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# taz.de -- Neuer Roman von Jáchym Topol: Drang zum Aufbegehren
> In „Ein empfindsamer Mensch“ schickt Topol eine eigentümliche
> Rumpffamilie auf eine Odyssee durch die tschechische
> Kleinbürgergesellschaft.
Bild: Jáchym Topol, geboren 1962, unterzeichnete als Jugendlicher die Charta 77
Der Junge sagt auf fast 500 Seiten kein einziges Wort. Doch wenn es
überhaupt eine Hauptperson gibt in Jáchym Topols neuem Roman, so ist er
es. Vermutlich ist er auch der „empfindsame Mensch“, der dem Ganzen seinen
Titel gegeben hat.
Der Junge ist Teil einer eigentümlichen kleinen Familie, bestehend aus
einem nicht mehr ganz jungen Vater, der von sich selbst sagt: „Bis zu
meinem Tod bleib ich Tschechoslowake, aber meine Kinder sind nur noch
Tschechen“, einer sehr jungen Mutter, die erst nach der Samtenen Revolution
von 1989 geboren wurde, dem Jungen selbst, der durchgehend nicht nur
sprach-, sondern auch namen- und alterslos bleibt, und einem kleinen
Bruder.
Eigentlich ist dieses Brüderchen sein Zwilling, doch so zurückgeblieben,
dass es immer noch nur Babygröße hat – abgesehen von seinem
Geschlechtsorgan, dem einzigen Körperteil, das sich normal entwickelt. Als
fahrendes Schauspielerpaar ziehen Vater und Mutter mit den Kindern im
Schlepptau durch Europa und schlagen sich mit Auftritten durch.
Doch die Zeiten sind härter geworden; sie sind immer weniger willkommen,
werden vertrieben und treten eine abenteuerliche Heimreise an, wobei ein
überraschend auftauchender verschollener Bruder des Vaters eine Rolle
spielt, der vor Jahren in die Sowjetunion ausgewandert ist und nun
zurückkehrt, um als Russenmafioso die alte Heimat aufzumischen.
## Ein Brotkrumenpfad durch die literarische Landschaft
Einen Roman von Jáchym Topol angemessen nachzuerzählen ist schwer. Nicht,
weil es keinen Handlungsfaden gäbe, denn der ist auch hier durchaus
vorhanden. Aber er fungiert lediglich als prekärer Brotkrumenpfad durch
eine literarische Landschaft voller Untiefen, schroffer Abgründe und
phantasmagorischer Nebelfelder.
Topol ist ursprünglich Lyriker. Der Brotkrumenstruktur nach ist „Ein
empfindsamer Mensch“ eine Art metaphorisches Roadmovie in Prosa oder auch
ein Stationendrama. Denn die gehetzte Reise der Familie setzt sich auch in
der alten böhmischen Heimat, in der Gegend um den Fluss Sázava, fort. Kaum
angekommen beim heruntergekommenen alten Großvater, stirbt dieser. Die
Mutter verlieren sie bei einem ungeklärten Zwischenfall im örtlichen
Krankenhaus; und weil der Vater im Affekt eine Polizistin über ein
Brückengeländer schleudert, ist er nun erst recht auf der Flucht.
Sie verlieren Hab und Gut an die örtlichen Mafiosi, fliehen in
Frauenkleidern, entkommen um ein Haar einer aggressiven Motorradgang,
treffen etliche nette Prostituierte, eine Wassermann-ähnliche Figur und
andere fragwürdige Gestalten. Das Ganze hat stark episodischen Charakter.
Jáchym Topol, 1962 geboren, gehört zu einer Generation, in der man alt
genug ist, um bereits in der Tschechoslowakei Dissident gewesen zu sein
(tatsächlich unterzeichnete er, der Sohn eines bekannten Dramatikers, als
Jugendlicher die Charta 77). Das prägt. Der Drang zum Aufbegehren gegen
verkrustete Strukturen, gegen die Engstirnigkeit einer Spießergesellschaft,
ist spürbar noch immer die treibende Kraft hinter Topols Schreiben.
Die Protagonisten dieses neuen Buches, der Künstlervater mit seinen kleinen
stummen Söhnen, sind Außenseiter in einer Gesellschaft, die hier
andererseits ziemlich links liegen gelassen wird, da der Roman ohnehin nur
an ihren Elendsrändern spielt.
## Schneisen der Verwüstung
Von dort aus schlägt er gezielte Schneisen der Verwüstung in Richtung der
gesellschaftlichen Mitte – etwa unter Zuhilfenahme eines umstürzenden
Maibaums, der die tschechische Dorfidylle jäh in ein todbringendes Inferno
verwandelt, oder in Gestalt von Vater und Sohn, die auf ihrer wilden Flucht
eine Kleingartenkolonie verwüsten. Die Rache der Kleingärtner folgt
allerdings auf dem Fuße und hat den Tod eines surrealen tragischen
Charakters namens „Schuppe“ zur Folge, der zwar Mensch ist, den man sich
aber unweigerlich als Wassermann vorstellt – eine in der tschechischen
Volksmythologie (und nicht zuletzt im Film) häufig auftauchende Figur.
Topol reißt zahllose kulturelle Bezüge an. Er zeichnet in diesem Roman kein
Abbild des realen Böhmens. Vielmehr schickt er seine kleine männliche
Rumpffamilie auf eine Odyssee durch ein schräges Wunderland voller Zeichen
und Zitate.
Dabei blitzt durch das karnevaleske Treiben immer wieder ein Stück
gesellschaftliche Realität auf. Auch Tschechiens Präsident Miloš Zeman hat
einen Auftritt – als Gesprächspartner einer Klofrau, mit der er einen
absurden ausländerfeindlichen Dialog führt.
Im eigensinnigen Bramarbasieren der Romanfiguren spiegelt sich, grotesk
verzerrt, die Engstirnigkeit und der kalte Egozentrismus einer ganzen
Gesellschaft.
An sich mögen die Zeiten sich geändert haben. Das politische System ist ein
anderes, aber die Menschen sind sich auf ihre Weise treu geblieben. Man
könnte daran verzweifeln, wenn man sich nicht entscheidet, vor allem das
Groteske darin zu sehen. So traurig das einerseits sein mag, ist es doch
andererseits toll für die Literatur.
18 Jul 2019
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
taz.gazete
Jáchym Topol
Roman
Tschechien
Eisenbahn
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