# taz.de -- Blanke Nerven vor der Bremer Wahl: Die Mär vom Vorrecht des Stärk… | |
> SPD-Freunde behaupten per Zeitungsanzeige, dass die stärkste Fraktion | |
> einen Regierungsauftrag erhalte. Aber dieses Privileg ist frei erfunden. | |
Bild: Die Bremer Bürgerschaft: Wer hier nach der Wahl mit wem spricht, dafür … | |
Bremen taz | Die Nerven liegen blank angesichts der Wahlprognosen. Das | |
zeigt stark der Umgang mit Koalitionssignalen: Wer keine sendet, wie die | |
Grünen, wird ebenso bezichtigt, undemokratisch zu sein, wie jene, die | |
Bündnisse rigide ausschließen (die SPD). Das übliche Gemoralise halt, das | |
ist zu ertragen – anders als die Unwahrheiten, die aus der Panik geboren | |
werden. Zu den schlimmsten von ihnen gehört der autoritäre Mythos vom | |
Vorrecht der stärksten Fraktion auf einen vermeintlichen | |
„Regierungsauftrag“. | |
Am massivsten wird diese Legende derzeit von einer illustren Schar aus dem | |
sozialdemokratischen Spektrum durch die Stadt posaunt: „Die stärkste Partei | |
erhält traditionell den Regierungsauftrag“, heißt es in deren | |
Zeitungsanzeige. Auch in der taz ist sie veröffentlicht worden. | |
Unterzeichnet wird diese naturrechtliche Aussage von DGB-Chefin Annette | |
Düring als einziger Frau, Ex-Senatoren wie Hermann Schulte-Sasse | |
(parteilos) und emeritierten Professoren wie Rudolf Hickel: viel Ansehen. | |
Unwahr ist die Aussage dennoch, schon deshalb, weil es keinen | |
Regierungsauftrag gibt. In Monarchien ist das anders. So führt in Dänemark | |
die Königin nach der Wahl mit allen Parteispitzen Vier-Augen-Gespräche und | |
fordert dann diejenigen auf, eine Regierung zu bilden, der sie zutraut, | |
eine stabile Mehrheit zusammenzubekommen. In Deutschland hingegen wurden | |
Regierungsaufträge bis 1933 erteilt. Der letzte ging an Hitler. Seit Ende | |
des Präsidialsystems sind sie abgeschafft. | |
Das gilt selbstverständlich erst recht in Bremen: Wer mit wem nach der Wahl | |
spricht, um einen Senat zu bilden, dafür gibt es hier „keine Regelungen“, | |
so die Auskunft der Bürgerschaftsverwaltung. „Es braucht dafür auch keinen | |
Auftrag.“ Das wäre ja auch fatal, denn: „Es gibt keine Funktion, die diesen | |
Auftrag erteilen könnte“, so Bürgerschaftssprecherin Dorothee Krumpipe. | |
Die gab’s in Bremen schon bei den ersten freien Wahlen nicht: Mit 30,2 | |
Prozent hatte 1920 die USPD, also die radikalen Sozialdemokraten, klar die | |
Nase vorn. Zweite Kraft wurden die „Mehrheitssozialdemokraten“, die MSPD. | |
Die trugen mit ihren Stimmen dazu bei, dass den [1][auf unbestimmte Zeit | |
gewählten Senat] die nationalliberalen Kräfte um den rechtskonservativen | |
Martin Donandt (parteilos) und den gemäßigten Theodor Spitta (DVP) | |
dominierten. Es gibt also auch keine „Tradition“, die ein Privileg | |
begründen würde. | |
Die Wahlergebnisse nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Bremen nicht dazu | |
angetan, eine Tradition zu stiften: Weil bis dahin nie auch nur rechnerisch | |
eine Mehrheit gegen die stärkste Partei, die SPD, möglich gewesen wäre, | |
hätte sich die Frage, wer Gespräche führt, theoretisch erstmals 1995 | |
stellen können. | |
Dafür hätte die CDU seinerzeit jedoch mit den Grünen und dem populistischen | |
Kurzzeit-Bündnis „Arbeit für Bremen“ reden müssen. Von Gesprächen wurde | |
abgesehen. Möglich wären sie jedoch gewesen: „Es ist hier ganz | |
pragmatisch“, so Krumpipe. „Theoretisch kann jede Fraktion loslegen – das | |
geht auch parallel.“ | |
Wie überall: Wer sich zutraut, eine Mehrheit zu organisieren, darf das | |
probieren, unabhängig von der eigenen Größe. Entsprechend haben sich auf | |
Länderebene in den letzten Jahren die Beispiele gehäuft für | |
Regierungsbildungen an der jeweils stärksten Fraktion vorbei – und ohne | |
zuvor mit ihr zu sondieren (siehe Kasten). Denn Demokratie ist Herrschaft | |
der Mehrheit – und nicht, wie im autoritären Denken, das Recht des | |
Stärkeren. | |
24 May 2019 | |
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[1] http://www.verfassungen.de/hb/verf20-i.htm | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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