Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Undurchsichtige Macht in Algerien
> Präsident Bouteflika hat abgedankt. Nun befürchten viele Algerier, dass
> Armee und Geheimdienste die Herrschaft unter sich aufteilen.
Bild: Auch diese Frau fordert auf der Straße die Gründung einer zweiten Repub…
Seit dem 22. Februar kommt es in Algerien immer wieder zu großen
Demonstrationen gegen das Regime. Die Proteste sind von historischem
Ausmaß: Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1962 hat das Land keine
solche Bewegung mehr erlebt. Die Demonstrationen sind friedlich, und sie
erstrecken sich über das ganze Land inklusive der Städte im Süden.
Jeden Freitag, am ersten Tag des algerischen Wochenendes, gehen
Hunderttausende auf die Straße. Unter den Demonstranten sind alle
Altersstufen vertreten, aber vor allem die Jugend ist aktiv, die sich bis
jetzt nicht besonders für Politik interessiert hat. Auch an den restlichen
Tagen reißen die Aktionen nicht ab, es gibt Sit-ins und Protestmärsche von
einzelnen Berufsständen (zum Beispiel Anwälten, Hochschullehrern oder
Journalisten) und Pensionären.
Ihre vordringlichste gemeinsame Forderung – ein Ende der Herrschaft des
schwer kranken 82-jährigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika – haben sie
durchgesetzt: Am späten Abend des 2. April überreichte Bouteflika dem
Präsidenten des algerischen Verfassungsrats seine Rücktrittserklärung.
Aber die Demonstranten, die mit dem Ruf „Silmiya!“ („Friedlich!“) durch…
Straßen ziehen, protestieren auch gegen die Entourage des Präsidenten, vor
allem seine beiden Brüder Said und Nacer Bouteflika. Sie fordern das Ende
des Regimes und die Gründung einer zweiten Republik; manche wollen eine
verfassunggebende Versammlung. Die Ordnungskräfte haben sich in den ersten
Wochen der Proteste weitgehend zurückgehalten; einige Polizisten und
Gendarmen haben sich sogar mit den Demonstrierenden solidarisiert.
Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, wohin Bouteflika Anfang Februar zu
einem „regelmäßigen Gesundheitscheck“ gereist war, hatte sich der
Ex-Präsident in mehreren Briefen an die Algerier gewandt. Darin teilte er
mit, er strebe keine fünfte Amtszeit mehr an, und sagte die für den 18.
April geplante Präsidentschaftswahl ab.
## Wer entscheidet hinter den Kulissen für Bouteflika?
Angesichts des schlechten Gesundheitszustands Bouteflikas fragen sich die
Algerier allerdings schon seit Längerem, wer hinter den Kulissen für ihn
entscheidet. Wer schrieb seine Briefe an das Volk? Wer ernennt oder
entlässt den Premierminister? Und wer hat Bouteflika dazu gedrängt, nun
doch seinen Hut zu nehmen?
Es geht dabei um die Identität derjenigen, die man in Algerien als „die
Entscheider“ bezeichnet (les décideurs). Der Begriff wurde zum ersten Mal
von Muhammad Boudiaf, dem legendäre Mitbegründer der Nationalen
Befreiungsfront (FLN), gebraucht, als er im Januar 1992 aus dem Exil
zurückkehrte. Damals durchlebte Algerien eine schwere politische Krise.
Präsident Chadli Bendjedid war von der Armee zum Rücktritt gezwungen
worden, und der Hohe Sicherheitsrat (HCS) hatte die zweite Runde der
Parlamentswahlen abgesagt, um einen Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS)
zu verhindern, die den ersten Durchgang gewonnen hatte.(1)
„Ich habe mit den décideurs gesprochen und mich entschieden, dem Ruf
Algeriens zu folgen“, verkündete Boudiaf damals und rechtfertigte damit
seine Ernennung zum Vorsitzenden des Hohen Staatsrats (HCE) – einer
Übergangsinstitution, die das konstitutionelle Vakuum nach der Abdankung
Benjedids füllen sollte.
Boudiaf, der nur knapp sechs Monate später von einem seiner Leibwächter
ermordet wurde, hütete sich allerdings, die „Entscheider“ beim Namen zu
nennen. Mit ihm hatte man sich einen langjährigen Oppositionellen ins Boot
geholt, der das Regime stets geschmäht hatte(2) und ihm nun historische
Legitimation verleihen sollte.
