# taz.de -- Klimawandel umgekehrt: Wärme ist ein Lockvogel | |
> Wenn die Temperaturen nicht steigen, sondern sinken würden, wäre längst | |
> viel mehr passiert, um den Prozess zu stoppen. Besonders im Norden. | |
Bild: Ganz schön kalt: Mann beobachtet das Eis am Schweizer Aletschgletscher | |
Das Buch, das den Titel „Eis“ hat, gibt es schon. Anna Kavan ist die | |
Autorin, 1968 wurde es veröffentlicht. Im Roman rückt das Eis immer näher, | |
ausgelöst durch eine Atomexplosion. Da ist Eis, das die Erde umhüllt, | |
überrollt. Eis, das die Erde in den Abgrund stürzt. Die Handlung dazu | |
bleibt vage, ein Mann sucht eine Frau – und alles ist Irrsinn und eine | |
Irrfahrt gegen das Ende der Zeit. „Während in den Städten noch getanzt wird | |
und niemand die Gefahr wahrnimmt, rücken die Gletscher schon näher, die | |
Bedrohung durch Kälte, Zerfall und globale Zerstörung ist überall. Sie ist | |
fühlbar wie der eiskalte Hass in der Liebe.“ So heißt es bei der | |
Hörspielfassung des Buches, das 2007 im Deutschlandfunk gesendet wurde. | |
Und jetzt? | |
Jetzt wird das mal durchgespielt, wie es wäre, wenn der Planet abkühlte, | |
statt sich zu erhitzen. Wie es wäre, wenn die Gletscher vom Nordpol und | |
Südpol aus vorrückten und alles unter sich zermahlen. Teile Neuseelands und | |
Patagoniens, Teile Skandinaviens, Kanadas, Nordamerikas und der sibirischen | |
Tundra sind von den vorrückenden Eisbergen bereits verschlungen. Auch in | |
Deutschland sind die Sommer viel zu kühl, mancherorts werden die Freibäder | |
erst gar nicht geöffnet. Ernteausfälle sind seit Jahren normal. Niemand | |
kann mehr Haut zeigen, zu schneidig der Wind. Und es wird immer schlimmer. | |
Ausgelöst wird die Abkühlung des Klimas in diesem kontrafaktischen Szenario | |
(anders als bei Kavans „Eis“) durch die rücksichtslose Verbrennung fossiler | |
Energieträger, durch immer mehr CO2-Ausstoß, durch maßlosen Konsum. Auch | |
historisch sollen die Industrieländer in dieser Umkehrung der Wirklichkeit | |
wie in der Wirklichkeit auch durch ihren CO2-Ausstoß für die Abkühlung des | |
Klimas verantwortlich sein. | |
Die Länder des Südens haben vergleichsweise wenig des Klimagases in die | |
Luft geblasen, und als gäbe es doch eine höhere Gewalt, wird nun vor allem | |
am Äquator und zwischen den Wendekreisen das Wetter angenehmer. Es ist | |
mediterran, nicht mehr tropisch. (Millionäre aus aller Welt wollen sich | |
deshalb dort ansiedeln und Festungen um ihre Häuser bauen, stoßen aber auf | |
riesige Einwanderungshürden.) | |
## Kälte ist unangenehm, niemand sehnt sich danach | |
[1][Die Bedrohung durch den Klimawandel ist spürbar], überall wird es | |
kälter. Kälte ist unangenehm, niemand sehnt sich danach. Im Gegenteil, | |
begehrt wird die Wärme. Deshalb steht außer Frage, dass in den | |
Industrieländern alles getan wird, um den Abkühlungsprozess umzukehren und | |
die voranschreitenden Eisberge zu stoppen, die ganz Europa und Nordamerika | |
unter ihrem frostigen Panzer zerdrücken könnten. Sämtliche Maßnahmen, die | |
die CO2-Last in der Atmosphäre reduzieren, sind State of the Art: Energie | |
wird nur noch aus erneuerbaren Quellen gewonnen, Wasserkraft, | |
Gezeitenkraftwerke, Geothermie, Wind, Sonne – sie scheint noch. Der | |
Privatverkehr ist auf ein Minimum reduziert, Privatflüge sind so gut wie | |
verboten, die Flugkapazitäten werden für die Versorgung mit Nahrungsmitteln | |
gebraucht. Fleisch wird nicht importiert, auch kein Tierfutter. | |
In Ländern mit moderatem Klima wird massiv aufgeforstet. [2][Die Sahara ist | |
bewaldet]. Wer CO2 produziert, muss Ausgleich schaffen oder bezahlen. Der | |
Preis ist hoch. Und mit Hilfe neuer Techniken wird der Atmosphäre in großem | |
Maßstab CO2 entzogen. Alles Know-how in den Industrieländern ist auf die | |
