| # taz.de -- Herr M. wohnt hier nicht mehr: Auf Wiedersehen, Herr Nachbar! | |
| > Wenn ein langjähriger und hochbetagter Mitbewohner aus dem Mietshaus aus | |
| > gesundheitlichen Gründen ausziehen muss, ist das vor allem traurig. | |
| Bild: Vom Pflegeheim aus kann man den Fernsehturm am Alex sehen, kommt aber auf… | |
| Herrn M. kenne ich seit 20 Jahren, seitdem wir Nachbarn sind. Ich bin 1999 | |
| ins Vorderhaus eines Gründerzeitbaus gezogen, der in Friedrichshain direkt | |
| vis-à-vis des ehemaligen Schlachthofs liegt. Herr M. wohnte im | |
| Seitenflügel. Seit einigen Wochen wohnt er aber nicht mehr bei uns im Haus. | |
| Er musste ausziehen. Normalerweise bekommt man Auszüge ja nur dann mit, | |
| wenn man per Zufall einen Umzugswagen sieht. Diesmal war es anders. | |
| Vor ein paar Wochen klebte ein Zettel im Hausflur. Eine junge Nachbarin | |
| hatte sich mit einem Schreiben an uns MitmieterInnen gewandt: Herr M. | |
| musste „aus gesundheitlichen Gründen leider in ein Seniorenheim ziehen“ und | |
| „vermisst unser Haus und seinen Kiez sehr“. Er habe bald seinen 80. | |
| Geburtstag und vielleicht habe ja jemand Lust, ihm einen Glückwunsch | |
| aufzuschreiben – den würde sie ihm dann einfach vorlesen. Außerdem hätte | |
| sie die Adresse des Heimes für etwaige Besuche. | |
| Das rührte mich; ich wollte beides. Denn ich mochte Herrn M. und hatte die | |
| Jahre über immer mal wieder kurz mit ihm geplauscht. Sehen konnte man ihn | |
| oft und fast überall im Kiez. Herr M. war alles andere als ein | |
| Stubenhocker. Er hat mir mal erzählt, dass er sich fit hält, indem er | |
| mehrfach am Tag draußen seine Runden dreht und dabei mit den Leuten, die | |
| dafür Zeit haben, ein Schwätzchen hält. | |
| ## Herr M. vermisst sein altes Haus | |
| Wir sprachen über dies und das, oft übers Wetter oder das Haus, in dem wir | |
| beide wohnten. Auf meiner Geburtstagskarte schrieb ich dann auch, dass ich | |
| unsere kleinen Gespräche „über Gott und die Welt so zwischen Tür und Angel… | |
| vermisse. Und das war ehrlich gemeint. Ich war betroffen, dass Herr M. sein | |
| gewohntes Umfeld hatte verlassen müssen. Natürlich hatte ich die letzte | |
| Zeit mitbekommen, dass es ihm schlechter ging und er nicht mehr gut zu Fuß | |
| war beziehungsweise mit seinen Augen etwas nicht stimmen konnte. | |
| Freundliche Nachbarn haben sich da schon längst um ihn gekümmert. | |
| Ich hab Herrn M. am Montag nun endlich in seinem neuen Zuhause besucht. Es | |
| handelt sich um ein Pflegeheim in Friedrichshain, nicht weit von seinem | |
| alten (meinem) Kiez entfernt. Er hat sich gefreut und viel erzählt von | |
| heute und früher und auch, wie es ihm geht: Man müsse sich eben abfinden | |
| mit der neuen Situation, sagte er und wirkte etwas traurig dabei. Er | |
| vermisst sein altes Haus, in dem er, wie ich nun weiß, 37 Jahre lang | |
| gewohnt hat, seine Nachbarn, die Menschen im Kiez, die er kannte, die ihn | |
| kannten. | |
| Mich hat der Besuch wehmütig gestimmt. Ich hatte Herrn M. eine Packung | |
| Zwieback mitgebracht, den mag er sehr, hatte mir die Nachbarin erzählt, und | |
| Zeit zum Zuhören. | |
| 30 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hergeth | |
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