| # taz.de -- Debatte Nation und Gemeinschaft: „Dieses Deutschland gab es nie“ | |
| > Verfassungspatriotismus oder Volksgemeinschaft, Salatschüssel oder | |
| > Melting Pot? Der Historiker Jan Plamper antwortet taz-Autor Micha | |
| > Brumlik. | |
| Bild: Ist die Nation noch immer ein Bezugspunkt von Identität? | |
| Micha Brumliks Texte lese ich seit Langem und oft mit Gewinn, außerdem | |
| stehen wir uns politisch nahe. Aber was er in seiner [1][Kolumne] „Gott und | |
| die Welt“ am 7. 5. 2019 über mein [2][Buch] „Das neue Wir. Warum Migration | |
| dazugehört: Eine andere Geschichte der Deutschen“ (S. Fischer, 2019) | |
| schreibt, ist so verzerrend, dass ich es öffentlich richtigstellen muss. | |
| Brumlik schreibt: „Plamper plädiert in seinem soeben erschienen, | |
| gleichnamigen Buch für eine neue kollektive Identität, ‚die eine stärkere | |
| emotionale Bindefestigkeit besitzt als die Liebe zum Grundgesetz‘. Das ist | |
| illusorisch: war es doch schon im späten 19. Jahrhundert der Soziologe | |
| Ferdinand Tönnies, der kategorial zwischen ‚Gesellschaft‘ und | |
| ‚Gemeinschaft‘ unterschied. Spätestens 1933 zeigte: Es war nicht nur ein | |
| Kategorienfehler, sondern ein totalitärer Irrtum, die Bevölkerung | |
| Deutschlands – seine ‚Gesellschaft‘ – zu einer mehr oder minder intim | |
| verbundenen ‚(Volks)gemeinschaft‘ umformen zu wollen.“ | |
| Niemals und nirgends habe ich eine „Gemeinschaft“ im Tönnies’schen Sinne | |
| gefordert, und schon gar nicht eine Volksgemeinschaft – in dieser Reihung | |
| schaffen Brumliks Sätze eine Assoziationskette, die mich wie einen | |
| Verfechter der NS-Volksgemeinschaft aussehen lässt, auch wenn Brumlik, wie | |
| er mir versichert, das nicht einmal andeutungsweise sagen wollte. | |
| Im Gegenteil: Ich habe schon zu Beginn der Migrationsdebatte 2015 davor | |
| gewarnt, sich an ein homogenes Deutschland im Tönnies’schen Sinne | |
| zurückzusehnen, das ohnehin ein Phantasma ist – dieses Deutschland gab es | |
| nie („Warum Konservative Deutschland nie verstehen werden“, Huffington | |
| Post, 7. 12. 2015). | |
| ## Identitäten leben | |
| In meinem Buch plädiere ich für eine Kollektividentität, die allen | |
| Staatsbürger*innen offensteht (Schluss mit „Woher kommst du | |
| wirklich?“-Fragen), und die einhergeht mit unzähligen weiteren Identitäten, | |
| auch aus Herkunftskulturen, die wir übrigens leben, nicht haben, also ein | |
| performatives Identitätskonzept. | |
| Diese Partikularidentitäten sollten wertgeschätzt und staatlich gefördert | |
| werden: Es ist gut, dass Syriendeutsche neben Deutsch Arabisch können, in | |
| der deutschen Schule sollte Arabisch mit Unterricht gefördert werden. | |
| Und: „Syriendeutsche“ statt „Deutschsyrer“ – die Herkunftsidentität | |
| adjektivisch, die Zugehörigkeit zur deutschen Staatsbürgernation als | |
| Substantiv. Das ist das amerikanische Salatschüsselmodell, das in den | |
| 1960er Jahren den Schmelztiegel ablöste – er besagte: Gib alles auf, was du | |
| an kulturellem Gepäck mitbringst, und verschmelze zu einem homogenen | |
| Amerikanertum. | |
| Überraschender Fund bei meinen historischen Recherchen: Das | |
| Salatschüsselmodell wurde vorweggenommen bei den Vertriebenen. Direkt nach | |
| dem Zweiten Weltkrieg sah man sie als kategorial anders, ja übertrug auf | |
| sie Rassismen der NS-Zeit – Ostpreußen als „Mulattenzucht“. Dann forderte | |
| man Assimilation (wirf ab, was du an sudetendeutschem Gepäck mitbringst und | |
| werde deutsch und nur deutsch – das Schmelztiegelmodell). | |
| ## Progressive Brauchtumspflege | |
| Ab 1950 bot man ihnen das Salatschüsselmodell an: Zugehörigkeit zur | |
| Staatsbürgernation der Deutschen unter Beibehaltung der schlesischen | |
| Partikularidentität – mit staatlicher Förderung: die „Brauchtumspflege“… | |
| ihren Folkloreabenden. So abwegig es klingen mag, dies war im Kern | |
| progressiv, es war das Salatschüsselmodell avant la lettre. | |
| Und warum braucht es eine symbolisch-emotionale Überhöhung der | |
| Kollektividentität (das neue Wir), die über Verfassungspatriotismus | |
| hinausgeht? Erstens weil sie von Zuwanderer*innen selbst gefordert wird. In | |
| vielen Herkunftskulturen ist die Nation eine wichtige Identitätsressource. | |
| Zweitens weil es attraktive, symbolisch-emotional angereicherte | |
| Gegenangebote gibt – von extrem rechts in Deutschland. Oder aus | |
| Herkunftsländern (Erdoğans Türkei, Putins Russland), die sich neuerdings | |
| ethnonational definieren und deutsche Staatsbürger*innen über soziale | |
| Medien und Satellitenfernsehen „abwerben“ (erfolgreich: Man erinnere sich | |
| an den Fall Lisa Anfang 2016 und die Leichtigkeit, mit der sich | |
| Russlanddeutsche in eine „russische Diaspora“ verwandelten). | |
| Wenn Deutschland nur eine Leerstelle anzubieten hat, werden diese | |
| Gegenangebote gewinnen. Aber noch einmal: Die inhaltliche Ausgestaltung des | |
| symbolisch-emotional überhöhten neuen Wir – wie etwa sollte eine | |
| Einbürgerungszeremonie aussehen, welche Musik, welche Rituale? – stehen | |
| nicht von vorneherein fest, sondern sollten auf demokratischem Wege im | |
| Rahmen des Grundgesetzes ausgehandelt werden. Also keine essentialistische | |
| Leitkultur, sondern ein ergebnisoffenerer demokratischer Prozess. | |
| ## Eine Weltföderation | |
| Schließlich: Mein Buch endet nicht im Telos der Nation, sondern in | |
| übernationalen Gebilden wie einer demokratischen, funktionierenden EU und | |
| letztlich einer Weltföderation. Ja, Politik wird am besten vom Un-Orten aus | |
| gedacht: von Utopien. | |
| Und gewidmet habe ich das Buch den Papierlosen. | |
| Lasst uns endlich in der Linken eine konstruktive Debatte über Migration | |
| und Nation führen! Gerade jetzt mit der Europawahl, mit 70 Jahren | |
| Grundgesetz und Europarat. Wenn Micha Brumliks Kolumne diese Debatte ins | |
| Rollen bringt, wird der Mai wirklich ein „Wonnemonat“. | |
| 14 May 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kolumne-Gott-und-die-Welt/!5592596 | |
| [2] https://www.fischerverlage.de/buch/jan_plamper_das_neue_wir/9783103972832 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Plamper | |
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