Die Algerier waren schon damals überzeugt, dass Boudiaf und der HCE nur als
Fassade dienen sollten. Im April 1992 gab Boudiaf gegenüber Journalisten
zu, dass er „nicht alle Entscheider“ kenne. Später fielen oft die Namen der
Generäle Larbi Belkheir, Khaled Nezzar, Mohamed Mediène – genannt „Toufik…
– und Mohamed Lamari. Aber bis heute weiß niemand ganz genau, wie und mit
welchen internen Absprachen die „Janvieristes“(3) seinerzeit
entschieden, den „Algerischen Frühling“ zu beenden, den demokratischen
Übergangsprozess also, der nach den blutigen Unruhen vom Oktober 1988
begonnen hatte.
Damals hatte das Regime auf hunderte junge Demonstranten schießen lassen –
Schätzungen gehen von etwa 600 Toten aus –, setzte in der Folge jedoch
einige Reformen in Gang, darunter die Einführung eines Mehrparteiensystems
und die Liberalisierung der Presse.
## Die Stabiliät des Regimes hat oberste Priorität
Das Wesen der aktuellen Proteste unterscheidet sich zwar von den Unruhen
Ende der 1980er Jahre, aber auch in der aktuellen Krise geht es um die
Undurchsichtigkeit „der Macht“. „Wer sind die Strippenzieher, die
Bouteflika tanzen lassen?“, stand auf einem Spruchband der Demonstration
in Algier am 15. März. „Warum verstecken sich die Entscheider?“, war auf
einem anderen zu lesen. Diese Fragen sind nicht neu. Um sie zu beantworten,
muss man nachverfolgen, wie Präsident Bouteflika im Verlauf seiner vier
Amtszeiten (1999–2019) seine persönliche Macht innerhalb des Regimes immer
weiter ausgebaut hat.
1965 stürzte Houari Boumediene, der den Großteil der Macht auf sich und
seine Gefolgsleute im Revolutionsrat (Conseil de la Revolution) vereinigt
hatte, den ersten Staatspräsidenten Ben Bella und fungierte dann selbst bis
1978 als Präsident. Unter Chadli Benjedid (1979–1992) entwickelten sich
innerhalb des Regimes drei Machtzentren: der Generalstab der Nationalen
Volksarmee (ANP), die Geheimdienste – darunter der Militärgeheimdienst (SM)
– und der Präsident mit seinen Sicherheits- und Wirtschaftsberatern.
Bei Entscheidungen in sensiblen Bereichen übermittelten alle drei Lager
ihre jeweiligen Einschätzungen und Empfehlungen. Dabei rivalisierten sie
untereinander, allerdings stets in dem Bewusstsein, dass die Stabilität des
Regimes oberste Priorität hätte.
Die verbreitete Vorstellung, die Einheitspartei FLN habe Algerien seit der
Unabhängigkeit geführt, ist falsch. Zusammen mit der Armee konnte die
Partei sich zwar auf ihre im Unabhängigkeitskampf erlangte historische
Legitimität stützen, doch sie stellte kein viertes Machtzentrum dar: Die
FLN-Kader hatten kaum Einfluss auf die Geheimdienste oder den Generalstab,
und das Politbüro der FLN wurde vom Präsidentenbüro kontrolliert.
## Die „Reinheit“ des Systems
Vor der ersten Wahl Bouteflikas 1999 hatten die Armee und die Geheimdienste
schon seit langer Zeit die Oberhand über die Präsidentschaft gewonnen. 1992
hatten sie Präsident Benjedid entfernt und sorgten auch für den Rücktritt
von Präsident Liamine Zéroual (1995–1999), weil dieser sich weigerte, ein
1997 zwischen den Geheimdiensten und der AIS, dem bewaffneten Arm der
Islamischen Heilsfront (FIS) geschlossenes Abkommen aufzukündigen. Nachdem
Bouteflika den Präsidentenpalast El Mouradia hoch über Algier bezogen
hatte, machte er sich sehr schnell daran, dem Amt des Präsidenten wieder
mehr Gewicht zu verleihen. Er werde niemals nur ein „Dreiviertelpräsident“
sein, verkündete er.
