungen. Ein ganzer Film ist einer | |
solchen Begegnung gewidmet: „Tisa und Jens-Peter. Eine Freundschaft“ von | |
1994. Er handelt von einer zarten Komplizenschaft, in der gleichsam Platz | |
für ein Aufschauen ist. | |
Der Jugendliche Jens-Peter schwärmte einst für den Widerstandskämpfer | |
Fritz-Dietlof von der Schulenburg; ein Zitat ist dem Film vorangestellt: | |
„Vor der Ewigkeit zählen nur die Augenblicke, wo man geflogen, nicht wo man | |
schwer einhergetrottet ist.“ | |
Jens-Peter schreibt in seinem Tagebuch über von der Schulenburg. Der Vater, | |
ehemaliger Polizist, entdeckt das Buch, liest darin, ist zunächst | |
fasziniert, dann schockiert. So wie der Sohn, als er erfährt, dass der | |
Vater in seinem Intimsten geschmökert hat. | |
Jochen Kraußer, der seit 1969 bei der Defa beschäftigt war und bis 1990 bei | |
ihr blieb, beginnt „Tisa und Jens-Peter“ mit diesem familiären Bruch. | |
Diesem Eindringen, das andererseits Platz für Neues schuf: Denn dort, wo | |
ein Band gerissen war, reißen musste, bot sich plötzlich Raum für andere | |
Menschen. Ein solcher Mensch ist Tisa. Tisa von der Schulenburg, Schwester | |
Fritz-Dietlofs, die als einzige der Familie Nazi-Deutschland überlebte, | |
nach England ging, Künstlerin wurde und dann Nonne. | |
Sie, genauso wie Jens-Peter, sind typische Figuren im Werke Jochen | |
Kraußers, dessen Erschließung alle auf dem Zettel haben sollten, die sich | |
als Abweichler begreifen oder solche schätzen. Und „Abweichungen“ ist dann | |
auch die Schau im [1][Zeughauskino] überschrieben, die zwischen dem 9. und | |
18. Januar einen umfänglichen Einblick in Kraußer Arbeit gewährt. | |
Jens-Peter und Tisa jedenfalls freunden sich an. Zunächst über Briefe, die | |
sie einander schreiben, schließlich treffen sie sich auch. | |
Über nicht viele, aber doch einige Jahre ist zu beobachten, wie Jens-Peter, | |
möglicherweise auch angeschoben von den Unterhaltungen mit Tisa, seinen | |
eigenen Weg entfaltet. Er studiert Kunst, besucht Tisa im Kloster, die | |
Gespräche sind tief, doch nicht abgehoben. | |
Der junge Mann solle sich ein wenig „Wind um die Ohren“ wehen lassen, meint | |
die alte Dame. Notfalls auch mal draußen schlafen. Auf einem Dampfer | |
anheuern. Rausgehen eben. Jens-Peter fährt dann nach unten, zu den | |
Bergleuten, und zeichnet sie. Gegen Ende des Films ist er Mitte zwanzig und | |
stellt fest, dass er noch nicht viel über sich weiß. | |
Jochen Kraußer hat Jens-Peter nicht zum ersten Mal vor der Linse. In | |
„Schloss Wiligrad“ (1992), ein seinerzeit unbekanntes Schloss in der Nähe | |
Schwerins, lebte der Junge mit seiner Familie. Schloss Wiligrad war | |
Ausbildungsstätte der Volkspolizei, der Vater machte hier Karriere, bis | |
sich herausstellte, dass er Westkontakte unterhielt. | |
Beide Filme kommunizieren miteinander, auch wenn sie völlig unterschiedlich | |
angelegt sind. Ähnlich geschieht es in „Leuchtkraft der Ziege“ (1987) und | |
„Bilder einer Ausstellung“ (1988). Entgegen „Tisa und Jens-Peter“ oder | |
„Schloss Wiligrad“ steht hier Kraußers Blick für Skurriles, Sonderbares, | |
ja, Dadaistisches im Vordergrund. | |
Mittelpunkt von „Leuchtkraft der Ziege“ ist ein Dorf in Thüringen, in dem | |
ein Film gedreht werden soll. Hierhin verschlägt es nicht nur einen hageren | |
Fan mit Kamera, der das Geschehen dokumentieren möchte, sondern ebenfalls | |
eine Kindergartengruppe, einen Bahngleis-Streckenläufer und eben eine | |
Ziege. Teil ist außerdem „das erste Fahrrad der Welt“, welchem erneut in | |
„Bilder einer Ausstellung“ zu begegnen ist. Letzterer beginnt mit den | |
schönen Worten, vorgetragen von einem Kind: „Wir bitten um Ihr | |
Verständnis.“ | |
Absurd wie liebevoll geht es auch in „Bruno Greiner Petter – Genannt ‚der | |
Bimmel‘“ (1979) zu, dem Porträt eines alten Kunstglasbläsers. Jochen | |
Kraußer besucht ihn in seiner verschneiten Heimat, die er nie verlassen | |
hat, lässt sich die ein oder andere Geschichte andrehen, eine | |
Akkordeon-Sammlung zeigen und erfährt, dass Bimmel zu Kindertagen mit | |
heißen Kartoffeln in der Tasche zur Schule geschickt wurde, um sich an | |
ihnen die Hände zu wärmen. | |
Die ausgekühlten verzehrte man später als „Delikatesse“. „Wind sei star… | |
(1990) handelt indes von drei „Windraderbauern“. Einer von ihnen hat ein | |
Fleckchen Grün direkt an einer vielbefahrenen Berliner Straße gepachtet. | |
Trotz Schmutz und Lärm findet er Entspannung – auch dank einer Erfindung, | |
mit der er kalte Flaschen Bier aus einem zwei Meter tiefen Erdloch zaubert. | |
Ein anderer Erbauer hat sich neben sein Haus ein waschechtes Windrad zur | |
Stromerzeugung konstruiert. Die mit ihm gewonnene Energie bringt alle | |
Glühbirnen zum Glimmen. | |
Es ist ein langer Strom dieser Art Geschichten, die sich in „Abweichungen“ | |
offenbaren. Sie alle sind von Jochen Kraußer mit viel Humor, Verstand und | |
Empathie aufbereitet. Einige besaßen, wie „Leuchtkraft der Ziege“, sogar | |
Kultstatus in den Filmclubs Ostdeutschlands. Und das zu Recht. | |
8 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihen/abweichungen.html | |
## AUTOREN | |
Carolin Weidner | |
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