Rettung der Erde ausgerichtet. Jeder Einzelne ist sich seiner Verantwortung | |
bewusst. Es wird Jahrzehnte dauern, den Abkühlungsprozess rückgängig zu | |
machen, aber man sei auf einem guten Weg, sagen die Verantwortlichen in | |
Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. | |
## Aber ach, alles ist doch nur schöner Schein | |
Das Gegenteil aber ist der Fall. Die Atmosphäre heizt sich auf. Zu viel | |
Kohlendioxid wurde in den letzten 200 Jahren in die Luft geblasen, ein Ende | |
nicht in Sicht. Schon gar nicht in den Ländern, die Rendite, Konsum und | |
Mobilität für Menschenrechte halten. | |
Denn noch sind die schlimmen Folgen der Klimaerwärmung nur in Ansätzen in | |
den Instustrieländern angekommen. Während Inseln im Pazifik untergehen und | |
Flussdeltas in Asien, wo Hunderttausende leben, überschwemmt bleiben, | |
während der Monsun in Indien ausbleibt, riesige Regionen desertifizieren | |
und Berghänge in den Anden abrutschen, ist der Klimawandel in den | |
nördlichen Ländern eine ganz angenehme Sache. Es ist warm, die Winter sind | |
mild. | |
Wärme ist der Lockvogel des Klimawandels. In Europa sagen die | |
Bauunternehmer: super, keine Kurzarbeit, Zeit ist Geld. In Sibirien sagen | |
die Hirten: super, die Tiere kommen einen Monat später in die | |
Winterquartiere. Das spart Futter. In Kanada sagen die Touristiker: super, | |
die Saison ist länger, das stärkt das Bruttosozialprodukt. | |
Wo Wärme ist, ist Entfaltung, ist Lebensfreude. Wo Wärme ist, lösen sich | |
die Verspannungen im Körper. Wo Wärme ist, kann man die Fenster öffnen, | |
kann man Haut zeigen, Eis essen und baden gehen. Wo Wärme ist, ist Liebe, | |
ist Sinnlichkeit. Wo Wärme ist, ist weniger Depression. | |
Anders als im Fall der Kälte, die für schöne Illusionen nicht taugt, gibt | |
es das bei Wärme schon. Wärme ist mit Begehren verbunden. Es gibt eine | |
Sehnsucht nach Wärme, nach Aufgehobensein. Mutterwärme ist das Ideal, nicht | |
Mutterkälte. So spielt Wärme nicht nur ins Physische sondern auch ins | |
Psychische hinein. Weil Wärme guttut, klingt Klimaerwärmung nicht schlimm. | |
Dass in den letzten Sommern aus Wärme Hitze wurde, es eigentlich | |
Klimaerhitzung heißen müsste – noch ist das schnell wieder vergessen. „Gu… | |
Nachrichten“, heißt es in den Wettervorhersagen, wenn es nicht regnet – | |
auch wenn die Bäume vertrocknen. Dass Hitze das Denken beeinträchtigt, wie | |
eine Studie, die auf der Non-profit-Wissenschaftsplattform plos.org | |
veröffentlicht wurde, bestätigt, wird nicht als Warnung verstanden. Und | |
regnet es endlich, so wie jetzt, heißt es „Scheißwetter, ich krieg | |
schlechte Laune“. | |
Und dann? | |
Dann kommt noch einmal die Fiktion ins Spiel: | |
Das Buch, in dem das ganze Land verbrannt ist, in dem es keine Bäume mehr | |
gibt, kaum mehr Vegetation gibt, in dem alles schwarz und verkohlt ist, das | |
gibt es auch schon. Es heißt: „Die Straße“. Cormac McCarthy ist der Autor. | |
2007 ist es erschienen. | |
Ein Vater zieht mit seinem Sohn durch das von einer nicht näher | |
beschriebenen Katastrophe zerstörte Amerika in Richtung Küste. Fast alle | |
Tiere und fast alle Pflanzen sind tot, nur einmal treffen die beiden auf | |
einen hungrigen Hund. Die Überlebenden ziehen in Gruppen durchs Land, auf | |
der Suche nach Konserven und altem Essbaren. Sie bekämpfen sich | |
gegenseitig, manche essen auch Menschen. | |
Der Vater versucht, dem Kind in dieser schlimmen Umgebung den Glauben an | |
das Gute zu erhalten. Ob es ihm gelingt, bleibt offen. | |
Über eines aber gibt es im Roman keinen Zweifel: Selbst wenn Hitze alles | |
verbrannt hat, am Ende herrscht auch da nur wieder nichts als Kälte. Asche | |
verdunkelt den Himmel, die Menschen frieren. | |
6 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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