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# taz.de -- Aktivismus in Kasachstan: Eine Brise Frühling
> In Kasachstan kämpfen junge AktivistInnen für die ersten wirklich freien
> Wahlen seit 1989. Zwei von ihnen sitzen deshalb bereits im Gefängnis.
Bild: Die Aktivistin Asya Tulesowa sitzt seit dem 22. April in Kasachstan in Ha…
Minütlich klingelt mein Handy, es hört nicht auf zu blinken.
Solidaritätsbekundungen, Aktionen, Artikel, Kommentare. Es sind Nachrichten
aus Kasachstan, dem Land, in dem ich geboren wurde und in das ich seit
einigen Jahren regelmäßig reise. Die Nachrichten werden immer
beunruhigender. Es geht um polizeiliche Vorladungen, Blitzurteile,
Haftstrafen. Am 1. Mai schlugen Polizisten auf DemonstrantInnen ein.
Ausgelöst haben diese Protestwelle zwei junge AktivistInnen – Asya Tulesowa
und Beibarys Tolymbekow. Am 21. April hielten sie während eines Marathons
in Almaty, der größten Stadt Kasachstans, ein Banner hoch. Darauf stand:
„Du kannst nicht vor der Wahrheit wegrennen“. Auf dem Banner standen auch
die Hashtags #adilsailayushin (#fürfairewahlen) und #уменяестьвыб�…
(#ichhabeeinewahl). Die beiden AktivistInnen wurden in polizeilichen
Gewahrsam genommen und am nächsten Tag in einem Blitzverfahren für den
Verstoß gegen das Versammlungsrecht zu je 15 Tagen Haft verurteilt. Drei
weitere junge Menschen bekamen Geldstrafen. Asya Tulesowa befindet sich
seit Haftantritt im Hungerstreik.
Kasachstan wurde bis vor Kurzem von Nursultan Nasarbajew regiert, und das
seit 1989. Im März [1][ist Nasarbajew zurückgetreten]. Dem Willen seiner
UnterstützerInnen nach sollte dann alles sehr schnell gehen: Die
vorgezogenen Präsidentschaftswahlen wurden für den 9. Juni angesetzt.
Interimspräsident Kassym-Jomart Tokajew ist der Kandidat der regierenden
Partei Nur-Otan. Er wird kaum Raum für alternative KandidatInnen zulassen,
da sind sich ExpertInnen einig. Seine erste Amtshandlung war es, die
Hauptstadt Astana nach Nasarbajew umzubenennen – sie trägt jetzt dessen
Vornamen: Nursultan. Wegen dieser Entscheidung kam es schon Ende März zu
Protestaktionen und Festnahmen.
## Amnesty spricht von politischen Häftlingen
Einen Tag nachdem die AktivistInnen Asya Tulesowa und Beibarys Tolymbekow
inhaftiert wurden, fand in Almaty eine spontane Podiumsdiskussion statt.
Dimasch Alsanow, Politologe der OSZE, bestätigte, dass es in Kasachstan
zwar Wahlen, aber keine Wahl gibt: „Keine der bisherigen Wahlen in
Kasachstan wurden von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa als fair eingestuft. Die gesamte politische Landschaft ist
konstruiert. Am Wahltag hat man lediglich die Wahl aus dem, was vorab für
einen entschieden wurde.“
Um dieses Ohnmachtsgefühl ging es Tulesowa und Tolymbekow. Mit ihrem Banner
sprachen sie vielen KasachInnen aus der Seele, die sich außerhalb der
sozialen Netzwerke nicht trauen, die Stimme zu erheben. Dass die
Haftstrafen, von gravierenden Verfahrensfehlern mal ganz abgesehen, für
eine friedliche Meinungsäußerung ungerechtfertigt sind, meinen nicht nur
Tausende UnterstützerInnen. Auch Tatiana Tschernobil, Beraterin für
Menschenrechte in Almaty, findet: „Nicht umsonst wurden sie in einer
Erklärung von Amnesty International als politische Häftlinge bezeichnet.“
Über Tolymbekow ist bekannt, dass er ein Programmierer, Feminist und linker
Aktivist ist, der am Tag seiner Inhaftierung seinen Armeedienst antreten
wollte. Asya Tulesowa ist eine vertraute Figur in den aktivistischen
Kreisen Almatys, ja ganz Kasachstans. Sie ist Gründerin der Civic
Foundation, pflanzt für diese eigenhändig Parks, kämpft gegen die Bebauung
von Naturschutzgebieten und redet bei fast jeder Begegnung in unaufgeregtem
Ton über Dinge, die die Gesellschaft ihrer Meinung nach bewegen sollten.
Eines ihrer wichtigsten Projekte ist die App Almaty Urban Air (AUA) – sie
informiert die BewohnerInnen der Stadt täglich über das (meist
alarmierende) Smoglevel.
Jemanden wie Tulesowa würde man in Deutschland bei den Grünen vermuten. In
Kasachstan ist ihr Engagement eine kostbare Ausnahme. Erst recht in der
„goldenen Jugend“, wie ihre Generation der Intellektuellen, Bürgerlichen
oder Bessergestellten genannt wird. In Zeiten einer Öffnung nach außen und
eines gewissen, wenn auch ungleich verteilten Wohlstands war es in
Kasachstan bis vor Kurzem nahezu chic, zwar kosmopolitisch zu sein, aber
bewusst unpolitisch zu bleiben.
