# taz.de -- Türkischer Krieg in Nordsyrien: In der Schusslinie | |
> Viele Menschen an der Grenze zu Syrien verlassen die Städte wegen der | |
> türkischen Offensive. Wer bleibt, jubelt der Armee zu oder schläft aus | |
> Angst im Keller. | |
Bild: Bei einem Granateneinschlag kamen in Nusaybin neun Menschen ums Leben | |
Auf den Straßen der staubtrockenen südosttürkischen Grenzstadt Akçakale bei | |
Urfa sind die Rollladen der Geschäfte heruntergelassen, die Schulen | |
geschlossen. Türkische Militärfahrzeuge fahren auf der Hauptstraße in | |
Richtung Süden, in Richtung des syrischen Tel Abyad. Auf einem Motorrad | |
fahren Jugendliche vorbei und recken die Hand zum Gruß der Grauen Wölfe, | |
sobald sie einen Journalisten erblicken. Wenn die syrischen Hilfstruppen | |
der Türkei, ebenfalls mit Wolfsgruß, auf Pick-ups und in Bussen | |
vorbeifahren, klatschen Männer am Straßenrand ihre Unterstützung. | |
Seit acht Tagen dauert die „Operation Friedensquelle“ der türkischen Armee | |
gegen die Demokratischen Kräfte Syriens (engl. Syrian Democratic Forces, | |
kurz SDF) an. Unterstützt wird die Türkei bei der Militäroffensive von der | |
Nationalen Syrischen Armee, einem Zusammenschluss islamistischer Milizen, | |
die bisher als Freie Syrische Armee bekannt waren. Unmittelbar nachdem | |
Präsident Trump am 7. Oktober ankündigt hatte, die US-Soldaten aus dem | |
Gebiet abzuziehen, die bisher in einer Koalition mit den SDF gegen den IS | |
gekämpft hatten, bereitete die Türkei die Offensive vor. | |
Seit die türkische Armee im März 2018 das syrische Afrin erobert hatte, hat | |
Staatspräsident Erdoğan immer wieder angekündigt, eine „Sicherheitszone“… | |
Nordsyrien einrichten zu wollen. Der Türkei ist die Autonomieverwaltung, | |
die kurdische, armenische, assyro-aramäische und arabische Milizen unter | |
dem Dachverband der SDF im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges aufgebaut | |
haben, schon lange ein Dorn im Auge. Sie sieht in der YPG, die einen großen | |
Teil der SDF ausmacht, einen Ableger der PKK, und will das Entstehen eines | |
„Terrorstaates“ an der türkischen Grenze verhindern. | |
Am 9. Oktober gab Erdoğan den Startbefehl. In der ersten Woche starben nach | |
Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums 637 SDF-Kämpfer*innen. Die | |
SDF sprechen von 80 getöteten SDF-Kämpfer*innen. Während in Nordostsyrien | |
laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 71 Zivilist*innen | |
getötet wurden, kamen nach türkischen Medienberichten auf der türkischen | |
Seite der Grenze 19 Zivilist*innen durch Mörserbeschuss um. Akçakale ist | |
eine der am stärksten betroffenen Grenzregionen auf türkischer Seite. | |
## „Schieß, für Gott und Vaterland!“ | |
Die meisten Menschen hier sind selbst arabischer Abstammung, die | |
Kommunalverwaltung liegt in den Händen der Regierungspartei AKP. İbrahim | |
Nadir steht vor seinem Teegarten und bewässert die Hauptstraße mit einem | |
Gartenschlauch. Sein Teegarten liegt ungefähr 400 Meter von der syrischen | |
Grenze entfernt. Es gibt drei Tische, an denen insgesamt sieben Gäste | |
sitzen. Nadir schenkt Tee aus und sagt: “An manchen Tagen bekommt man hier | |
keinen Platz mehr, aber wenn von drüben die Mörsergranaten fliegen, hauen | |
die Leute halt ab und dann haben wir auch freie Tische hier.“ Damit nicht | |
der Eindruck entsteht, er beschwere sich über die geschäftsschädigende | |
Militäroffensive, legt Nadir schnell noch nach: “Wir stehen voll und ganz | |
hinter unseren Jungs im Feld. Hauptsache, das Gebiet drüben wird gesäubert. | |
Ob wir hier Einnahmen haben oder nicht, ist nebensächlich.“ | |
Drüben, das ist hinter der Grenze, das ist die einen halben Kilometer | |
entfernte syrische Stadt Tel Abyad, aus der schwarze Rauchwolken | |
aufsteigen. In unmittelbarer Umgebung von Akçakale sind türkische | |
