# taz.de -- Legenden im Fußball: Kopfballungeheuer am Tresen | |
> Über den Fußball hat man sich immer was zu erzählen. Und letztlich ist es | |
> dann auch eigentlich egal, ob es denn stimmt oder eben nicht. | |
Bild: Ort der freien Fantasie: Was wohl Jürgen Klinsmann für Geschichten am T… | |
Der Mann am Tresen ist aufgeregt, er hat auch schon vier Bier in der Birne. | |
Es ist halb fünf Uhr Nachmittag, das sagt er auch ständig, also immer die | |
passende Uhrzeit. Er hat eine Armbanduhr am Handgelenk, da schaut er alle | |
fünf Minuten drauf. „Halb fünf!“, ruft er, und alle kucken in verschiedene | |
Richtungen. | |
Er ist häufiger hier, immer allein, trinkt seine vier bis sechs Bier und | |
geht dann; Punkt sechs ist es dann in der Regel. Wenn es so weit ist, kuckt | |
er wieder auf die Uhr, aber „sechs!“ ruft er nicht, er sagt nur | |
„Feierabend“. Das sagt er leise. | |
Ich sehe ihn mir an, ein kleiner Mann, mit tiefen Magenfalten, die Augen, | |
die grau sind und blau, stehen nie still. Und auch sein Gesicht ist ständig | |
in Bewegung, bisweilen hüpft seine Brille, dann schiebt er sie sich mit dem | |
Zeigefinger wieder in Position. „Scheiß Bayern“, sagt er ganz unvermittelt | |
in meine Richtung, „alles langweilig! Langweilig!“ | |
Ja, sage ich, ja ja, aber jetzt bin ich sein Fall. Er sei ein bisschen | |
plemplem, sagt er, dann schaut er wieder auf die Armbanduhr. Er habe sich | |
einmal das Hirn eingerannt, an einem Torpfosten, im Training sei das | |
gewesen. Ach, was er denn gespielt habe, frage ich, Stürmer, ruft er, ein | |
guter Stürmer sei er gewesen, sogar Bundesliga habe er gespielt, damals, | |
mit Eintracht Braunschweig! | |
## Beinharte Grätschen | |
Die Tresenkraft blickt kurz hoch, Müdigkeit liegt in ihrem Blick, sie hat | |
das alles schon zu oft gehört. Ich glaube ihm und glaube ihm nicht. Jeder | |
männliche Fußballfan, mit dem ich mich länger unterhalten habe, hat so eine | |
Heldengeschichte, die er immer und immer wieder erzählt, und vielleicht ist | |
es faktisch richtig, was der Mann am Tresen sagt, vielleicht hat er sich | |
selbst auch nur ein komplettes Epos erfunden, es ist mir egal. | |
Mein Ex-Trainer auf dem Dorf, ein arger Schleifer und dysfunktionaler | |
Alkoholiker, hat jahrelang erzählt, wie er mit dem [1][Jürgen Klinsmann] in | |
einer Auswahlmannschaft gespielt hätte; und der Jürgen, der Jürgen habe | |
sich immer vor ihm gefürchtet, wegen seiner beinharten Grätschen. Dann sei | |
er einmal, aber das erzählte weit weniger häufig, auf einem Parkplatz | |
eingeschlafen, und ein Auto sei ihm über das Bein gerollt, seither hatte er | |
nur noch ein Bein. Und trotzdem sagte er, wenn er sich sein zweites Bier | |
bestellte, immer, die Bedienung solle ein zweites bringen, auf einem Fuß | |
könne man nicht stehen. | |
Ich habe nie gelacht dann. | |
Ich kann mich an meine Geschichte nicht mehr erinnern, nur noch daran, dass | |
ich sie hundertfach erzählt habe. Es muss bei einem Hallenturnier gewesen | |
sein, in einer dieser muffigen, überheizten, hässlichen Dorfsporthallen, an | |
denen wochenends 3-Mark-Feste stattfanden und zu Jahresanfang | |
Faschingsbälle. Wir spielten gegen die SG Kißlegg, den Verein aus dem | |
Nachbardorf; für uns ein großer Konkurrent, wir waren ihnen eher egal, die | |
Dorftrottel aus dem Hinterland, die man mal sauber wegputzt zwischendrin. | |
## Heiko Butscher getunnelt | |
Aber diesmal nicht, diesmal hatten wir einen guten Tag. Hallenfußball habe | |
ich immer gemocht, oder zumindest weite Teile von mir, außer den Knien, die | |
mir noch heute bisweilen sagen, dass das kein Untergrund gewesen ist, auf | |
dem man hätte spielen sollen. Wir führten schnell zwei null, und zum Ende | |
hin versuchten wir, den Ball so lang als möglich vorne zu halten. Das | |
gelang so mittel, sie schossen den Anschluss, und danach trafen sie zweimal | |
den Pfosten. Hinten schlug der Torwart den Ball weit raus, zu mir auf die | |
Außenbahn, und da kam [2][Heiko Butscher] auf mich zu, in vollem Tempo, und | |
ich – ich wusste nicht mehr, was ich tat – legte den Ball von links nach | |
rechts nach vorne, einmal durch seine Füße durch, und war vorbei. Heiko | |
Butscher, der später Kapitän beim SC Freiburg wurde, den habe ich | |
getunnelt. | |
Getroffen habe ich anschließend nicht, wir gewannen trotzdem, im Halbfinale | |
war dann Sense. Feierabend. Wie hier jetzt gleich. „Dreiviertel sechs!“, | |
ruft der Mann, und erzählt, er sei ein Kopfballungeheuer gewesen. | |
Das ist es, was mich am Ende, trotz all dieser mich doch sehr ankotzenden | |
Entwicklungen im Profifußball dabeihält. Man hat sich was zu erzählen, und | |
es ist eigentlich auch egal, ob's stimmt. | |
26 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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