## Eine Welle von Solidaritätsbekundungen
Tulesowa war einige Jahre im Ausland, sie hat in San Francisco studiert und
gearbeitet. Im Gegensatz zu vielen anderen kam sie danach zurück nach
Kasachstan. Bei einem Innovationsfestival 2018 sagte sie: „Ich möchte
Stereotype aufbrechen und den Leuten nahebringen, dass wichtige Ideen von
jedem Menschen ausgehen können und müssen, der seine Stadt liebt, und nicht
nur von Menschen mit Krawatte. Ich wünsche mir weniger Formalismus – er
zerstört alles.“
Die Gerichtsverhandlung, in der Asya Tulesowas Haftstrafe bestätigt wurde,
wurde live auf Facebook und Instagram gestreamt. Eine Unbekannte stand
unter Tränen auf und bot an, an Tulesowas Stelle ins Gefängnis zu gehen,
damit die Geschichte sich nicht wiederhole.
Tulesowa ist Urenkelin des Poeten Ilyas Zhansugurow und des kasachischen
Nationalhelden Uraz Jandosow. Beide fielen den stalinistischen Repressionen
zum Opfer, 1938 wurden sie erschossen. Spätestens bei diesem Fakt schreien
viele der sonst unbeteiligten KasachInnen auf. Denn nahezu jede kasachische
Familie war vom Terror Stalins betroffen. Zwischen 1930 und 1933 starben 38
Prozent der Bevölkerung beim Holodomor, der großen Hungersnot.
2019 wurde zum Jahr der Jugend in Kasachstan ausgerufen. Und siehe da, da
ist sie, die Jugend, die sehen will, was sie in diesem Land bewegen kann.
Die Bilanz seit dem Marathon am 21. April: Sechs Verurteilte, zwei davon in
Haft, eine davon im Hungerstreik, etwa 80 festgenommene DemonstrantInnen.
Eine Welle von Solidaritätsbekundungen, Crowdfunding für Geldstrafen, eine
Reihe von Ein-Personen-Demonstrationen, weil die nicht verboten sind.
Diskussionen, Kunst, zivile Initiativen. Ist das die Wende, die mit sich
bringt, dass sich die progressive Jugend Kasachstans nicht mehr nur in
angesagten Cafés trifft, sondern auch in den tristen Gängen von
Gerichtsgebäuden oder ihren digital übertragenen Live-Räumen?
## PolizistInnen rufen dazu auf, die Bevölkerung zu schützen
Asya Tulesowa hat schon vorher in der Politik mitgemischt. 2016 wollte sie
bei lokalen Wahlen kandidieren. Wegen einer Abweichung in ihrer
Steuererklärung in Höhe von 78 Tyin (umgerechnet 0,2 Cent) ging das nicht.
Auch damals ging sie damit an die Öffentlichkeit, erfolglos.
Heute wird ihr Name laut gerufen, wenn es um WunschkandidatInnen für die
Regierungsspitze geht. Andere sehen ihren und Tolymbekows Namen bereits in
den Geschichtsbüchern der Zukunft. Und weitere AktivistInnen schließen sich
an: Am Montag wurde der Künstler Roman Sacharow in den frühen Morgenstunden
in Almaty von der Polizei aufgegriffen. Er hatte ein Banner mit einem Zitat
aus der kasachischen Verfassung an einer Brücke aufgehängt: „Die einzige
Quelle der Staatsmacht ist das Volk“. In einem Blitzverfahren wurde er zu
fünf Tagen Haft verurteilt. Vor Gericht wurde jedoch nicht das Banner
verhandelt, sondern ein angeblicher Verstoß gegen die öffentliche Ordnung –
Sacharow soll Kabelbinder, Klebeband und Stoffreste unsachgemäß entsorgt
haben. In der Nacht wurde die Haft zu einer Geldstrafe abgemildert – und
Sacharow kam frei.
Bereits zwei Tage zuvor wandten sich drei maskierte Mitarbeiter der Polizei
in einem Handyvideo an die eigenen KollegInnen und riefen dazu auf, sich
dem Schutz der Bevölkerung zu widmen und sich nicht korrumpieren zu lassen.
Die Polizisten schließen mit den Worten: „Wir wollen das eigene Volk nicht
unterdrücken. Wir wollen nicht die Henker und Strafkommandos des eigenen
Volks sein. Wir wollen den Respekt und nicht die Verachtung der zukünftigen
Generationen. Wir sind für faire Wahlen. Für das Recht jedes Bürgers, zu
wählen und gewählt zu werden. Wir stehen mit dem Volk.“
Es ist kaum möglich, allen aufgebrachten Stimmen in Kasachstan zu folgen.
Aber zwei neue Wörter fallen vereinzelt in Instagram- und Telegram-Kanälen
auf: „Qazaq Koktemi“, „kasachischer Frühling“.
Es fühlt sich an, als würde eine neue politische Brise durch das sonst sehr
auf sein Saubermann-Image bedachte zentralasiatische Steppenland wehen, das
sich selbst gern als demokratisch sieht und sich auf der internationalen
Bühne als „neutral“ gibt, wie bei der Ende April abgehaltenen
Friedenskonferenz für Syrien. Nicht umsonst machten kürzlich auch hier die
Worte des in der Ukraine frisch gewählten [2][Präsidenten Wolodimir
Selenski] die Runde: „Postsowjetische Länder, schaut uns an! Alles ist
möglich!“
4 May 2019
## LINKS
[1] /Kasachstans-Praesident-tritt-zurueck/!5581236
[2] /Praesidentschaftswahl-in-der-Ukraine/!5586254
## AUTOREN
Julia Boxler
## TAGS
Kasachstan
Wahlen
Aktivismus
Kasachstan
Kasachstan
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