# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Undurchsichtige Macht in Algerien | |
> Präsident Bouteflika hat abgedankt. Nun befürchten viele Algerier, dass | |
> Armee und Geheimdienste die Herrschaft unter sich aufteilen. | |
Bild: Auch diese Frau fordert auf der Straße die Gründung einer zweiten Repub… | |
Seit dem 22. Februar kommt es in Algerien immer wieder zu großen | |
Demonstrationen gegen das Regime. Die Proteste sind von historischem | |
Ausmaß: Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1962 hat das Land keine | |
solche Bewegung mehr erlebt. Die Demonstrationen sind friedlich, und sie | |
erstrecken sich über das ganze Land inklusive der Städte im Süden. | |
Jeden Freitag, am ersten Tag des algerischen Wochenendes, gehen | |
Hunderttausende auf die Straße. Unter den Demonstranten sind alle | |
Altersstufen vertreten, aber vor allem die Jugend ist aktiv, die sich bis | |
jetzt nicht besonders für Politik interessiert hat. Auch an den restlichen | |
Tagen reißen die Aktionen nicht ab, es gibt Sit-ins und Protestmärsche von | |
einzelnen Berufsständen (zum Beispiel Anwälten, Hochschullehrern oder | |
Journalisten) und Pensionären. | |
Ihre vordringlichste gemeinsame Forderung – ein Ende der Herrschaft des | |
schwer kranken 82-jährigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika – haben sie | |
durchgesetzt: Am späten Abend des 2. April überreichte Bouteflika dem | |
Präsidenten des algerischen Verfassungsrats seine Rücktrittserklärung. | |
Aber die Demonstranten, die mit dem Ruf „Silmiya!“ („Friedlich!“) durch… | |
Straßen ziehen, protestieren auch gegen die Entourage des Präsidenten, vor | |
allem seine beiden Brüder Said und Nacer Bouteflika. Sie fordern das Ende | |
des Regimes und die Gründung einer zweiten Republik; manche wollen eine | |
verfassunggebende Versammlung. Die Ordnungskräfte haben sich in den ersten | |
Wochen der Proteste weitgehend zurückgehalten; einige Polizisten und | |
Gendarmen haben sich sogar mit den Demonstrierenden solidarisiert. | |
Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, wohin Bouteflika Anfang Februar zu | |
einem „regelmäßigen Gesundheitscheck“ gereist war, hatte sich der | |
Ex-Präsident in mehreren Briefen an die Algerier gewandt. Darin teilte er | |
mit, er strebe keine fünfte Amtszeit mehr an, und sagte die für den 18. | |
April geplante Präsidentschaftswahl ab. | |
## Wer entscheidet hinter den Kulissen für Bouteflika? | |
Angesichts des schlechten Gesundheitszustands Bouteflikas fragen sich die | |
Algerier allerdings schon seit Längerem, wer hinter den Kulissen für ihn | |
entscheidet. Wer schrieb seine Briefe an das Volk? Wer ernennt oder | |
entlässt den Premierminister? Und wer hat Bouteflika dazu gedrängt, nun | |
doch seinen Hut zu nehmen? | |
Es geht dabei um die Identität derjenigen, die man in Algerien als „die | |
Entscheider“ bezeichnet (les décideurs). Der Begriff wurde zum ersten Mal | |
von Muhammad Boudiaf, dem legendäre Mitbegründer der Nationalen | |
Befreiungsfront (FLN), gebraucht, als er im Januar 1992 aus dem Exil | |
zurückkehrte. Damals durchlebte Algerien eine schwere politische Krise. | |
Präsident Chadli Bendjedid war von der Armee zum Rücktritt gezwungen | |
worden, und der Hohe Sicherheitsrat (HCS) hatte die zweite Runde der | |
