# taz.de -- Mut zum Klischee-Tourismus: Rollkoffer sind geil | |
> Schön über's Kopfsteinpflaster rattern: In Städten ist es eh laut, da | |
> stört das nicht. Und auf Backpacker-Nackenschmerzen kann ich verzichten. | |
Bild: Krrrrrrrrrr: Dieses schöne Kopfsteinpflaster in Rom wartet doch nur dara… | |
Es war im letzten Sommer. Wir kamen gerade aus dem Urlaub zurück und bogen | |
in unsere Straße ein, mit Sand in den Schuhen und Salz in den Haaren, als | |
uns eine Männerstimme aus einem der oberen Stockwerke jäh zurück in die | |
Gegenwart katapultierte: [1][„Scheiß-Touristen!“] | |
Mein Freund behauptet, der Mann habe „Scheiß-Rollkoffer!“ gerufen, aber | |
eigentlich ist es auch egal, denn die beiden Wörter sind seit Jahren so eng | |
miteinander verbunden, dass es ein Wunder ist, dass sie im Duden noch nicht | |
als Synonym aufgeführt werden. | |
Der Rollkoffer ist das Hassobjekt deutscher Großstädter. Er hat die Sphären | |
seiner ursprünglichen Bedeutung eines Transporthilfsmittels längst | |
verlassen, er ziert Titelseiten zur Ausbeutung Beschäftigter in der | |
Tourismusindustrie und Berliner Hauswände [2][(„No more Rollkoffer!“)], er | |
ist Symbol für billige Fluglinien, elitäres Businessgehabe und eben vor | |
allem: für nervige Touristen. | |
## Ja, Touristen nerven. | |
Touristen sind immer besoffen, Touristen stehen links auf der Rolltreppe | |
oder mit einer Faltkarte mitten auf dem Gehweg, Touristen blockieren mit | |
Segways die Fahrradspur, Touristen betrinken sich auf Bierbikes, Touristen | |
haben nachts Angst in der U-Bahn, Touristen tragen Funktionskleidung, | |
Selfiesticks und das Smartphone an einer Kordel um den Hals, und sie | |
rattern mit Rollkoffern frühmorgens über Kopfsteinpflaster, um ihren | |
Flieger zu erreichen. | |
Einerseits. | |
Andererseits sind wir alle Touristen, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Und wenn | |
wir in einer fremden Stadt trotzdem freundlich behandelt werden, vielleicht | |
sogar ungefragt Hilfe angeboten bekommen, weil wir planlos in der Gegend | |
stehen, dann schwärmen wir später von der Gastfreundschaft und der Wärme in | |
diesem Land. Daran könnte man sich durchaus ein Beispiel nehmen, wäre man | |
nicht so stolz auf die eigene Arroganz und hätte die Stadt am liebsten für | |
sich allein. | |
Und was die tatsächlich unselige Kombination von Rollkoffern und | |
Kopfsteinpflaster betrifft: Lärm gehört zu einer Großstadt nun mal dazu, ob | |
man will oder nicht. Dazu muss man nicht in der Einflugschneise wohnen oder | |
einen Schrebergarten neben den Bahnschienen haben, es reicht eine ganz | |
normale Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, vor allem im Sommer bei | |
geöffneten Fenstern. | |
Je nachdem, ob man zur Straße hin oder im Seitenflügel wohnt, hört man die | |
unterschiedlichsten Dinge – im Hof hat man mehr von den Nachbarn, vorne | |
mehr von der Straße, aber ruhig ist es so gut wie nie. | |
Da ist der Dreijährige, der „Lüü-lüü-lüü“ rufend zwei Stunden auf se… | |
Dreirad um den Sandkasten fährt. Die Nachbarin, die morgens um 6 eine | |
einzelne Weinflasche in den Altglascontainer wirft. Der Junkie, der laut | |
pöbelnd durch die Straßen zieht. Der Hund, der jeden Tag eine Stunde lang | |
bellt und jault, weil seine Besitzer ohne ihn das Haus verlassen haben. | |
Die Nachbarin, die von morgens bis abends pfeift. Der Müllmann, der mit | |
klapperndem Schlüsselbund jede Eingangstür der Straße aufsperrt. Das | |