Dieser Ausspruch ließ zwei zentrale Absichten Bouteflikas erkennen: Erstens
wollte er keinesfalls einem neuen Algerischen Frühling den Weg bereiten.
Sein Ziel war es, die ursprüngliche „Reinheit“ des Systems
wiederherzustellen, also die Bündelung der Macht von Armee und
Geheimdiensten unter der Kontrolle eines mächtigen Präsidenten, wie es
unter dem 1978 verstorbenen Houari Boumediene der Fall gewesen war.
Dass Bouteflika seinerzeit die Nachfolge seines Ziehvaters Boumediene
verwehrt worden war, hat auch mit der Frage der politischen Kultur zu tun.
Bouteflika, der zwischen 1963 und 1979 Bous Außenminister gewesen war,
gehört zu einer Generation, die keinerlei Einschränkungen in der Ausübung
der politischen Macht akzeptiert. Seine seltenen Reden über die Demokratie
konnten nie überzeugen, auch nicht, als er am 8. Mai 2012 in Setif
verkündete, dass die Generation der Revolution „am Ende“ und für ihn die
Zeit gekommen sei, die Verantwortung aus der Hand zu geben. Trotz dieser
Ankündigungen trat er kurze Zeit später seine vierte Amtszeit an und sorgte
dafür, dass die Politik der Hinterzimmer weitergeführt wurde.
Zweitens wollte Bouteflika keine bloße Marionette der Armee sein. Trotz der
Allmacht, die man der Nationalen Volksarmee zuschreibt, erwies sich dieses
Vorhaben nicht als komplett aussichtslos. Die Militärs, auch die in den
Geheimdiensten, waren stets bereit, ein Minimum an formalem Legalismus zu
respektieren. Und in dieser Hinsicht war die Unterschrift des Präsidenten –
mit der hohe Funktionäre oder Militärs ernannt, entlassen oder in den
Ruhestand versetzt werden können – eine starke Waffe, von der Bouteflika im
Verlauf der vergangenen 20 Jahre ausgiebig Gebrauch gemacht hat.
Seine ersten drei Amtszeiten (1999–2014) waren geprägt vom Umbau und der
Stärkung des präsidentiellen Machtzentrums – auf Kosten der beiden anderen.
Dabei profitierte Bouteflika auch von seinem Prestige als geschickter
Diplomat: Den Generälen und Geheimdienstlern versprach er, das Bild
Algeriens im Ausland zu verbessern und das Schreckgespenst der
internationalen Strafverfolgung zu vertreiben. Denn viele Militärs waren
während des „schwarzen Jahrzehnts“ (1991–2000) daran beteiligt gewesen,
Menschen massenhaft verschwinden zu lassen und zu ermorden.
## Scharfsinniger Manipulator
Nach innen wie nach außen machte sich Bouteflika sein Image als Mann, „der
den Frieden zurückgebracht hat“, zunutze – obwohl der Frieden bereits vor
seinem Amtsantritt ausgehandelt worden war. Und er erinnerte die Generäle
stets daran, was sie ihm schuldeten und was sie durch seine Absetzung
verlieren würden. Wenn er diesen oder jenen General in den Ruhestand
versetzte oder, wie 2004, auf den Rücktritt eines „Janvieristen“ vom
Kaliber Mohamed Lamaris drängte – langjähriger Generalstabschef und
Architekt des Antiterrorkampfs gegen die bewaffneten islamistischen
Gruppen –, widersetzten sich die anderen „Entscheider“ unter den Generäl…
nicht.
Als scharfsinniger Manipulator verstand es Bouteflika auch, die Rivalität
zwischen dem Generalstab – den „Militärs in Uniform“ – und den
Geheimdiensten – den „Militärs in Zivil“ – auszunutzen. Durch den Krie…
den 1990er Jahren hatte der Geheimdienst DRS (Département du
renseignement et de la sécurité, Nachfolger der SM) immer mehr Einfluss
auf die Politik gewonnen. Folglich schmiedete Bouteflika 2002 ein Bündnis
mit General Ahmed Gaid Salah, der seit 2004 Generalstabschef und seit 2013
Vizeverteidigungsminister ist.