Parlamentswahlen abgesagt, um einen Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) | |
zu verhindern, die den ersten Durchgang gewonnen hatte.(1) | |
„Ich habe mit den décideurs gesprochen und mich entschieden, dem Ruf | |
Algeriens zu folgen“, verkündete Boudiaf damals und rechtfertigte damit | |
seine Ernennung zum Vorsitzenden des Hohen Staatsrats (HCE) – einer | |
Übergangsinstitution, die das konstitutionelle Vakuum nach der Abdankung | |
Benjedids füllen sollte. | |
Boudiaf, der nur knapp sechs Monate später von einem seiner Leibwächter | |
ermordet wurde, hütete sich allerdings, die „Entscheider“ beim Namen zu | |
nennen. Mit ihm hatte man sich einen langjährigen Oppositionellen ins Boot | |
geholt, der das Regime stets geschmäht hatte(2) und ihm nun historische | |
Legitimation verleihen sollte. | |
Die Algerier waren schon damals überzeugt, dass Boudiaf und der HCE nur als | |
Fassade dienen sollten. Im April 1992 gab Boudiaf gegenüber Journalisten | |
zu, dass er „nicht alle Entscheider“ kenne. Später fielen oft die Namen der | |
Generäle Larbi Belkheir, Khaled Nezzar, Mohamed Mediène – genannt „Toufik… | |
– und Mohamed Lamari. Aber bis heute weiß niemand ganz genau, wie und mit | |
welchen internen Absprachen die „Janvieristes“(3) seinerzeit | |
entschieden, den „Algerischen Frühling“ zu beenden, den demokratischen | |
Übergangsprozess also, der nach den blutigen Unruhen vom Oktober 1988 | |
begonnen hatte. | |
Damals hatte das Regime auf hunderte junge Demonstranten schießen lassen – | |
Schätzungen gehen von etwa 600 Toten aus –, setzte in der Folge jedoch | |
einige Reformen in Gang, darunter die Einführung eines Mehrparteiensystems | |
und die Liberalisierung der Presse. | |
## Die Stabiliät des Regimes hat oberste Priorität | |
Das Wesen der aktuellen Proteste unterscheidet sich zwar von den Unruhen | |
Ende der 1980er Jahre, aber auch in der aktuellen Krise geht es um die | |
Undurchsichtigkeit „der Macht“. „Wer sind die Strippenzieher, die | |
Bouteflika tanzen lassen?“, stand auf einem Spruchband der Demonstration | |
in Algier am 15. März. „Warum verstecken sich die Entscheider?“, war auf | |
einem anderen zu lesen. Diese Fragen sind nicht neu. Um sie zu beantworten, | |
muss man nachverfolgen, wie Präsident Bouteflika im Verlauf seiner vier | |
Amtszeiten (1999–2019) seine persönliche Macht innerhalb des Regimes immer | |
weiter ausgebaut hat. | |
1965 stürzte Houari Boumediene, der den Großteil der Macht auf sich und | |
seine Gefolgsleute im Revolutionsrat (Conseil de la Revolution) vereinigt | |
hatte, den ersten Staatspräsidenten Ben Bella und fungierte dann selbst bis | |
1978 als Präsident. Unter Chadli Benjedid (1979–1992) entwickelten sich | |
innerhalb des Regimes drei Machtzentren: der Generalstab der Nationalen | |
Volksarmee (ANP), die Geheimdienste – darunter der Militärgeheimdienst (SM) | |
– und der Präsident mit seinen Sicherheits- und Wirtschaftsberatern. | |
Bei Entscheidungen in sensiblen Bereichen übermittelten alle drei Lager | |
ihre jeweiligen Einschätzungen und Empfehlungen. Dabei rivalisierten sie | |
untereinander, allerdings stets in dem Bewusstsein, dass die Stabilität des | |
Regimes oberste Priorität hätte. | |
Die verbreitete Vorstellung, die Einheitspartei FLN habe Algerien seit der | |
