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# taz.de -- Kommentar Sperrungen bei Twitter: Twitter unterläuft die Gewaltent…
> Das soziale Netzwerk sperrte jüngst viele Konten. Die fehleranfälligen
> Verfahren sind ein schon länger bestehendes Problem.
Bild: Der Twitter-Vogel sieht so süß aus. Das täuscht
Anfang Mai teilte die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ auf
Twitter ein Foto, das ein manipuliertes SPD-Wahlplakat im Berliner
Straßenland zeigte. Es handelte sich um einen offensichtlich satirischen
Kommentar auf die SPD-Wohnungspolitik: Unter dem Wahlslogan „Berlin bleibt
bezahlbar“ war der ursprüngliche Text mit „Hahahahahaha. War nur Spaß!
Anzug und Immobilienwirtschaft stehen uns besser als Latzhose und sozialer
Wohnungsbau“ ersetzt worden. Auch der Hashtag #dwenteignen war auf dem
manipulierten Plakat angeführt und verwies auf die Urheber*innen des
Eingriffs.
Twitter sperrte prompt den Account der Initiative. „Du darfst keine Inhalte
veröffentlichen, in denen falsche Informationen zu Wahlen oder zur
Wahlregistrierung bereitgestellt werden“, so die Begründung. Die gleiche
Verwarnung bekam wenige Tage zuvor die Berliner SPD-Staatssekretärin Sawsan
Chebli.
Sie hatte auf eine von der AfD und rechten Medien verbreitete Falschmeldung
reagiert, Mohammed sei 2018 der beliebteste Vorname bei Neugeborenen in
Berlin gewesen. Als Antwort auf die damit verbundene Hetzkampagne gegen
eine vermeintliche Islamisierung Deutschlands hatte Chebli eigene
Familienmitglieder mit dem Namen „Mohammed“ aufgelistet und hinzugefügt:
„Wir werden schon dafür sorgen, dass dieser Name nie verschwindet!“.
[1][Seither mehren sich die Vorfälle.] Ein weiterer SPDler, Sven Kohlhuber,
wurde aufgrund eines AfD-kritischen Tweets gesperrt. [2][Dasselbe
passierte] der Jüdischen Allgemeinen. Dass die Sperrungen eine
beunruhigende Systematik aufweisen, lassen von User*innen initiierte
Sammlungen unter dem Hashtag #twittersperrt vermuten: Ein AfD-freundlicher
Meldemob scheint gezielt die Beiträge politischer Gegner*innen für Verstöße
gegen Twitters Richtlinien zu melden – und damit Erfolg zu haben.
## Twitter seit US-Wahl 2016 unter Druck
Die Verfahren, die Twitter zur Beurteilung manipulativer Inhalte verwendet,
sind offenbar selbst hochgradig manipulations- und fehleranfällig. Auch die
Vorladung des Konzerns in den Digitalausschuss des Bundestages am Mittwoch
konnte diesen Eindruck nicht widerlegen. Nur in zwei Punkten hat er
Gewissheit gebracht: Twitter erklärte, Satire gezielt zu sperren, und gab
auch bekannt, dass in Deutschland aktuell zehnmal mehr Beiträge gelöscht
werden würden als in anderen europäischen Ländern.
Warum zensiert Twitter überhaupt? Seit den US-Präsidentschaftswahlen im
Jahr 2016 stehen soziale Medien unter großem öffentlichen Druck, die
Verbreitung von Fake News im Zusammenhang mit politischen Wahlen zu
unterbinden. Die Vorwürfe trafen zunächst Facebook, haben mittlerweile aber
zu einer grundsätzlichen Debatte über die Regulierung großer
Internetkonzerne geführt.
Verschiedene Einzelmaßnahmen in dieser Richtung wurden bereits beschlossen.
So führte 2014 ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs in einem Prozess
gegen Google zur Einführung eines „Rechts auf Vergessenwerden“, welches der
Plattform die Löschung einzelner Suchresultate auferlegt, wenn diese gegen
Persönlichkeitsrechte verstoßen.
2017 wurde in Deutschland das umstrittene Netzwerkdurchsetzungsgesetz
beschlossen, welches Plattformbetreiber zur wirksamen Bekämpfung von
strafbaren Inhalten wie Hasskommentaren und Fehlinformation verpflichten
möchte und den Konzernen mit hohen Bußgeldern droht. Im März 2019 beschloss
das EU-Parlament die ebenfalls kontroverse Copyright-Reform, welche
Plattformen dazu verpflichtet, alle Nutzer*innen-Beiträge auf Verstöße
gegen Copyright-Verletzungen zu filtern.
## Nach geheimen Kriterien
Tatsächlich ist eine behutsame Regulierung großer IT-Konzerne dringend
nötig. Doch alle bisher ergriffenen Maßnahmen haben einen gravierenden
Konstruktionsfehler gemeinsam: Sie delegieren die Entscheidungsgewalt über
die Frage, ob ein Inhalt geltendes Recht verletzt oder falsche
Informationen enthält, an die Plattformen selbst.
