| # taz.de -- Parlamentswahl in Österreich: Sebastian Kurz, der Austro-Messias | |
| > Altkanzler Sebastian Kurz wird voraussichtlich nach der Wahl am Sonntag | |
| > wieder Regierungschef werden. Wie hat das der ÖVP-Chef geschafft? | |
| Bild: Altkanzler und wohl bald wieder Regierungschef: Sebastian Kurz von der Ö… | |
| Wien taz | Ein Einkaufszentrum am westlichen Rande von Wien. Vier Reihen | |
| mit Klappsesseln stehen vor einer kleinen Tribüne. Auf ihr gibt eine | |
| Blaskapelle verjazzte Schlager aus der guten alten Zeit zum Besten: „Am | |
| Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehn …“ Vor der Bühne verteilen | |
| junge Leute in türkisfarbenen T-Shirts Rosen mit türkisfarbenen Anhängern | |
| oder versuchen, Passanten ein türkisfarbenes Armband anzuknüpfen. An ein | |
| paar Stehtischen genehmigen sich ältere Menschen ein Gläschen Gratis-Wein. | |
| Türkis, das ist die Farbe von [1][Sebastian Kurz’ ÖVP], dem gestürzten | |
| österreichischen Kanzler. Weil seine Regierungskoalition mit der rechten | |
| FPÖ im Mai an der „[2][Ibiza-Affäre“] zerbrach, wählt Österreich am Son… | |
| ein neues Parlament. Und die Kurz-Anhänger dürfen sich freuen. Laut | |
| Umfragen dürfte seine ÖVP mit Abstand stärkste Kraft – und Österreichs | |
| jüngster Altkanzler bald wieder die Regierungsgeschäfte leiten. | |
| „Die Stimmung ist sehr gut, wir sind überall in Wien unterwegs und guter | |
| Dinge, dass es ein gutes Wahlergebnis wird“, sagt dementsprechend Johanna | |
| Sperker, ÖVP-Bezirksrätin im bürgerlichen Bezirk Hietzing. „Wer Kurz will, | |
| muss Kurz wählen“, lautet die ebenso schlichte wie eingängige Botschaft an | |
| das Wahlvolk. Der Kandidat ist das Programm. | |
| Landauf, landab lächelt Kurz von türkisfarbenen Plakaten und verspricht, | |
| die Politik, die durch den Zusammenbruch der Regierung unterbrochen wurde, | |
| fortzusetzen. Der Wahlkampf unter dem Titel „Wir für Kurz“ soll | |
| suggerieren, dass die alte ÖVP zu einer dynamischen Bewegung geworden ist. | |
| Eine Bewegung, die das Parlament nicht aufhalten kann. Schließlich hat eine | |
| Mehrheit im Nationalrat Ende Mai dem Kabinett Kurz das Misstrauen | |
| ausgesprochen – und damit auch dem Kanzler das Amt entzogen. | |
| ## Verachtung fürs Parlament | |
| Ein legitimer Vorgang in einer Demokratie. Kurz’ Wahlkampfteam macht daraus | |
| einen Eingriff in die Souveränität des Volkes: „Das Parlament hat bestimmt, | |
| das Volk wird entscheiden“, lautet ein ÖVP-Slogan. Die Kurz’sche Verachtung | |
| für die Volksvertretung zeigte sich schon, als er noch Kanzler war. | |
| Mitunter spielte er gelangweilt mit seinem Handy, während Oppositionelle | |
| seine Politik kritisierten. Da war es nur konsequent, dass er nach seiner | |
| Abwahl auch sein Nationalratsmandat nicht annahm, sondern sich auf die | |
| Reise durch die Bundesländer begab, um „mit den Menschen“ zu sprechen. | |
| Mit seinen 33 Jahren ist Sebastian Kurz gleichzeitig der jüngste | |
| Spitzenkandidat bei den Nationalratswahlen und der mit der längsten | |
| Regierungserfahrung. 2011 holte ihn der damalige ÖVP-Vizekanzler Michael | |
| Spindelegger als Staatssekretär für Integration in die Regierung. Der junge | |
| Mann, der sein Jurastudium wegen politischer Betätigung schleifen ließ, war | |
| während des Wahlkampfs in Wien 2010 aufgefallen, weil er sich routiniert zu | |
| artikulieren verstand. Seit frühester Jugend rhetorisch geschult, kommt er | |
| fast ohne Ähs und Ahs aus und spricht in eingängigen Sätzen. | |
| Als Chef der Jungen ÖVP (JVP) tourte er damals mit einem schwarzen | |
| „Geilomobil“ durch die Bundeshauptstadt und verteilte Kondome in der – | |
| damaligen – Parteifarbe schwarz. In einer katholisch geprägten Partei, die | |
| sich mit dem Thema Sexualität noch immer schwertut, ist das so ziemlich das | |
| Frechste, was ein Jungpolitiker so machen kann. Dem 25-jährigen | |
