# taz.de -- Das Gesetz der Provinz: Und wieder eine weg | |
> Das Abi in der Tasche, suchen viele Junge den Weg in die weite Welt. Das | |
> ist für die Dagebliebenen traurig, aber verständlich. Man kann ja | |
> zurückkommen. | |
Bild: Ein Umzug in die große Stadt? Zum Heulen schön | |
Die nette L. geht fort und alle müssen weinen. Selbst die Hartgesottenen | |
würgen an ihren Tränen. „Wird schon“, sagen sie zu L. Und armen sie so en… | |
dass sie ihre geröteten Augen fast unsichtbar in deren schwarzem Haar | |
verstecken können. „Komm wieder“, sagen sie, und L. muss deshalb gleich | |
noch heftiger heulen. | |
L. hat diesen Sommer ihr Abi gemacht, einen Studienplatz bekommen und macht | |
sich jetzt auf in die weite Welt. Diese Welt ist ja gar nicht so dermaßen | |
riesig und gefährlich, dass man sich vor ihr fürchten müsste. Zwei Stunden | |
mit dem ICE und eine kurze Regiofahrt, [1][schon ist man wieder zu Hause, | |
draußen in der Provinz.] | |
Warum also wird hier so viel geweint nach L.s letzter Chorprobe? Es ist der | |
Abschied, das Wissen, dass die Kinder groß werden und fortgehen. Fortgehen | |
müssen. Dass L. geht, bedeutet ja auch: wieder eine Generation weg. Das ist | |
das Gesetz der Provinz, der Vertrag der Generationen: weggehen, um | |
irgendwann zurückkommen zu können. Vielleicht. Hoffentlich. | |
Bei L. stehen die Chancen auf Rückkehr nicht schlecht. Sie ist hier, in | |
unserer Kleinstadt geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Sie war | |
in der musikalischen Früherziehung, später im Kinderchor, noch später in | |
unserem Erwachsenenchor. Sie singt einen astreinen Sopran und ist viel | |
versierter als manch andere (zum Beispiel ich). Sie kann es sich deshalb | |
leisten, gemütlich mit ihrer Stuhlnachbarin zu schwatzen, während die | |
Chorleiterin mit anderen Stimmgruppen vertrackte Takte probt. Aber heute | |
tuschelt sie nicht, heute heult sie. Jede Träne ein Versprechen auf | |
Wiederkehr. Mir wird ganz schwer ums Herz. | |
## Rein in ein aufregenderes Leben | |
Auch meine Kinder sind weggegangen aus dieser Kleinstadt. Raus in die | |
Metropolen, rein [2][in ein deutlich aufregenderes Leben] als unseres hier | |
an den Rändern der Normalität. Und von heute aus kann man sagen, dass sie | |
eher nicht zurückkehren werden. Das Draußen, das sie gefunden haben, ist | |
wirklich nicht verkehrt. Feste Jobs, [3][selbstverständlich bezahlt nach | |
Westtarif], und deshalb dereinst bessere Renten (an die sie natürlich heute | |
noch keinen Gedanken verschwenden). Eine von diesem entscheidenden kleinen | |
Mehr an Wohlstand und über Generationen des Dagebliebenseins beförderte | |
gelassene Freundlichkeit. | |
Eine Mischung, die nicht nur das Eigene kennt. Beim Kita-Sommerfest meiner | |
Enkelin habe ich so erfreulich viele verschiedene Hautfarben gesehen, dass | |
ich ihrer Mutter, meiner ostdeutschen Kleinstadttochter, zugeraunt habe: | |
„Das hätte ich euch auch gewünscht.“ | |
Und nun geht also L. „Ich habe L. kennengelernt, da war sie zwei Tage alt“, | |
sagt die Chorleiterin jetzt. Man spürt die Jahre durch den Raum rauschen; | |
die Chorleiterin ist ja selbst noch jung – jedenfalls aus meiner | |
Perspektive. Plopp! macht der Rotkäppchen-Sekt. Ich gehe zu L. hinüber und | |
drücke sie. „Das ist gut, dass du weggehst“, sage ich. Und: „Du wirst | |
sehen, es wird schön.“ L.s Unterlippe zittert. Und jetzt muss ich auch | |
heulen. | |
8 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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