Nicht eine öffentliche Stelle und transparente Abläufe, sondern
automatische Computersysteme und Content-Moderator*innen treffen nach
geheimen Kriterien diese Entscheidungen – ohne öffentliche
Rechenschaftspflicht. Bei komplexen politischen Debatten wie der Entlarvung
von Fake News ist jedoch die Frage, ob ein Beitrag eine simple
Meinungsäußerung, Satire oder Manipulation ist, nicht nur extrem sensibel,
sondern selbst mitunter eine politische Fragestellung.
Darüber entscheiden dann Content-Moderator*innen, die höchstwahrscheinlich
juristische Laien sind, wenige Sekunden Zeit zur Beurteilung eines
einzelnen Beitrags haben und überdies – wie im Digitalausschuss am Mittwoch
bekannt wurde – in der Regel nicht in Deutschland sitzen.
Die Entscheidungsverfahren, die von Tech-Plattformen aktuell eingesetzt
werden, sind trotz der Verschaltung von künstlicher Intelligenz,
Nutzer*innen-Meldungen und Content Moderation extrem fehler- und
manipulationsanfällig. Der springende Punkt ist jedoch: Der Ärger über
problematische Sperrungen ist falsch kanalisiert, wenn er nur in
Forderungen nach besseren Filtermechanismen übersetzt wird.
## Demokratische Gewaltenteilung wird unterlaufen
Denn die Fehleranfälligkeit ist keine momentane Unzulänglichkeit, sondern
ein inhärentes Problem: Filterverfahren werden bei komplexen Debatten und
„heiklen Themen“ stets mit Unsicherheit entscheiden. In einer Situation des
wachsenden öffentlichen Drucks und drohender Bußgelder sind die Plattformen
dazu gezwungen, auf Nummer sicher zu gehen und im Zweifelsfall einen
unklaren Inhalt einfach zu löschen.
Es wäre somit keine Lösung des Problems, wenn Twitter seine Filtertechniken
und Prüfmechanismen verbessern würde, wie es viele Stimmen jetzt fordern.
Denn egal, wie „perfekt“ diese Verfahren sind, das eigentliche Problem
besteht darin, dass hier die demokratische Gewaltenteilung unterlaufen
wird: Die Plattform legt selbst die Regeln und Kriterien darüber fest, was
ein valider Debattenbeitrag ist.
Zugleich urteilt sie über Verletzungen der Regeln und setzt entsprechende
Sanktionen durch. Jede Regulierungsmaßnahme, die Gesetze schafft, deren
Durchsetzung dann an die Plattformen selbst delegiert wird, verschärft das
Problem der Intransparenz und Abhängigkeit von ihnen. Mit einem solchen
„Outsourcing“ der Rechtsdurchsetzung an private Akteure sägt der
Rechtsstaat am eigenen Ast.
Twitter, Facebook & Co. haben längst die Funktion einer öffentlichen
Kommunikationsinfrastruktur. Deshalb ist es auch die Aufgabe der
Öffentlichkeit, das geltende Recht in digitalen Räumen durchzusetzen. Eine
progressive Lösung zur effektiven Regulierung von Social-Media-Plattformen
wäre deshalb die Einrichtung einer transparent operierenden, unabhängigen,
demokratisch kontrollierten Stelle, die für den digitalen Raum solche
Entscheidungen trifft.
## Kampf gegen Hetze, Hass und Beleidigung
Dagegen haben die bisherigen Regulierungsmaßnahmen den Plattformen im
Effekt mehr Macht zugespielt, anstatt ihre schädlichen Wirkungen zu
begrenzen. Denn sie laufen darauf hinaus, ein privates „Hausrecht“ der
Plattformbetreiber zu stärken mit „Türstehern“, die den Zutritt zu diesen
eigentlich öffentlichen Räumen nach unklarem Prinzip begrenzen.
Um dem entgegenzuwirken, müsste für soziale Medien eine Rechtskategorie
„öffentliche digitale Infrastruktur“ eingeführt werden, die bewirkt, dass
dort rechtsstaatliche, transparente und demokratisch kontrollierbare
Verfahren der Streitschlichtung angewandt werden – im Kampf gegen Hetze,
Hass und Beleidigung sowie gegen Fake News und Manipulation.
Das würde die sozialen Medien weder verstaatlichen noch enteignen. Aber
das, was dort erlaubt und verboten ist, würde in die Verantwortung der
Allgemeinheit fallen. Andernfalls übereignen wir Unternehmen die Kontrolle
über das Herzstück der Demokratie – die politische Meinungsbildung in einem
pluralen, dissensfähigen Diskurs.
17 May 2019
## LINKS
[1] /Twittersperrt-vor-der-Europawahl/!5592945
[2] /Angebliche-Falschinformationen/!5594774
## AUTOREN
Jorinde Schulz
Rainer Mühlhoff ​
## TAGS
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BVB
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