# taz.de -- Über die Sehnsucht nach Bitterorangen: Bitter ist Gold | |
> Als das kleine Café nicht mehr da war, wurde Chinotto-Limonade zum | |
> Gaumenphantasma. Unsere Autorin begibt sich auf die Suche. | |
Bild: Eine Frucht wie ein Bernstein: die Chinotto | |
Wäre sie Goldschmiedin und nicht Gastronomin gewesen, sie hätte ihr | |
Chinotto auf einer Samtunterlage ausgelegt. Denn in ihrem kleinen Café ist | |
Chinotto der Bernstein unter den Getränken. Den zelebriert sie wie etwas, | |
das schon lange vor uns existierte. Mit einer zeitlupenartigen Bewegung, | |
die manchen Goldschmiedinnen eigen ist, wenn sie ein Schmuckstück aus der | |
Auslage holen und zeigen, hatte auch sie die Limonade dargeboten. Weich ihr | |
Körperhaltung, die Knie leicht gebeugt, nicht kontrolliert und auf eine | |
stolze Art demütig, so wie Kellner gern gute Weine servieren. | |
Sie ist keine Überzeugungstäterin, sie drängt niemandem etwas auf, aber wer | |
danach fragt, bekommt das Beste. Bio und direkt aus Italien. „Neontoaster“ | |
hieß ihr Café mit angeschlossenem Laden in Berlin, gleich bei mir um die | |
Ecke. Sie brachte italienische Lebensfreude mit nachhaltigem Appeal in die | |
Nachbarschaft. Alles handgemacht, alles köstlich, alles „Slow Food“. Aber | |
dann schlossen sie und ihr Lebensgefährte den Neontoaster. Das Heimweh nach | |
Italien war zu groß. | |
Von da an wurde Chinotto zu meinem Gaumenphantasma. Hatte ich es je | |
getrunken? Hatte ich je diese süße Bitterkeit mit einem Hauch Orange perlig | |
auf der Zunge gespürt? | |
Chinotto ist auch der Name einer Bitterorangensorte, die in Ligurien | |
angebaut wird. Kernlos ist sie. Das spielt noch eine Rolle in diesem | |
kleinen Text, in dem ich auf der Suche bin nach etwas Verlorenem. Der Name | |
der Frucht verrät ihre ursprünglich chinesische Herkunft, ihr Saft ist | |
unter anderem in Campari enthalten – und in Limonaden. | |
## Verdrängt von Coca-Cola | |
Früher war die natürliche Chinotto-Limo in Italien die Gegenspielerin von | |
Coca-Cola. Doch irgendwann hatte Coca-Cola auch dort den Geschmackssinn der | |
Limonadensüchtigen verdorben – mit seinem Zuckerwasser mit H3PO4 | |
(Phosphorsäure), H2CO3 (Kohlensäure), E150d (Zuckerkulör), Koffein und ein | |
paar Pflanzenauszügen, ob echt oder synthetisch bleibt das Geheimnis des | |
Herstellers. Chinotto aber verlor an Boden. | |
Neuerdings indes kämpft sich das Getränk wieder zurück. Aber Achtung: Es | |
gibt die Limonade verbreitet im Chemieverschnitt, ich will sie hingegen in | |
Bioqualität von Lurisia. Genau so, wie einst im Neontoaster. Bei Amazon | |
könnte ich sie bestellen, aber bei Amazon bestelle ich nichts. Der | |
Monopolist zahlt kaum Steuern, schlechte Löhne dagegen schon. | |
Ergebnis dieses Konsumverhaltens: Mein Gaumenphantasma blieb. Bis ich die | |
genossenschaftlich organisierte Orangenkampagne fand. Einen | |
solidarisch-ökonomischen Kanal, auf dem Orangen, Bitterorangen, Süßorangen, | |
Saftorangen, Zitronen, Pistazien – und wenn es die Saison hergibt, auch | |
Cherimoya, eine andere Sehnsuchtsfrucht, die entfernt an Birne erinnert – | |
aus Sizilien nach Berlin gebracht werden. Direkt von der Kooperative. | |
„Solidarische Ökonomie“ ist eine super Idee. Es ist wie schwarz und weiß, | |
wie kalt und heiß, wie wir und ihr verschmolzen. Aber wie, dachte ich | |
