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# taz.de -- Filmtipp für Berlin: Rätselhafte Bilderwelten
> Lange Einstellungen, Laiendarsteller, prägnante Musik : Werkschau des
> mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas im Kino Arsenal.
Bild: Atemberaubend: der Tagesanbruch als Eröffnungssequenz von „Stellet Lic…
Ein Mann verlässt die Stadt, begibt sich in die Einöde, um sich dort
umbringen zu wollen. Das ist die Geschichte, die Carlos Reygadas in seinem
Debütfilm „Japón“ erzählt. Der Film kam 2002 in die Kinos, Reygadas war
damals gerade einmal 30 Jahre alt, ein junger Nachwuchsregisseur. Um so
bemerkenswerter ist es, wie er es in dem Alter schaffte, sich in die
Depressionen eines alternden Mannes hineinzuversetzen, der für sich erkannt
hat, dass ihn nichts mehr in seinem Leben hält.
Reygadas wurde gleich mit seinem Erstling als neues Wunderkind des
mexikanischen Kinos gefeiert, „Japón“ erhielt euphorische Kritiken, wurde
auf Festivals ausgezeichnet, ist längst ein Klassiker des modernen
Arthouse-Kinos. Der Regisseur führte in dem Film bereits die Stilmittel
ein, denen er in seinen gerade mal insgesamt fünf Filmen, die bis heute
entstanden sind und die allesamt in einer Retrospektive im Kino Arsenal zu
sehen sind, treu geblieben ist.
Lange Einstellungen, Laienschauspieler, überaus prägnanter Einsatz von
Musik und überall lassen sich Symbole, Metaphern und Rätsel finden, das ist
typisch für Reygadas. Und warum genau heißt der Film „Japón“, also Japan?
Man erfährt es nicht.
## Tarkowskij, Bresson, Pasolini
Reygadas hat immer wieder auf den Einfluss des russischen Regisseurs Andrej
Tarkowskij auf sein eigenes Werk hingewiesen. Und tatsächlich muss man bei
der zerklüfteten, irreal wirkenden Landschaft, die in „Japón“ gezeigt wir…
unweigerlich an die postapokalyptischen Räume denken, die in Tarkowskijs
„Stalker“ durchmessen werden. Weitere Referenzen sind sicherlich Robert
Bresson, der italienische Neorealismus und immer wieder Pier Paolo
Pasolini. Die europäische Filmtradition hat im Mexikaner Reygadas einen
ihrer eindrucksvollsten Adepten gefunden.
Schuld, Scham, Gewalt, Sex, all das wirbelt der Regisseur durcheinander, in
einem stark assoziativen Stil. Man weiß in seinen Filmen nie, was als
Nächstes passiert. Vor allem in seinem zweiten Film, „Battle in Heaven“,
der Reygadas schlagartig vom Kritikerliebling in einen sogenannten
umstrittenen Regisseur verwandelte.
Da sieht man etwa ewig lange Einstellungen eines im TV übertragenen
Fußballspiels, dazu läuft hypnotische Blasmusik und gleich danach erblickt
man den Wachmann Carlos, dessen Geschichte erzählt wird und der auf dem
Sofa zu den Fernsehbildern onaniert.
Oder man erlebt, wie Carlos das Appartement seiner Geliebten Ana verlässt,
vor der Tür auf dem Flur sich seine himmelblaue Hose einnässt, sich dann
zurück zu Ana begibt – und das Messer zückt. Vor allem der explizite Sex,
der in „Battle in Heaven“ gezeigt wird, hat viele Zuschauer verstört. Man
sieht einen erigierten Penis in einem Arthouse-Film. 2005, als der Film in
die Kinos kam, war so etwas tatsächlich noch ein echter Aufreger.
In seinem bislang vielleicht eindrucksvollsten Film, „Stellet Licht“
(„Silent Light“), begibt sich Reygadas wieder raus aufs Land. Doch anders
als in „Japón“ assoziiert er gezeigte archaische Zustände nicht mit Zerfa…
und Verwesung, sondern taucht fröhlich ein in eine idyllische Landschaft.
Allein die Eröffnungssequenz, in dem minutenlang ein beginnender Tag und
der Kampf des Lichtes gegen die Dunkelheit inmitten der Natur gezeigt wird,
ist atemberaubend.
## Inmitten von Mennoniten
Der Film erzählt die eigentlich schlichte Geschichte eines Ehebruchs. Johan
hat eine Familie, alles ist so, wie es eigentlich sein sollte. Doch er
begehrt eine andere, mit der er ein Liebesverhältnis eingeht. Das alles
inmitten der Gemeinschaft von Mennoniten im Norden Mexikos. Man verfolgt
das zarte Glück, das Johan in seiner neuen Liebe gefunden hat. Und man
sieht ihn gleichzeitig erschüttert in seiner Scham, in seinen
Selbstvorwürfen, in seinem Glauben zu Gott.
Die Geschichte wird subtil und behutsam erzählt. Und doch entsteht eine
schier unerträgliche Spannung. Auch in diesem Film greift Reygadas wieder
auf Nicht-Schauspieler zurück, die Plattdietsch sprechen, einen Dialekt der
Mennoniten. Am Ende von „Stellet Licht“ verwandelt sich Reygadas’
neorealistischer Stil dann für einen Moment lang in magischen Realismus.
Was dann letztlich auch wieder typisch ist für Reygadas: Stets passiert
etwas Überraschendes.
Bei den Vorführungen seiner beiden Filme „Post Tenebras Lux“ und „Nuestro
Tiempo“, seinem neuesten Werk, das bislang noch nicht im Kino zu sehen war,
wird Carlos Reygadas als Gast im Arsenal sein. Wer seine rätselhaften Filme
gesehen hat, dürfte einige Fragen an den Regisseur haben.
Dieser Text erscheint im taz Plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
20 Jun 2019
## AUTOREN
Andreas Hartmann
## TAGS
Carlos Reygadas
Arsenal Kino
Werkschau
Kenji Mizoguchi
Retrospektive
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