# taz.de -- Kinoempfehlung für Berlin: Alles war für immer | |
> Momentaufnahmen in einer Zeit der Brüche: das Kino in der Brotfabrik | |
> zeigt noch einmal den filmischen Glücksfall „Berlin Bahnhof | |
> Friedrichstraße 1990“ | |
Bild: „Berlin Bahnhof Friedrichstraße 1990“ | |
„Berlin Bahnhof Friedrichstraße 1990“. Nach fast 30 Jahren als eine der | |
wichtigsten Grenzübergangstellen zwischen Ost- und West-Berlin werden auf | |
dem Bahnhof Friedrichstraße in der ersten Jahreshälfte 1990 die | |
Grenzanlagen abgebaut. Anfang Juli 1990 entfallen nach Inkrafttreten des | |
Staatsvertrags zwischen den beiden deutschen Staaten die Grenzkontrollen. | |
Ein Grenzkontrolleur erklärt die Anforderungen, die eine Passkontrolle | |
stellt. Seine nervöse Unbeholfenheit weicht erst, als er ein Heft aus der | |
Hemdtasche gezückt hat und über Kopf- und Ohrformen und deren Rolle beim | |
Abgleich von Passfoto mit dem Menschen am Schalter referieren kann. | |
Vier Regisseurinnen begleiten den Abbau der Grenzanlagen und porträtieren | |
den Bahnhof Friedrichstraße in einer Umbruchszeit. Schon seit Ende 1989 | |
wurden die Grenztruppen am Bahnhof personell reduziert. Das erste Halbjahr | |
1990 hindurch nehmen die Grenzkontrollen auf dem Weg aus Ost-Berlin nach | |
West-Berlin weiter ab, bis sie schließlich ganz eingestellt werden. | |
Der Grenzturm auf dem Bahnsteig wird erst zum Refugium des Grenzsoldaten, | |
in dem sich dieser vor dem Wandel zurückzieht, bevor auch der Turm mit dem | |
Kran abgetragen wird. Für die Sowjetunion hat der Kulturhistoriker Alexei | |
Yurchak den plötzlichen Wandel mit dem Satz beschrieben: „Alles war für | |
immer, bis es nicht mehr da war.“ | |
Es ist ein Glücksfall, dass das [1][Kino in der Brotfabrik] „Berlin Bahnhof | |
Friedrichstraße 1990“ nach vereinzelten Vorführungen in den letzten Jahren | |
ab diesem Donnerstag eine ganze Woche lang zeigt. | |
Der Film verbindet auf kluge Weise das physische Wiederzusammenwachsen – | |
die Gleise zwischen Ost- und West-Berlin werden wieder verbunden, die Fahrt | |
zwischen den Stadtteilen zum regulären Nahverkehr – mit Gesprächen über die | |
Vorstellungen und Ängste, die die Wiedervereinigung begleiten. Ob sie für | |
ihre Rechte im wiedervereinten Deutschland auf die Straße gehen würden, | |
werden zwei Verkäuferinnen gefragt. Würden sie, vor allem wenn das | |
Abtreibungsrecht der DDR durch das restriktivere der BRD ersetzt würde. | |
„Berlin Bahnhof Friedrichstraße 1990“ ist einer der raren Glücksfälle bei | |
denen die filmische Kooperation zwischen ost- und westdeutschen | |
Filmemacherinnen gelang. Lilly Grote und Konstanze Binder haben an der | |
West-Berliner Deutschen Film- und Fernsehakademie studiert hat, Julia | |
Kunert studierte Mitte der 1970er Jahre Kamera an der Hochschule für Film | |
und Fernsehen der DDR in Babelsberg. Ulrike Herdin kam über eine | |
Beschäftigung mit Filmzensur und die Initiative „Frauen im Kino“ zum Film | |
und arbeitete als Regieassistentin und Produktionsleiterin. | |
Die Gespräche beschränken sich nicht auf deutsch-deutsche Befindlichkeiten. | |
Im Lebensraum Bahnhof treffen Lebenswege aus aller Welt aufeinander. Ein | |
Armenier aus Odessa erzählt von den Beschränkungen der Reisefreiheit, die | |
in der Sowjetunion fortbestehen. Um nach Paris zu reisen, bräuchte er die | |
Einladung eines Franzosen, aber „wo soll ich in Odessa einen Franzosen | |
finden?“. Während ein Mann im Auskunftsschalter mit dem Sprachgewirr | |
kämpft, hält ein paar Gleise weiter der Nachtzug Paris – Moskau. | |
Am Ende müssen die DDR-Grenzer ihre Kontrollhäuschen abbauen. Einer von | |
ihnen schwadroniert davon, er wolle gern weiterhin etwas „mit Menschen“ | |
machen. Die Öffnung der Grenze habe vor allem Drogen gebracht und | |
Rechtsextreme. Den Überfall von Neonazis aus der DDR auf ein Punkkonzert in | |
der Zionskirche im Prenzlauer Berg 1987, der eine Initialzündung für die | |
Gründung von Antifa-Gruppen in der DDR war, scheint es nicht gegeben zu | |
haben. | |
„Berlin Bahnhof Friedrichstraße 1990“ bündelt in den Bildern und Gespräc… | |
des Bahnhofs Momentaufnahmen in einer Zeit der Brüche. Die Gespräche sind | |
von einer raren Offenheit, in einer Zeit in der viele ostdeutsche Stimmen | |
schnell verstummten, als sie mitbekamen, dass viele Filme der Zeit nur auf | |
Tonschnipsel aus waren. | |
Einer der Arbeiter, die abends den Bahnhof fegen, fasst die Zwiespältigkeit | |
der Situation treffend zusammen: „Naja gut, freie Marktwirtschaft. Wollten | |
wir ja im Prinzip irgendwie alle. Müssen wir eben mit leben.“ Der Film ist | |
einer der klügsten, die man zu 30 Jahren deutscher Einheit zu sehen | |
bekommen wird. | |
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
5 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.brotfabrik-berlin.de/kino-programm-aktueller-monat/ | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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