Unabhängigkeit geführt, ist falsch. Zusammen mit der Armee konnte die | |
Partei sich zwar auf ihre im Unabhängigkeitskampf erlangte historische | |
Legitimität stützen, doch sie stellte kein viertes Machtzentrum dar: Die | |
FLN-Kader hatten kaum Einfluss auf die Geheimdienste oder den Generalstab, | |
und das Politbüro der FLN wurde vom Präsidentenbüro kontrolliert. | |
## Die „Reinheit“ des Systems | |
Vor der ersten Wahl Bouteflikas 1999 hatten die Armee und die Geheimdienste | |
schon seit langer Zeit die Oberhand über die Präsidentschaft gewonnen. 1992 | |
hatten sie Präsident Benjedid entfernt und sorgten auch für den Rücktritt | |
von Präsident Liamine Zéroual (1995–1999), weil dieser sich weigerte, ein | |
1997 zwischen den Geheimdiensten und der AIS, dem bewaffneten Arm der | |
Islamischen Heilsfront (FIS) geschlossenes Abkommen aufzukündigen. Nachdem | |
Bouteflika den Präsidentenpalast El Mouradia hoch über Algier bezogen | |
hatte, machte er sich sehr schnell daran, dem Amt des Präsidenten wieder | |
mehr Gewicht zu verleihen. Er werde niemals nur ein „Dreiviertelpräsident“ | |
sein, verkündete er. | |
Dieser Ausspruch ließ zwei zentrale Absichten Bouteflikas erkennen: Erstens | |
wollte er keinesfalls einem neuen Algerischen Frühling den Weg bereiten. | |
Sein Ziel war es, die ursprüngliche „Reinheit“ des Systems | |
wiederherzustellen, also die Bündelung der Macht von Armee und | |
Geheimdiensten unter der Kontrolle eines mächtigen Präsidenten, wie es | |
unter dem 1978 verstorbenen Houari Boumediene der Fall gewesen war. | |
Dass Bouteflika seinerzeit die Nachfolge seines Ziehvaters Boumediene | |
verwehrt worden war, hat auch mit der Frage der politischen Kultur zu tun. | |
Bouteflika, der zwischen 1963 und 1979 Bous Außenminister gewesen war, | |
gehört zu einer Generation, die keinerlei Einschränkungen in der Ausübung | |
der politischen Macht akzeptiert. Seine seltenen Reden über die Demokratie | |
konnten nie überzeugen, auch nicht, als er am 8. Mai 2012 in Setif | |
verkündete, dass die Generation der Revolution „am Ende“ und für ihn die | |
Zeit gekommen sei, die Verantwortung aus der Hand zu geben. Trotz dieser | |
Ankündigungen trat er kurze Zeit später seine vierte Amtszeit an und sorgte | |
dafür, dass die Politik der Hinterzimmer weitergeführt wurde. | |
Zweitens wollte Bouteflika keine bloße Marionette der Armee sein. Trotz der | |
Allmacht, die man der Nationalen Volksarmee zuschreibt, erwies sich dieses | |
Vorhaben nicht als komplett aussichtslos. Die Militärs, auch die in den | |
Geheimdiensten, waren stets bereit, ein Minimum an formalem Legalismus zu | |
respektieren. Und in dieser Hinsicht war die Unterschrift des Präsidenten – | |
mit der hohe Funktionäre oder Militärs ernannt, entlassen oder in den | |
Ruhestand versetzt werden können – eine starke Waffe, von der Bouteflika im | |
Verlauf der vergangenen 20 Jahre ausgiebig Gebrauch gemacht hat. | |
Seine ersten drei Amtszeiten (1999–2014) waren geprägt vom Umbau und der | |
Stärkung des präsidentiellen Machtzentrums – auf Kosten der beiden anderen. | |
Dabei profitierte Bouteflika auch von seinem Prestige als geschickter | |
Diplomat: Den Generälen und Geheimdienstlern versprach er, das Bild | |
Algeriens im Ausland zu verbessern und das Schreckgespenst der | |
