# taz.de -- Die Wahrheit: Heimatlos durch die Nacht | |
> Auch Wirte brauchen mal Urlaub. Wenn dann der Ersatz die Kasse klingeln | |
> lässt, ist es um die Stammgäste rasch geschehen. | |
Ich muss auch mal Urlaub machen“, sagte Petris, Wirt des Café Gum und | |
Grieche. „Seit drei Jahren habe ich das Mittelmeer nicht mehr gesehen, und | |
meine Mama verstößt mich, wenn ich diesen Sommer nicht nach Hause fahre.“ | |
„Alles klar“, sagte ich, „aber wenn du jemanden suchst, der den Laden drei | |
Wochen schmeißt, warum nimmst du nicht Lena?“ Lena war eine seiner | |
Aushilfen, und wir waren alle verliebt in sie – also so, wie alte Knacker | |
in eine junge Studentin verliebt sein können, platonisch halt. „Echt“, | |
sagte Raimund, „ich würde Lena nehmen.“ – „Und drum“, grinste Petris, | |
„nehme ich Marek.“ | |
Marek war die trübste Tasse, die je hinter einem Kneipentresen gestanden | |
hatte. Er war höflich und brav, und nie machte er bei der Kassenabrechnung | |
einen Fehler – anders als Lena, die sich die Zahlen von einer | |
Zufallsgenerator-App übermitteln ließ. Aber er schaffte es, ein Bier auf | |
dem Weg vom Zapfhahn zur Theke handwarm werden zu lassen, und das einzige | |
Thema, über das man mit ihm plaudern konnte, waren frühneuzeitliche | |
Sonderformen ostbaltischer Familienwappen, worüber er seine Doktorarbeit | |
schrieb. | |
„Boah“, seufzte Raimund, „das wird fürchterlich!“ – „Quatsch“, s… | |
„so was wird immer viel weniger schlimm, als man denkt.“ In diesem Fall | |
leider nicht. | |
## Kürbisbowle mit ganzen Früchten | |
Der Bierhahn war schon am ersten Abend versiegt. „Die blöde Ding streikt, | |
keine Ahnung, warum“, sagte Marek, „aber meine Freunde haben Bowle | |
gemacht!“ Er zeigte auf einen Glasballon und zwei lächelnde Jungs, die so | |
aussahen, als ob sie ebenfalls alles über ostbaltische Familienwappen | |
wüssten. Dann schob er eine CD in den Player, und zum ersten Mal seit | |
Menschengedenken hörte man im Gum nichts von Pearl Jam oder Eels, sondern | |
„[1][Griechischer Wein]“ von Udo Jürgens. | |
Der Bierhahn blieb trocken, die Musik wurde lauter. Am nächsten Abend | |
hörten wir schon von draußen Helene Fischer atemlos durch die Nacht | |
stampfen, und drinnen hopste eine Polonaise herum – angeführt von Rudi, dem | |
Blödmann, der selig grinste. | |
Wir suchten woanders Unterschlupf. Doch im Prokopop Z blickten uns zwei | |
Stammgäste mit diesem „In dieser Kneipe ist kein Platz für uns vier“-Blick | |
an, und in der Bar Centrale fühlten wir uns so fremd wie zwei Aliens auf | |
einer Tupperparty. „Warum ist das so?“, fragte ich, als wir schließlich auf | |
einer Mauer neben Gerbers Kiosk saßen und Dosenbier tranken: „Eigentlich | |
gehen wir doch gerne noch woanders hin, wenn Petris früh Feierabend macht.“ | |
Doch Raimund zuckte die Schultern und sagte: „Drei Wochen Dosenbier – wir | |
müssen das irgendwie durchhalten.“ | |
Als Petris zurück war, stürmten wir aufgeregt ins Gum: „Wie war’s?“ – | |
„Prächtig“, sagte er, „genauso wie hier.“ Wir stutzten, doch als wir s… | |
dass Rudi, der Blödmann, immer noch selig grinste, und Petris einen | |
zärtlichen Blick auf sein Kassenbuch warf, wurde uns kalt ums Herz. Er | |
meinte es ernst. | |
20 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=0EhBx-DCW7s | |
## AUTOREN | |
Joachim Schulz | |
## TAGS | |
Udo Jürgens | |
Stammkneipe | |
Urlaub | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Déjà-vu | |
Grünkohl | |
Stricken | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Frösche for future | |
Als alter Sack bei den Klimademonstrationen der jungen Leute | |
mitmarschieren? Besser nicht! Die bewerfen einen doch nur mit „Coffee to | |
go“-Bechern. | |
Die Wahrheit: Déjà-vu vor Sankt Eulalia | |
Ein dunkel gekleideter Herr und eine blonde Dame vor einem Brunnen – | |
eindeutig Vorzeichen für ein schreckliches Geschehen. | |
Die Wahrheit: Kohlkaisers Erbe | |
Mitten im Hochsommer Grünkohl zu essen, ist äußerst ungewöhnlich und lässt | |
sich nur mit einer unbändigen Portion perverser Heimatliebe erklären. | |
Die Wahrheit: Kartoffelsäcke für Männer | |
Der Terror aus den Achtzigern kehrt zurück: Wir sagen nur, zwei links, zwei | |
rechts, zwei fallenlassen. Comeback der alten Masche. |