„Der älteste aktive Soldat der Welt“, wie der heute 79 Jahre alte Salah in
Algerien ironisch genannt wird, verkörpert seither die Rache der „Militärs
in Uniform“ an den Kollegen von den Diensten. Zahlreiche Entlassungen in
den höchsten Rängen der Armee haben Salahs Position gefestigt und ihn zu
einem Stützpfeiler des Bouteflika-Systems gemacht. „General Ahmed Gaid
Salah hat Bouteflika viel zu verdanken“, sagt ein hoher Offizier. Kein
Wunder also, dass der Generalstabschef eine fünfte Amtszeit Bouteflikas
zunächst unterstützte.
Die Einhegung der algerischen Geheimdienste durch den Präsidenten war
allerdings kein leichtes Unterfangen. Nach einer Phase des Rückzugs
erlangte der DRS ab 2010 wieder mehr Einfluss. Dabei machte er sich diverse
Korruptionsaffären zunutze, in die Vertraute des Präsidenten verstrickt
waren. So brachten die Geheimdienstler einen großen Teil des Managements
von Sonatrach, dem staatlichen Mineralölunternehmen, zu Fall und zwangen
den damaligen Energieminister Chakib Khelil, einen engen Vertrauten
Bouteflikas, zum Rücktritt.
Der Angriff auf die Erdgasförderanlage in In Aménas im Januar 2013 durch
die Dschihadistengruppe al-Muwaqqi’un bil-Dima („Die mit Blut
unterzeichnen“), der mit einer Geiselnahme einherging, gab Bouteflika und
den Militärs in Uniform Gelegenheit, den Schwung des DRS zu stoppen. Der
Fall In Aménas offenbarte schwere Versäumnisse des Geheimdienstes und
öffnete so den Weg für dessen Restrukturierung. Im September 2015 wurde
schließlich der langjährige DRS-Chef General „Toufik“ Mediène entmachtet.
Der DRS wurde durch die Direction des services de sécurité (DSS) abgelöst,
die nun direkt dem Präsidenten unterstand. Auch der Generalstab übernahm
einen Teil der Aufgaben, die zuvor dem DRS oblagen. Im Frühjahr 2013 stand
Bouteflika kurz vor seinem Ziel, ein Vierviertelpräsident zu sein. Doch
dann machte ihm seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung: Nach
einem Schlaganfall am 27. April 2013 war er nicht mehr in der Lage, den
Wahlkampf für seine vierte Amtszeit selbst zu bestreiten.
## Zustände wie in einer Golfmonarchie
Seit diesem Zeitpunkt wurde das algerische Regime noch undurchsichtiger.
Allerdings ließen sich bestimmte Veränderungen innerhalb der
Präsidentschaft beobachten. Seit seiner ersten Amtszeit hatte Bouteflika im
Bemühen, den Einfluss der Militärs zurückzudrängen, die
Führungspositionen ziviler Institutionen (Verfassungsgericht,
Rechnungshof etc.) mit Vertrauten besetzt, die oft aus dem Westen Algeriens
stammten.
Er sorgte dafür, dass das Parlament, die Gewerkschaften und
Arbeitnehmerverbände ihm vollständig ergeben waren; deren Lobeshymnen und
Liebeserklärungen erinnerten bisweilen an die Zustände in einer
Golfmonarchie. Resultat war ein Personenkult, der in der Geschichte der
Unabhängigkeit Algeriens einmalig ist. Der Präsident, dessen Konterfei
allgegenwärtig ist, wird als fakhamatouhou (Seine Exzellenz, Seine Hoheit)
angeredet.
Um seine Macht zu festigen, umgab sich Bouteflika auch mit Verwandten, etwa
seinem Bruder Said, ein 61-jähriger Hochschullehrer. Diese Leute übernahmen
die Rolle von Beratern ohne präzise definierten Aufgabenbereich, aber mit
dem blinden Vertrauen des Rais. Im Namen des Präsidenten wurden sie direkt
bei Ministern vorstellig, aber auch bei Walis (Regionalpräfekten) und sogar
bei westlichen Diplomaten in Algier.
Der Premierminister fungierte entweder als treuer Vollstrecker der
Anweisungen des Präsidentenclans oder, wie der am 12. März zurückgetretene
Ahmed Ouyahia, als eine Art Mittler zwischen den verschiedenen
Machtzentren des Regimes. Eines aber hatten alle Premiers der Ära
Bouteflika gemeinsam: Sie hatten keinerlei Handlungsfreiheit gegenüber dem
Präsidenten oder, seit 2013, gegenüber seinem Clan.