| Staatssekretär schlug anfangs Misstrauen vonseiten vieler NGOs entgegen. | |
| Doch siehe da: Kurz setzte Initiativen, gewann erfolgreiche Promis mit | |
| Migrationshintergrund für einen Imagewechsel des Zuwanderers und setzte | |
| sich für eine Erhöhung der dürftigen Entwicklungshilfe ein. | |
| Die Flitterwochen endeten, als Kurz in der folgenden Regierung zum | |
| Außenminister avancierte und bald mit dem Flüchtlingssommer 2015 | |
| konfrontiert war. Mit seinem feinen Gespür für opportune Politik witterte | |
| er die Stimmung im Land und machte die Migrationsabwehr zu seinem Thema. | |
| Ungezählte Male prahlte Kurz damit, er habe die Westbalkanroute quasi im | |
| Alleingang geschlossen. | |
| ## Plötzlich hart beim Thema Migration | |
| Nicht ohne Grund ließ Kurz den Hardliner beim Thema Migration raushängen. | |
| Die ÖVP drohte unter die 20-Prozent-Marke zu rutschen. Umfragekaiser war | |
| monatelang Heinz-Christian Strache mit seiner rechten FPÖ, der das Thema | |
| „Ausländer“ besetzt hatte. Was dann folgte, beschreibt der damalige | |
| Vizekanzler Reinhold Mitterlehner in seiner aktuellen Autobiografie als | |
| „Machtergreifung“ und „Umsturz“ – von und durch Sebastian Kurz. „Ku… | |
| das Grand Design im Mai 2016 schon im Kopf, das er dann im Jahr 2017 auch | |
| umsetzte. Ich sollte für ihn die Koalition aufkündigen und den Schwarzen | |
| Peter nehmen, damit er unbefleckt in Neuwahlen gehen könne.“ So | |
| Mitterlehner in seinem Buch. | |
| Als er abgelehnt habe, sei es zum endgültigen Bruch gekommen. Mitterlehner | |
| schreibt über „Mobbing“ und „Intrigen“ sowie „teilweise frei erfunde… | |
| Geschichten, die über ihn in den Boulevard lanciert worden seien. | |
| Mitterlehner warf jedenfalls im Mai 2017 genervt das Handtuch, und die | |
| Partei hob den jungen Hoffnungsträger auf den Schild. Der ließ sich von der | |
| ÖVP mit weitgehenden Vollmachten und Durchgriffsrechten ausstatten und die | |
| Koalition mit der SPÖ platzen. Oberflächlich verwandelte er die | |
| verknöcherte „schwarze“ Partei in eine hippe „türkise“ Bewegung. Und … | |
| damit Erfolg: In den Umfragen schnellte die ÖVP über Nacht über die | |
| 30-Prozent-Marke. | |
| Der neue Schwung war für viele ein Grund, Kurz zu wählen. Gerade bei jenen | |
| Konservativen, die den rechten Strache verhindern wollten. Dass Kurz die | |
| FPÖ mit in die Regierung holen würde, hätten viele sich nicht erträumt. | |
| Unter dem Hashtag #KonservativeMitAnstand haben viele von ihnen Videos ins | |
| Netz gestellt, auf denen sie ihre Entscheidung begründen, diesmal nicht ÖVP | |
| zu wählen. | |
| „Er ist ein junger Politiker, der den Leuten auch zuhört“, sagt der | |
| 18-jährige Philipp Stadler, der im Einkaufszentrum im Wiener Westen | |
| Freundschaftsbänder verteilt. Deshalb unterstütze er Kurz. Stadler, der im | |
| ersten Semester Wirtschaftsrecht studiert, ist seit drei Jahren bei der JVP | |
| aktiv, die unter Kurz zu einem der wichtigsten Rekrutierungspools für | |
| politisches Personal geworden ist. Auf der eigenen Homepage heißt es, „mit | |
| über 100.000 Mitgliedern“ sei sie „die größte politische Jugendorganisat… | |
| Österreichs“. | |
| ## Plötzlich hippe Bewegung | |
| Der Politologe Anton Pelinka sieht einen entscheidenden Wandel, der sich | |
| unter Kurz vollzogen habe: „Die junge ÖVP war in der Vergangenheit völlig | |
| unbedeutend, Karrieren wurden über den Bauernbund, den Wirtschaftsbund oder | |
| den Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbund gemacht.“ Das sind die | |
| drei wesentlichsten Säulen, auf denen die ÖVP aufgebaut ist. Dass deren | |
| Einfluss jetzt zurückgedrängt wurde, nehmen viele im Partei-Establishment | |
| dem jungen Shooting-Star übel. | |
| Pelinka sieht einen schwelenden Konflikt zwischen der alten „schwarzen“ ÖVP | |
| und der neuen „türkisen“ Partei, die Sebastian Kurz als Bewegung neu | |