bisher, wie kriegt man das von der Metaebene weg, von der Plattform, auf | |
der Theorie groß geschrieben ist, Appelle laut sind und Schlagwörter | |
griffig? Wie wird das konkret, dass Solidarität und Ökonomie eins werden? | |
## Vom Handel im Kleinen | |
Wer die großen Worte kleiner denkt, kommt weiter. Solidarische Ökonomie | |
nicht als Grundlage staatlichen Handelns (wer darauf wartet, setzt | |
Schimmel an), sondern des lokalen. Da hat sich einiges getan, das | |
solidarischem Wirtschaften nahekommt, nicht nur auf Wochenmärkten. Es gibt | |
etwa die SoliOli-Kampagne (für Olivenöl aus Griechenland), die Teekampagne | |
(seit 1985), die Reiskampagne und etliche andere, die nachhaltig und fair | |
Produzenten und Konsumenten verzahnen. Gemüsekistenabonnements gehören | |
ebenfalls dazu. | |
Und nun entdeckte ich also die Orangenkampagne. Allerdings zu einem | |
Zeitpunkt im späten Frühjahr, als die Saison für Orangen schon fast vorbei | |
war. Es gab noch Blutorangen, sie waren für Saft. Bitterorangen standen | |
zudem auf der Bestellliste – wenn auch nicht aus Ligurien und auch nicht | |
kernlos. | |
Bitterorangen – mein Chinottofenster öffnete sich. Da ging ich auf Risiko | |
und kaufte ein Gebinde. Sieben Kilo sind das. Weniger geht nicht. Wer | |
meint, das klinge nach wenig, der irrt. Es bedeutet, sieben Abende sich mit | |
Bitterorangen zu beschäftigen und sie irgendwie zu konservieren. | |
Also koche ich ein. Bitterorangenmarmelade, diese Verschmelzung von | |
süß-bitter und herb-fruchtig mag nicht die Sache jedes Menschen sein, meine | |
schon. Nur, wie macht man die? Im Internet kursieren Rezepte, ausprobieren | |
ist das Gebot. Orangen, Wasser, Zucker – damit lässt sich was machen. | |
Anstatt die Masse zwei Stunden köcheln zu lassen, habe ich sie immer wieder | |
aufgekocht und ziehen lassen. Einen Tag lang – hatte ich abends keine Lust, | |
eine neue Runde Orangenverarbeitung zu tätigen, auch einen zweiten. | |
## Eine Marmelade, die innerlich reinigt | |
Es hat funktioniert. Die Marmelade ist der Hit. Ich habe unendlich viel | |
davon gegessen, und da man Orangenöl aus der Schale auch zum Putzen | |
verwendet, fühle ich mich innerlich gereinigt. Nur eines ist bisher nicht | |
in Erfüllung gegangen: Chinotto. | |
Dafür habe ich an manchen Abenden etwas, das ich Bitterorangensirup nenne, | |
hergestellt: ein Kilo Bitterorangen, ein Kilo Zucker, zwei Liter Wasser, | |
zwei in Scheiben geschnittene Zitronen dazu. Alles über zwei Tage ziehen | |
lassen und immer mal wieder aufkochen. Die Kerne machen den Saft sämig. Ich | |
besitze jetzt mehrere Flaschen dieses etwas schleimigen Sirups. Chinotto | |
ist es nicht, es hat auch nicht dessen Farbe, da kein Zuckerkulör drin ist. | |
Zitronensäure auf natürlicher Basis, die ich im Bioladen bekam, habe ich | |
allerdings hineingetan. Zitronensäure klingt so rein, ist aber in der Regel | |
synthetisch. | |
Gemischt mit Mineralwasser wird mein Bitterorangensirup zu einem | |
Sommergetränk. Es hat diese geschmackliche Zweiheit, die an Menschen | |
erinnert, die gleichzeitig verzaubern und einem das Herz schwer machen – | |
bittersüß, bittersweet. | |
Was dabei untergeht: Das eine wäre ohne das andere nichts. | |
30 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
## TAGS | |
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