internationalen Strafverfolgung zu vertreiben. Denn viele Militärs waren | |
während des „schwarzen Jahrzehnts“ (1991–2000) daran beteiligt gewesen, | |
Menschen massenhaft verschwinden zu lassen und zu ermorden. | |
## Scharfsinniger Manipulator | |
Nach innen wie nach außen machte sich Bouteflika sein Image als Mann, „der | |
den Frieden zurückgebracht hat“, zunutze – obwohl der Frieden bereits vor | |
seinem Amtsantritt ausgehandelt worden war. Und er erinnerte die Generäle | |
stets daran, was sie ihm schuldeten und was sie durch seine Absetzung | |
verlieren würden. Wenn er diesen oder jenen General in den Ruhestand | |
versetzte oder, wie 2004, auf den Rücktritt eines „Janvieristen“ vom | |
Kaliber Mohamed Lamaris drängte – langjähriger Generalstabschef und | |
Architekt des Antiterrorkampfs gegen die bewaffneten islamistischen | |
Gruppen –, widersetzten sich die anderen „Entscheider“ unter den Generäl… | |
nicht. | |
Als scharfsinniger Manipulator verstand es Bouteflika auch, die Rivalität | |
zwischen dem Generalstab – den „Militärs in Uniform“ – und den | |
Geheimdiensten – den „Militärs in Zivil“ – auszunutzen. Durch den Krie… | |
den 1990er Jahren hatte der Geheimdienst DRS (Département du | |
renseignement et de la sécurité, Nachfolger der SM) immer mehr Einfluss | |
auf die Politik gewonnen. Folglich schmiedete Bouteflika 2002 ein Bündnis | |
mit General Ahmed Gaid Salah, der seit 2004 Generalstabschef und seit 2013 | |
Vizeverteidigungsminister ist. | |
„Der älteste aktive Soldat der Welt“, wie der heute 79 Jahre alte Salah in | |
Algerien ironisch genannt wird, verkörpert seither die Rache der „Militärs | |
in Uniform“ an den Kollegen von den Diensten. Zahlreiche Entlassungen in | |
den höchsten Rängen der Armee haben Salahs Position gefestigt und ihn zu | |
einem Stützpfeiler des Bouteflika-Systems gemacht. „General Ahmed Gaid | |
Salah hat Bouteflika viel zu verdanken“, sagt ein hoher Offizier. Kein | |
Wunder also, dass der Generalstabschef eine fünfte Amtszeit Bouteflikas | |
zunächst unterstützte. | |
Die Einhegung der algerischen Geheimdienste durch den Präsidenten war | |
allerdings kein leichtes Unterfangen. Nach einer Phase des Rückzugs | |
erlangte der DRS ab 2010 wieder mehr Einfluss. Dabei machte er sich diverse | |
Korruptionsaffären zunutze, in die Vertraute des Präsidenten verstrickt | |
waren. So brachten die Geheimdienstler einen großen Teil des Managements | |
von Sonatrach, dem staatlichen Mineralölunternehmen, zu Fall und zwangen | |
den damaligen Energieminister Chakib Khelil, einen engen Vertrauten | |
Bouteflikas, zum Rücktritt. | |
Der Angriff auf die Erdgasförderanlage in In Aménas im Januar 2013 durch | |
die Dschihadistengruppe al-Muwaqqi’un bil-Dima („Die mit Blut | |
unterzeichnen“), der mit einer Geiselnahme einherging, gab Bouteflika und | |
den Militärs in Uniform Gelegenheit, den Schwung des DRS zu stoppen. Der | |
Fall In Aménas offenbarte schwere Versäumnisse des Geheimdienstes und | |
öffnete so den Weg für dessen Restrukturierung. Im September 2015 wurde | |
schließlich der langjährige DRS-Chef General „Toufik“ Mediène entmachtet. | |
Der DRS wurde durch die Direction des services de sécurité (DSS) abgelöst, | |
die nun direkt dem Präsidenten unterstand. Auch der Generalstab übernahm | |