Innerhalb von Bouteflikas innerstem Zirkel hatte sich in den vergangenen
Jahren ein neues Machtzentrum gebildet. Es bestand aus Geschäftsleuten, die
Said Bouteflika nahestanden, darunter auch solche, die bis Anfang der
2000er Jahre noch kleine Unternehmer waren und mit zahlreichen
Infrastrukturaufträgen des Staats reich geworden sind. Mit Öl- und
Gasexporten hat Algerien zwischen 2000 und 2015 mehr als eine Billionen
US-Dollar an Devisen eingenommen. Diese Rente hielt den auf Korruption
basierenden algerischen Kapitalismus am Leben (siehe Text auf Seite 6).
Niemand symbolisierte den Aufstieg der politisch einflussreichen Oligarchen
deutlicher als Ali Haddad, der langjährige Präsident des mit Abstand
wichtigsten Unternehmerverbands (FCE). Dem FCE gelang es zum Beispiel im
Sommer 2017, den gerade erst ernannten Premierminister Abdelmadjid
Tebboune gleich wieder abzusägen, weil dieser plante, den Bezug von
Devisen für private Importeure zu beschneiden.
## Offen, wie es politisch weitergeht
Als Haddad Ende März von seinem Amt als FCE-Präsident zurücktrat und in der
Nacht auf den 31. März an einem algerisch-tunesischen Grenzübergang wegen
Devisenvergehen festgenommen wurde, war das ein klares Zeichen dafür, dass
es mit der Präsidentschaft Bouteflikas zu Ende ging. Mittlerweile dürfen
zahlreiche dem Bouteflika-Clan nahestehende Geschäftsleute Algerien nicht
mehr verlassen, Privatflugzeuge haben auf den Flughäfen des Landes
Startverbot.
Schon in den Wochen vor Haddads Verhaftung war deutlich geworden, dass sich
der Generalstab angesichts der anhaltenden Proteste immer stärker von
Bouteflika distanzierte. Nachdem Gaid Salah am 6. März noch behauptet
hatte, die Proteste seien „das Werk bestimmter Kräfte, die Algerien in die
Jahre der Hölle zurückwerfen wollen“, änderte der General den Ton und
verkündete am 10. März: „Algerien kann sich seines Volkes glücklich
schätzen, und die Armee kann sich ihres Volkes glücklich schätzen.“
Zehn Tage später begrüßte er das „tiefe Volksbewusstsein der
Demonstranten“ und versicherte, [1][dass es für jedes Problem eine, wenn
nicht gar mehrere Lösungen gebe]. Am 26. März forderte Gaid Salah
schließlich öffentlich die Anwendung des Artikels 102 der algerischen
Verfassung, sprich die Absetzung des Präsidenten aus gesundheitlichen
Gründen.
Noch im vergangenen Herbst hatte Bouteflikas Entourage versucht, dem
Generalstab und den Geheimdiensten die Idee einer Verlängerung der vierten
Amtszeit zu verkaufen. Aus fünf Jahren sollten sieben werden, an deren Ende
Bouteflika abtreten würde. Damit blieb man der alten Strategie des Regimes
treu: Zeit gewinnen um jeden Preis. Die Option einer auf sieben Jahre
verlängerten Amtszeit wurde allerdings Ende 2018 aufgegeben. Es gab einfach
keine vernünftigen Gründe, die man als Rechtfertigung hätte vorbringen
können, zudem wäre eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen.
Ende März unternahm der Präsidentenclan offenbar einen letzten Versuch,
zumindest mittelbar die Kontrolle über die politischen Geschicke des Landes
zu behalten: Am 2. April – dem Tag von Bouteflikas Rücktritt – verschickte
Ex-Präsident Liamine Zéroual eine Mitteilung an algerische Medienhäuser, in
der er erklärte, er habe einige Tage zuvor von Ex-DRS-Chef „Toufik“ Mediè…
den Vorschlag erhalten, den Vorsitz einer „Instanz zur Organisation einer
Übergangsperiode“ zu übernehmen.(4) Mediène habe ihm bestätigt, so Zérou…
dass der Vorschlag mit Said Bouteflika abgestimmt sei.