Pärchen, das regelmäßig um 3 Uhr nachts sehr ausführlich Sex hat. Und der | |
Vater, der seinem Kind durch die Wohnung zuruft: „Ich kann jetzt nicht, ich | |
sitze auf dem Klo!“ | |
## Mit einem Wanderrucksack verrenkt man sich den Nacken | |
Irgendwoher ist es immer laut in der Stadt, und oft ist das schön und | |
lustig und schult in Toleranz. Und manchmal nervt es kolossal. Aber das | |
Rattern der Rollkofferräder transportiert wenigstens nicht nur | |
Straßendreck, sondern auch einen Moment der Verheißung – auf den nächsten | |
Urlaub, den nächsten Besuch der Fernbeziehung oder zumindest das nächste | |
Feierabendbier. Mal abgesehen davon gibt es zu dem Rollkoffer keine | |
vernünftige Alternative. | |
Vor ein paar Jahren habe ich mir eine Reisetasche zugelegt, ein edles Teil | |
aus braunem Leder, und sah mich schon wehenden Haares aufregende | |
Wochenendtrips in fremde Städte unternehmen. In der Realität verursacht das | |
wechselseitige Tragen einer Reisetasche, die mit Kleidern, Kosmetikbeutel, | |
Büchern und Laptop gefüllt ist, im besten Fall einen Muskelkater, im | |
schlimmsten Fall eine Sehnenscheidenentzündung. | |
Und den verrenkten Nacken, nachdem ich als Jugendliche eine Woche in | |
Südfrankreich zelten war, habe ich dem Backpackerrucksack bis heute nicht | |
verziehen. | |
## Regt euch über andere Dinge auf | |
Der Rollkoffer hingegen ist wahnsinnig praktisch: Er spart Kraft, | |
Arztkosten und Nerven. Wird es unterwegs zu warm, hängt man den Mantel über | |
den Ausziehgriff und hat immer noch eine Hand frei. Auf dem aufrecht | |
stehenden Koffer ist Platz genug für Rucksack oder Handtasche (oder die | |
Tüte mit dem Reiseproviant), sodass man beim Warten nicht in Verlegenheit | |
kommt, irgendetwas auf den Boden legen zu müssen. | |
Oder man setzt sich einfach selbst obendrauf, wenn der Zug Verspätung hat. | |
Und außerdem: Wir fahren Auto, Fahrrad, Skateboard und E-Roller, aber der | |
Koffer darf um Himmels willen den Boden nicht berühren? | |
Anstatt Rollkoffer zu verteufeln, könnte man seinen Hass auch auf jene | |
richten, die es verdienen: Menschen, die ihren Müll auf der Wiese im Park | |
liegen lassen, obwohl genügend Mülleimer vorhanden sind. Taxifahrer, die | |
viel zu schnell durch Fahrradstraßen rasen. Oder Passanten, die im Gehen | |
mal eben den Kopf zur Seite drehen und auf die Straße kotzen. | |
Und man könnte sich freuen, dass trotz alledem immer noch Leute Lust haben, | |
die Stadt zu besuchen. Ja, genau – [3][die bösen Touristen.] | |
13 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Lonely-Planet-Tipps-fuer-Berlin-Touristen/!5543741 | |
[2] https://www.notesofberlin.com/no-more-rollkoffer/ | |
[3] /Reisen-in-Zeiten-des-Klimawandels/!5603259 | |
## AUTOREN | |
Franziska Seyboldt | |
## TAGS | |
Tourismus | |
Städtereisen | |
Berlin-Style | |
E-Roller | |
Protest | |
Tourismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Zehen intelligent ankoffern | |
Nach den E-Rollern kommen jetzt die Troll-E. Selbstfahrende Koffer sind die | |
baldige Zukunft des Reisens. Besuch auf einem Testgelände. | |
Aktivist über Kreuzfahrt-Protestaktionen: „Den Wahnsinn klarmachen“ | |
Drei Kreuzfahrtschiffe liegen am Wochenende in Kiel. Dagegen regt sich | |
Protest: Ein kreuzfahrtkritisches Bündnis möchte mit Passagieren sprechen. | |
Ryanair, Booking.com und die Reisebranche: Der Flugbegleiter als Störfaktor | |
Der Reisemarkt boomt. Doch viele Beschäftigte haben davon wenig. | |
Gewerkschaften und Betriebsräte gelten in vielen Firmen als störend. |