Thunder-Panzerhaubitzen positioniert, die auf Tel Abyad feuern. Den Lärm | |
hört man überall in der Stadt. Immer, wenn es donnert, ruft İbrahim Nadir: | |
“Schieß, für Gott und Vaterland!“ Nadir erzählt auch, dass von Tel Abyad | |
aus nie ein Angriff auf Akçakale ausging, bis die Türkei dort einfiel. Aber | |
jetzt finden drüben Gefechte statt und Granaten fallen auf die türkische | |
Stadt. Drei Viertel der Stadt um ihn herum seien verlassen worden, | |
berichtet Nadir. | |
Die Bevölkerung stehe hinter der Offensive und wolle am liebsten selber an | |
der Front kämpfen. Vor dem Einmarsch hätten auch Syrer*innen in Akçakale | |
gelebt. Als die Granaten fielen, seien sie “sofort abgehauen“, sagt der | |
Teewirt. Er zeigt auf seinem Smartphone Videos, die ihm von der Front | |
geschickt werden. Es sind Aufnahmen, die Milizen der Nationalen Syrischen | |
Armee während der Kampfhandlungen geschossen haben. Wie er daran kommt? | |
“Ich habe Verwandte und Freunde dort. Ich hab auch Verwandte direkt hinter | |
der Grenze, aber ich erreiche sie gerade nicht“, sagt er. | |
## „Wir wollen endlich Frieden“ | |
220 Kilometer östlich von Akçakale liegt Nusaybin. Das historische | |
Städtchen ist eigentlich nur der nördliche Teil einer alten Siedlung, deren | |
südlicher Teil unter dem Namen Qamishlo auf syrischem Staatsgebiet liegt. | |
Man kann die Häuser auf der anderen Seite mit bloßem Auge sehen. Viele | |
Einwohner*innen von Nusaybin haben Verwandte in Qamishlo. Hier ist es noch | |
stiller als in Akçakale, kaum ein Geschäft hat geöffnet. Panzerfahrzeuge | |
patrouillieren auf den Straßen. | |
Die Stadt wurde bei den Kriegshandlungen nach Zusammenbruch des | |
Friedensprozesses 2015 zu einem Großteil vom türkischen Militär zerstört. | |
Monatelang durfte die Bevölkerung 2016 nicht auf die Straßen, während | |
Scharfschützen und dubiose Söldnergruppen sich Gefechte mit militanten | |
Jugendlichen hinter Barrikaden lieferten. Die Trümmer waren gerade erst | |
weggeräumt, als die Türkei Qamishlo angriff und die ersten Mörsergranaten | |
von der syrischen Seite aus auf Nusaybin abgefeuert wurden. | |
Im Bezirk Nusaybin ist die kurdisch-linke HDP die dominante Partei. Hier | |
glaubt kaum jemand daran, dass die Offensive etwas Gutes bringen wird. Ein | |
Mann, der erzählt, er wohne in der Nähe des Markts und sei Goldschmied, | |
lädt seine Sachen ins Auto. Er will weg aus Nusaybin und aufs Dorf ziehen. | |
Die Einwohner*innen, die trotz des Kriegs in der Stadt bleiben, schlafen | |
nachts im Keller oder im Erdgeschoss, um nicht von Mörserraketen getroffen | |
zu werden. | |
Nuri Akgun, der sich an die Rollladen eines verschlossenen Ladens lehnt, | |
reagiert misstrauisch auf Journalist*innen. Denn als neun Menschen ihr | |
Leben bei einem Granateneinschlag in Nusaybin ihr Leben verloren, kam ein | |
Kamerateam einer Nachrichtenagentur. Sie hätten alles verdreht, sagt Akgun. | |
“Die Medien tragen den Krieg mit. Unser Blut war noch nicht trocken, da | |
benutzen sie unser Leid schon, um Reklame für ihre Sache zu machen.“ Die | |
Wut ist ihm anzuhören. | |
In die Stille hinein erzählt er, wie Nusaybin immer wieder von Krisen und | |
Gewalt heimgesucht wird. “Unsere Stadt wurde während der Ausgangsverbote | |
zerstört, jetzt müssen die Menschen schon wieder fliehen. Es reicht uns. | |
Wir sind nicht anders als die Menschen auf der anderen Seite der Grenze. | |
Wir sind sehr erschöpft. Wir wollen endlich Frieden.“ Nach einer kurzen | |
Pause fügt er hinzu: “Und wenn wir von Frieden sprechen, bringen das die | |
Medien nicht. Schreibt ihr wenigstens darüber.“ | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
16 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Altan Sancar | |
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