einen Teil der Aufgaben, die zuvor dem DRS oblagen. Im Frühjahr 2013 stand | |
Bouteflika kurz vor seinem Ziel, ein Vierviertelpräsident zu sein. Doch | |
dann machte ihm seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung: Nach | |
einem Schlaganfall am 27. April 2013 war er nicht mehr in der Lage, den | |
Wahlkampf für seine vierte Amtszeit selbst zu bestreiten. | |
## Zustände wie in einer Golfmonarchie | |
Seit diesem Zeitpunkt wurde das algerische Regime noch undurchsichtiger. | |
Allerdings ließen sich bestimmte Veränderungen innerhalb der | |
Präsidentschaft beobachten. Seit seiner ersten Amtszeit hatte Bouteflika im | |
Bemühen, den Einfluss der Militärs zurückzudrängen, die | |
Führungspositionen ziviler Institutionen (Verfassungsgericht, | |
Rechnungshof etc.) mit Vertrauten besetzt, die oft aus dem Westen Algeriens | |
stammten. | |
Er sorgte dafür, dass das Parlament, die Gewerkschaften und | |
Arbeitnehmerverbände ihm vollständig ergeben waren; deren Lobeshymnen und | |
Liebeserklärungen erinnerten bisweilen an die Zustände in einer | |
Golfmonarchie. Resultat war ein Personenkult, der in der Geschichte der | |
Unabhängigkeit Algeriens einmalig ist. Der Präsident, dessen Konterfei | |
allgegenwärtig ist, wird als fakhamatouhou (Seine Exzellenz, Seine Hoheit) | |
angeredet. | |
Um seine Macht zu festigen, umgab sich Bouteflika auch mit Verwandten, etwa | |
seinem Bruder Said, ein 61-jähriger Hochschullehrer. Diese Leute übernahmen | |
die Rolle von Beratern ohne präzise definierten Aufgabenbereich, aber mit | |
dem blinden Vertrauen des Rais. Im Namen des Präsidenten wurden sie direkt | |
bei Ministern vorstellig, aber auch bei Walis (Regionalpräfekten) und sogar | |
bei westlichen Diplomaten in Algier. | |
Der Premierminister fungierte entweder als treuer Vollstrecker der | |
Anweisungen des Präsidentenclans oder, wie der am 12. März zurückgetretene | |
Ahmed Ouyahia, als eine Art Mittler zwischen den verschiedenen | |
Machtzentren des Regimes. Eines aber hatten alle Premiers der Ära | |
Bouteflika gemeinsam: Sie hatten keinerlei Handlungsfreiheit gegenüber dem | |
Präsidenten oder, seit 2013, gegenüber seinem Clan. | |
Innerhalb von Bouteflikas innerstem Zirkel hatte sich in den vergangenen | |
Jahren ein neues Machtzentrum gebildet. Es bestand aus Geschäftsleuten, die | |
Said Bouteflika nahestanden, darunter auch solche, die bis Anfang der | |
2000er Jahre noch kleine Unternehmer waren und mit zahlreichen | |
Infrastrukturaufträgen des Staats reich geworden sind. Mit Öl- und | |
Gasexporten hat Algerien zwischen 2000 und 2015 mehr als eine Billionen | |
US-Dollar an Devisen eingenommen. Diese Rente hielt den auf Korruption | |
basierenden algerischen Kapitalismus am Leben (siehe Text auf Seite 6). | |
Niemand symbolisierte den Aufstieg der politisch einflussreichen Oligarchen | |
deutlicher als Ali Haddad, der langjährige Präsident des mit Abstand | |
wichtigsten Unternehmerverbands (FCE). Dem FCE gelang es zum Beispiel im | |
Sommer 2017, den gerade erst ernannten Premierminister Abdelmadjid | |
Tebboune gleich wieder abzusägen, weil dieser plante, den Bezug von | |
Devisen für private Importeure zu beschneiden. | |
## Offen, wie es politisch weitergeht | |
Als Haddad Ende März von seinem Amt als FCE-Präsident zurücktrat und in der | |