Nach dem Rücktritt Bouteflikas ist nun völlig offen, wie es politisch in
Algerien weitergeht. Laut algerischer Verfassung übernimmt bei einem
Rücktritt des Staatsoberhaupts der Präsident des Oberhauses des algerischen
Parlaments den Präsidentenposten – um in einer Interimsperiode von 90 Tagen
Neuwahlen zu organisieren. Gleichzeitig bleibt die amtierende Regierung im
Amt. Das Problem ist allerdings, dass sowohl Parlamentspräsident Abdelkader
Bensalah als auch der amtierende Regierungschef Noureddine Bedoui und der
Präsident des algerischen Verfassungsrates Tayeb Belaïz als Männer des
Regimes gelten und von den Demonstranten auf der Straße nicht als Köpfe
eines glaubhaften demokratischen Übergangs akzeptiert werden.
Die Protestbewegung fordert mittlerweile lautstark einen Regimewechsel, der
über die Abdankung des Präsidentenclans hinausgehen soll. Die Parole
„Yatnahawga’“ („Sie sollen alle abhauen“) macht die Runde. Am Freitag…
5. April, gingen erneut Hunderttausende auf die Straße.
Vieles wird nun davon abhängen, wie sich die Armee und die Geheimdienste
verhalten. Werden die Militärs, ob in Uniform oder in Zivil, einen
grundlegenden politischen Wandel akzeptieren und auf ihren Einfluss
verzichten? „Die Armee hat Angst davor, Rechenschaft ablegen zu müssen und
ihre finanziellen Vorteile zu verlieren“, sagt der bereits zitierte
Offizier. „Und sie fürchtet, unter die Kontrolle von Zivilisten zu
geraten.“
Während die algerische Bevölkerung, der viele bis vor Kurzem völlige
Resignation nachsagten, eine beeindruckende Reife beweist, ist es jetzt an
der Armee, die Revolution zu Ende zu bringen. Sie muss das politische Feld
räumen.
(1) Siehe Abed Charef, „Algérie. Le grand dérapage“, La Tour-d’Aigues
(L’Aube) 1994.
(2) Mohamed Boudiaf, „Où va l’Algérie ? Notre révolution“, Paris (Édi…
Librairie de l’Étoile), 1964.
(3) Wörtlich: „Januaristen“, nach dem Zeitpunkt der Aussetzung des
Wahlprozesses im Januar 1992.
(4) Siehe „Liamine Zéroual enfonce le général Toufik et Said Bouteflika“,
TSA Algerie, 2. April 2019.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
14 Apr 2019
## LINKS
[1] /Bouteflika-vor-dem-Aus/!5581532
## AUTOREN
Akram Belkaïd
Lakhdar Benchiba
## TAGS
Algerien
Abdelaziz Bouteflika
Zehn Jahre Arabischer Frühling
Abdelaziz Bouteflika
Algerien
Algerien
Algerien
Algerien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Zulauf für Massenproteste: Algeriens Jugend will mehr
Bisherige Zugeständnisse der Staatsführung reichen den Demonstranten nicht
aus. Sie fordern den Rücktritt von Armeechef Ahmed Gaïd Salah.
Neue Massenproteste in Algerien: „Nein zur Herrschaft des Militärs“
Wieder einmal zog sich am Freitag ein kilometerlanger Demonstrationszug
durch die Hauptstadt Algier. Der Protest richtet sich nun gegen den
Armeechef.
Kommentar Algerien im Wandel: Und jetzt die Systemfrage
Bouteflika ist weg. Restauriert sich das algerische Regime nun von innen
heraus? Oder erzwingt die Protestbewegung einen wahren Wandel?
20-jährige Amtszeit in Algerien endet: Bouteflika tritt als Präsident zurück
Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika ist nach wochenlangen
Massenprotesten mit sofortiger Wirkung zurückgetreten. Auch das Militär
hatte ihn dazu gedrängt.
Algeriens Präsident vor dem Aus: Bouteflika tritt zurück
Nach anhaltenden Massenprotesten hat Algeriens Präsident Abdelaziz
Bouteflika seinen Rückzug bis zum 28. April bekanntgegeben. Es ist ein
Abschied auf Raten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.