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# taz.de -- Berliner Selbsthilfe: Bürger*innen am Steuerrad
> Community Organizing nach amerikanischem Vorbild: Mit viel Hartnäckigkeit
> kämpfen vier Bürgerplattformen für lokale Ziele.
Bild: Dank Community Organizing können Schüler*innen in Treptow-Köpenick per…
An einem frühen Abend im April, das Abendgebet ist noch fern, wird es
plötzlich lebendig in der Gazi Osman Paşa Moschee in Neukölln. Im dritten
Stock versammeln sich Mitglieder der Bürgerplattform „Wir in Neukölln“
(WIN). Darunter sind Imame, Moscheevorstände, Vertreter*innen evangelischer
Gemeinden, ein arabischstämmiger Pfadfinder, Gäste aus Schulorganisationen
und einem Kleingartenverein – drei Dutzend Menschen insgesamt. Für WIN ist
das ein bedeutender Abend: Die Neuköllner Plattform wird nach monatelangen
Diskussionen beschließen, welche Themen sie konkret angehen wird.
Bürgerplattformen, die nach der Methode Community Organizing (siehe
Infokasten) arbeiten, gehen anders vor als gewöhnliche Bürgerinitiativen,
die in der Regel ein Thema haben und dann versuchen, dafür zu mobilisieren.
Beim Community Organizing läuft es andersherum: Am Anfang steht nicht das
Thema, sondern es werden in einem Viertel mithilfe eines ausgebildeten
Organizers erst mal Beziehungen aufgebaut. Mitglieder – Vereine, soziale
Initiativen, Gemeinden –, die mitmachen wollen, reden so lange miteinander,
bis sie sich auf ein gemeinsames Ziel einigen können, das dann angegangen
wird. Ist ein Ziel erreicht, wird ein neues Thema gesucht.
## Mobbing, Kopftuch, Wohnen
In Berlin arbeiten vier Bürgerplattformen nach dieser Methode: „Wir bewegen
Spandau“, „SO! mit uns“ in Treptow-Köpenick, „Wirsindda“ im Wedding …
in Neukölln. WIN entscheidet sich an diesem Abend im April nicht für ein,
sondern gleich für drei Themen. Die Mitglieder wollen gegen Mobbing an
Schulen vorgehen, in ihrem Kiez für mehr Chancengleichheit im Beruf sorgen,
und es geht ihnen um das Dauerthema bezahlbares Wohnen.
Wie beim Community Organizing (CO) üblich, haben Arbeitsgruppen bereits
Grundlagen für die zukünftige Arbeit geleistet: Wer ist überhaupt
betroffen, wer ist verantwortlich in Organisationen, Politik und Verwaltung
und wie könnten Lösungen aussehen? Beim Thema Mobbing will WIN mehr
Pädagog*innen mit arabischen oder türkischen Wurzeln in Schulen. Für mehr
Chancengleichheit im Job will man mit Neuköllner Betrieben über Kopftücher
und Diskriminierung reden. Beim Thema Wohnungsmangel wird über
Wohnungstausch und über Ideen für ein erweitertes Wohnrecht in Kleingärten
diskutiert. Auch der Stand eines seit Jahren in der Planung befindlichen
Wohnprojekts auf einem ehemaligen Betonwerkgelände in Grünau, an dem alle
vier Plattformen gemeinsam arbeiten, wird besprochen.
Weil die Plattformen manchmal Jahre brauchen, um ihr Ziel zu erreichen,
laufen sie oft unter dem Radar der Öffentlichkeit. Trotzdem haben alle
schon viel erreicht: Dass 60.000 Neuköllner Muslim*innen auf dem
Lilienfriedhof ein Gräberfeld haben, war ein CO-Projekt. Oberschöneweide
bekam nach jahrelanger Lobbyarbeit vier Standorte der Hochschule für
Technik und Wirtschaft. Ein CO-Projekt kümmerte sich dort auch um einen
besseren ÖPNV und um mehr Ärzt*innen. Das Jobcenter im Wedding fand mit der
Plattform Lösungen für unterschiedlichste Beschwerden.
Finanziert werden die Plattformen – also das Gehalt des Organizers, die
Meetings und Veranstaltungen – von Mitgliedsbeiträgen, Stiftungen und
Unternehmen. Staatliche Gelder gibt es nicht, man will unabhängig bleiben.
Andreas Thun, Chef und Gründer der Messtechnikfirma Iris, ist einer der
Finanziers. Die CO-Plattform in Treptow-Köpenick bekommt von ihm jedes Jahr
6.000 Euro. „Ich finde das faszinierend: eine Bürgerbewegung, die sich ganz
konkrete Ziele setzt in der Regionalpolitik und nicht nur Kritik übt. Das
ist eine tolle Idee. Durch die verschiedenen Gruppen entsteht auch eine
gewisse Kraft, sich zu artikulieren und Druck auszuüben“, sagt er.