| erfunden hat. Kritiker sehen in ihr einen Bejubelungsverein für den jungen | |
| Parteiführer. Auch die Boulevard machte bei dem Personenkult mit: In | |
| manchen Blättern hieß Kurz nur „Basti-Fantasti“. Erst seit dem Ibiza-Video | |
| ist etwas mehr Distanz zu spüren. | |
| Zu den weniger glamourösen Seiten der ÖVP will Philipp Stadler, der junge | |
| Kurz-Fan, nichts sagen, etwa zum problematischen Wunschkoalitionspartner | |
| FPÖ. Berichte über Buchhaltungstricks, die Kosten aus dem Wahlkampfbudget | |
| herausrechnen, hält er für substanzlose Spekulationen. Zeitungsberichte, | |
| die der ÖVP die Tricksereien vorhalten, hat er nicht gelesen: „Davon weiß | |
| ich leider nichts.“ Eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen | |
| Partei findet in der Jungen ÖVP offenbar nicht statt. | |
| ## Markenzeichen Styling | |
| „Sebastian Kurz ist ein begabter Techniker der Macht mit ausgezeichnetem | |
| Beraterstab. Wie Politik im digitalen Medienzeitalter funktioniert, weiß | |
| er“, schreibt der pensionierte Radiojournalist Peter Huemer. Kurz ist | |
| ständig von einer Armada von PR-Beratern umgeben, die keinen Schritt dem | |
| Zufall überlassen. Jedes Händeschütteln, jede neue Aussage werden | |
| dokumentiert und fast in Echtzeit über die sozialen Medien der Fangemeinde | |
| kommuniziert. | |
| Seine Gestik wirkt zwar antrainiert, wie Verhaltensforscher beobachten, und | |
| bei Interviews wirkt er meist angespannt, doch versteht er es, die immer | |
| gleichen Sprechblasen wie „Zuwanderung ins Sozialsystem verhindern“ mit | |
| großer Routine und Überzeugungskraft vorzubringen. | |
| Nach der Elefantenrunde in einem Privatsender erhielt er von den Zuschauern | |
| in fast allen Kategorien die besten Noten, allen voran Kompetenz und | |
| staatsmännisches Auftreten. Anton Pelinka ist gnadenlos in seinem Urteil: | |
| „Er ist ein Meister der Form, ein Retortenpolitiker, perfekt im Styling.“ | |
| Über seine 600-Euro-Rechnung für „Hair Grooming“ – Kurz’ notorischer | |
| Haarpflege – schmunzelt die ganze Republik. | |
| ## Und Kurz' Bilanz? | |
| Johanna Sperker, die ÖVP-Bezirksrätin, sieht das naturgemäß anders. Sie | |
| zählt die Erfolge von 17 Monaten Bundeskanzler Kurz auf: „Reform der | |
| Mindestsicherung, Familienbonus und Deutschförderklassen eingeführt“. So | |
| steht es auch auf den türkisfarbenen Faltblättern, die überall verteilt | |
| werden. Gerade in Wien, wo so viele Kinder zu Hause nicht Deutsch sprechen, | |
| sei es ein wichtiger Fortschritt, dass Schüler zuerst in separaten Klassen | |
| geschult würden bevor sie in ihre Regelklasse zurückdürfen. | |
| Experten sehen das anders, und die Neuerung ist noch zu jung, als dass die | |
| Erfahrungen eine solide Evaluierung erlauben würden. Trotzdem darf die | |
| Reform in keiner Erfolgsbilanz fehlen. | |
| Egal, wie die Wahl am Sonntag ausgeht, eine erneute Koalition mit den | |
| Rechten scheint derzeit kaum vorstellbar. Erst vor wenigen Tagen | |
| bezichtigte Ex-FPÖ-Chef Strache Kurz des Wortbruchs. Für Unmut sorgt auch | |
| ein Bericht der Boulevardzeitung Österreich, nach dem Ex-Innenminister | |
| Herbert Kickl in regelmäßigem Austausch mit den rechtsextremen Identitäten | |
| stand. Kurz hat schon angekündigt, Kickl nicht mehr im Kabinett zu dulden. | |
| Sollte sich der neue FPÖ-Parteichef Norbert Hofer nicht eindeutiger von | |
| Rechtsextremen abgrenzen, sei eine erneute türkis-blaue Koalition | |
| ausgeschlossen. | |
| Sebastian Kurz, der Mann mit dem ausgeprägten Sinn für Opportunismus, weiß: | |
| Auch wenn eine erneute Regierung mit der FPÖ bei 80 Prozent Themendeckung | |
| Sinn machen würde – seinem internationalem Renommee würde das wohl schaden. | |
| 26 Sep 2019 | |
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| Ralf Leonhard | |
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