# taz.de -- „Verrücktes“ Kanal-Projekt für Istanbul: Erdoğan geht übers… | |
> Der türkische Präsident will neben dem Bosporus einen zweiten Wasserweg | |
> bauen. Experten verschiedener Fachrichtungen zeigen sich alarmiert. | |
Bild: Demonstration gegen Erdogans Kanal-Projekt am Freitag in Istanbul | |
Istanbul taz | Es ist eine Katastrophe. Es wird Istanbul zerstören. Wir | |
müssen das unbedingt verhindern. Nein, im Gegenteil. Istanbul wird | |
gerettet, wird noch schöner und noch reicher. Die Ansichten zu dem vom | |
[1][türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan] selbst als „verrücktes | |
Projekt“ bezeichneten Vorhaben, neben dem Bosporus noch einen zweiten | |
Wasserweg, eine Art türkischen Suezkanal, zu bauen, könnten kontroverser | |
nicht sein. | |
Das ist auch kein Wunder, denn [2][von allen gigantischen Projekten], mit | |
denen Erdoğan die Türkei in seiner 17-jährigen Regierungszeit beglückt hat, | |
wäre der sogenannte „Kanal Istanbul“ mit Abstand das gigantischste. Wird | |
der Kanal tatsächlich wie geplant im Westen der Stadt, in Richtung | |
Bulgarien gebaut, wird aus dem europäischen Teil Istanbuls eine Insel. Im | |
Norden das Schwarze Meer, im Osten der Bosporus, im Süden das Marmarameer | |
und im Westen der Kanal. | |
„Der spinnt jetzt doch völlig“, ist unser Nachbar Ahmet überzeugt. „Kom… | |
ein Erdbeben, können wir nicht mehr weg. Wir sitzen dann ja auf einer | |
Insel.“ Seit Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu vor wenigen Tagen | |
seinen entschiedenen Widerstand gegen Erdoğans „verrücktes Projekt“ | |
verkündete, wird in Istanbul von nichts anderem mehr geredet als dem Kanal. | |
Geologen, Hydrologen, Ökologen, Experten aller Art melden sich zu Wort. Was | |
sie zu sagen haben, ist höchst alarmierend. Durch den Kanal würde Istanbul | |
wichtige, andere sagen: entscheidende Wasserressourcen verlieren. Durch den | |
Kanalbau würde die Erdbebengefahr gesteigert. Noch schlimmer: der Kanal | |
würde den Wasserhaushalt im Marmarameer entscheidend verändern, ein Teil | |
dieses Binnenmeeres könnte umkippen, also ökologisch sterben. | |
## Kriegserklärung an Erdoğan | |
In seiner Pressekonferenz, die einer Kriegserklärung an Erdoğan gleichkam, | |
ließ Bürgermeister İmamoğlu noch eine weitere Bombe platzen. Nach Angaben | |
des Istanbuler Katasteramtes sind entlang der geplanten Kanalstrecke in | |
letzter Zeit 30 Millionen Quadratmeter Land verkauft worden. Als billiges | |
Ackerland versteht sich, das nach dem Kanalbau zu teuerstem Bauland würde. | |
30 Millionen Quadratmeter, das ist mehr als die gesamte Istanbuler | |
Altstadt. | |
Der Knaller aber ist: Die Spekulanten, die sich das Land gegriffen haben, | |
kommen aus Arabien. Die drei größten Companies sind aus Katar, Kuweit und | |
Saudi-Arabien. Bedient Erdoğan hier also seine arabischen | |
Islamistenfreunde? Soll dort eine „Muslim-Brotherhood“-Kanalzone entstehen, | |
wie viele Oppositionspolitiker glauben? | |
Eine der Großinvestorinnen ist die Mutter des Scheichs von Katar. „Na | |
und!“, schrie Erdoğan in seinem gewohnten Stakkato in einer Rede vor seiner | |
Fraktion, „wenn es Hans und George wären, hätte niemand etwas dagegen“. N… | |
sind es nicht Hans und George, weil westliche Großinvestoren sich hüten, | |
25, 30 oder noch viel mehr Milliarden Dollar in ein Projekt zu investieren, | |
dessen ökonomischer Output höchst zweifelhaft ist. | |
Nach Darstellung der Regierung sollen solche Schiffe den Kanal nutzen und | |
dafür bezahlen, die nicht mehr bereit sind, die langen Wartezeiten in Kauf | |
zu nehmen, die für eine Bosporus-Durchfahrt anfallen. Denn die | |
Bosporus-Passage ist zwar kostenlos, doch Wartezeiten sind im | |
internationalen Transport-Business eben teuer. Da würden die Reedereien | |
lieber Geld für eine Kanaldurchfahrt hinblättern. | |
## Gigantische Grundstücksspekulation | |
Das sei doch eine Milchmädchenrechnung, sagt ein befreundeter Ökonom. Die | |
Zahl der Öltanker, die durch den Bosporus fahren, nehme doch ständig ab, | |
weil immer mehr Pipelines gebaut würden. | |
So bleibt der Verdacht, dass das „verrückte Projekt“ doch mehr ein | |
politisches ist und vor allem eine gigantische Grundstücksspekulation auf | |
Kosten Istanbuls. | |
Vor drei Tagen hat das Umweltministerium einen Prüfbericht öffentlich | |
ausgelegt, gegen den die Einwohner der Stadt nun Einspruch einlegen können. | |
Trotz Regen und Kälte bildeten sich vor den zuständigen Büros lange | |
Schlangen von Leuten, die Einspruch erheben. Es sieht so aus, dass die | |
Mehrheit die Schnauze voll hat von Erdoğans verrückten Projekten. | |
27 Dec 2019 | |
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[1] /Erdoans-Prestigeprojekt-fuer-Istanbul/!5652717 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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