## Strammes Zeitmagement
Katja Neppert von der Kulturkirche Nikodemus und Mitglied bei WIN, schätzt
die Regeln der Plattformen: eigene Lösungen recherchieren und auch
vertreten zu müssen, und ein strammes Zeitmanagement. „Es ist doch nicht
sinnvoll, stundenlang zu diskutieren, und dann kommt am Ende nur wenig
raus. Das ist ermüdend. Wir wollen etwas schaffen, also versuchen wir
Prioritäten zu setzen.“ Neppert ist damals beigetreten, weil ihre Gemeinde
sich öffnen wollte: „Mir macht es Spaß, die anderen kennenzulernen – und …
lernen, wie Politik wirkt, wie man Macht entwickeln kann.“
„Wirsindda“ im Wedding, insgesamt 25 Mitgliedsgruppen, hat bereits im
Oktober das neue Schwerpunktthema beschlossen. „Wir hatten uns mehrere
Themen ausgesucht: Infrastruktur, Müllproblematik und Obdachlosigkeit. Die
Plattform hat sich für die Obdachlosigkeit entschieden, dafür gab es eine
sehr starke Mehrheit“, berichtet Organizer Niri Andriamiharisoa.
Die Einwohner*innen hatten beobachtet, dass immer mehr Menschen auf dem
Leopoldplatz schlafen. Jetzt sammelt die Plattform notwendige Daten und
redet mit Akteuren: mit dem Bezirk, mit Wohnungsunternehmen, mit Trägern
von Wohnheimen. Die erste Hürde ist identifiziert: „Es gibt ein geschütztes
Marktsegment von rund 100 Wohnungen für Menschen ohne Wohnung – neben den
Wohnheimplätzen. Das reicht nicht“, sagt Andriamiharisoa. Nächster Schritt
ist eine passende Strategie beim Lobbying. Öffentlichkeitswirksame Aktionen
gibt es erst, wenn alle Gespräche scheitern.
Bei „SO! mit uns“ in Treptow-Köpenick ist der letzte Erfolg nicht lange her
– Schüler*innen haben zusammen mit der Plattform dafür gekämpft, dass sie
frühmorgens eine zusätzliche Fähre zwischen Wendenschloss und Grünau
rechtzeitig zum Unterricht über die Dahme schippert. Ein neues Projekt ist
noch nicht abgemacht. „Wir sammeln gerade Themen – Wohnen ist natürlich
wichtig“, sagt Bernhard Muschick, Vorstandsmitglied der Gartensiedlung
Wilhelmstrand, die Mitglied bei „SO! mit uns“ ist.
## Wohnrecht für die Laube
In der Überlegung sei etwa ein Dauerwohnrecht in der Gartensiedlung: „Wir
haben hier 350 Grundstücke, in ganz unterschiedlicher Form, Erbpacht,
Datsche, Laube mit Wohnrecht. Viele sind den ganzen Sommer da und gehen
höchstens kurz in die Wohnung, um die Post zu holen“, sagt Muschick. „Es
gibt auch Leute, die hier nicht wohnen dürfen, es aber tun. Ein Wohnrecht
da, wo die Laube oder das Haus entsprechend ausgestattet ist, wäre
sinnvoll.“
Auf dem erwähnten Betonwerkgrundstück in Grünau – ein 300.000 Quadratmeter
großes Gewerbegebiet – wollen die vier CO-Initiativen zumindest teilweise
Wohnungsbau realisieren. Unterstützt werden sie dabei vom Eigentümer des
Geländes, dem Unternehmer Antonio Samos Sanchez, der mit den Plattformen
eine Kooperationsvereinbarung über die Nutzung geschlossen hat. Vision der
CO-Leute sind neben Mietwohnungen auch günstige Eigentumswohnungen für
untere und mittlere Einkommen.
Es ist in jedem Fall ein Langzeitprojekt: 2017 hatte der Bezirk bereits
abgewunken. Das Gelände werde für Gewerbe gebraucht, antwortet
Treptow-Köpenicks Baustadtrat Rainer Hölmer (SPD) auch jetzt auf
taz-Anfrage. Wohnungsbau sei dort „planungsrechtlich unzulässig“ und stehe
„den bezirklichen und landesweiten städtebaulichen Zielen entgegen.“
Doch Widerstand sind die Plattformen gewöhnt: Auch für das Gräberfeld und
die HTW-Standorte wurde jahrelang hartnäckig gekämpft. „Für uns ist das so
lange nicht vorbei, bis ein Bebauungsplan vorliegt, der etwas anderes
plant. Wir geben nicht auf“, sagt Muschick zum Betonwerkgelände.
17 Jun 2019
## AUTOREN
Maike Rademaker
## TAGS
Selbsthilfe
Wohnungsmangel
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