Nacht auf den 31. März an einem algerisch-tunesischen Grenzübergang wegen | |
Devisenvergehen festgenommen wurde, war das ein klares Zeichen dafür, dass | |
es mit der Präsidentschaft Bouteflikas zu Ende ging. Mittlerweile dürfen | |
zahlreiche dem Bouteflika-Clan nahestehende Geschäftsleute Algerien nicht | |
mehr verlassen, Privatflugzeuge haben auf den Flughäfen des Landes | |
Startverbot. | |
Schon in den Wochen vor Haddads Verhaftung war deutlich geworden, dass sich | |
der Generalstab angesichts der anhaltenden Proteste immer stärker von | |
Bouteflika distanzierte. Nachdem Gaid Salah am 6. März noch behauptet | |
hatte, die Proteste seien „das Werk bestimmter Kräfte, die Algerien in die | |
Jahre der Hölle zurückwerfen wollen“, änderte der General den Ton und | |
verkündete am 10. März: „Algerien kann sich seines Volkes glücklich | |
schätzen, und die Armee kann sich ihres Volkes glücklich schätzen.“ | |
Zehn Tage später begrüßte er das „tiefe Volksbewusstsein der | |
Demonstranten“ und versicherte, [1][dass es für jedes Problem eine, wenn | |
nicht gar mehrere Lösungen gebe]. Am 26. März forderte Gaid Salah | |
schließlich öffentlich die Anwendung des Artikels 102 der algerischen | |
Verfassung, sprich die Absetzung des Präsidenten aus gesundheitlichen | |
Gründen. | |
Noch im vergangenen Herbst hatte Bouteflikas Entourage versucht, dem | |
Generalstab und den Geheimdiensten die Idee einer Verlängerung der vierten | |
Amtszeit zu verkaufen. Aus fünf Jahren sollten sieben werden, an deren Ende | |
Bouteflika abtreten würde. Damit blieb man der alten Strategie des Regimes | |
treu: Zeit gewinnen um jeden Preis. Die Option einer auf sieben Jahre | |
verlängerten Amtszeit wurde allerdings Ende 2018 aufgegeben. Es gab einfach | |
keine vernünftigen Gründe, die man als Rechtfertigung hätte vorbringen | |
können, zudem wäre eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen. | |
Ende März unternahm der Präsidentenclan offenbar einen letzten Versuch, | |
zumindest mittelbar die Kontrolle über die politischen Geschicke des Landes | |
zu behalten: Am 2. April – dem Tag von Bouteflikas Rücktritt – verschickte | |
Ex-Präsident Liamine Zéroual eine Mitteilung an algerische Medienhäuser, in | |
der er erklärte, er habe einige Tage zuvor von Ex-DRS-Chef „Toufik“ Mediè… | |
den Vorschlag erhalten, den Vorsitz einer „Instanz zur Organisation einer | |
Übergangsperiode“ zu übernehmen.(4) Mediène habe ihm bestätigt, so Zérou… | |
dass der Vorschlag mit Said Bouteflika abgestimmt sei. | |
Nach dem Rücktritt Bouteflikas ist nun völlig offen, wie es politisch in | |
Algerien weitergeht. Laut algerischer Verfassung übernimmt bei einem | |
Rücktritt des Staatsoberhaupts der Präsident des Oberhauses des algerischen | |
Parlaments den Präsidentenposten – um in einer Interimsperiode von 90 Tagen | |
Neuwahlen zu organisieren. Gleichzeitig bleibt die amtierende Regierung im | |
Amt. Das Problem ist allerdings, dass sowohl Parlamentspräsident Abdelkader | |
Bensalah als auch der amtierende Regierungschef Noureddine Bedoui und der | |
Präsident des algerischen Verfassungsrates Tayeb Belaïz als Männer des | |
Regimes gelten und von den Demonstranten auf der Straße nicht als Köpfe | |
eines glaubhaften demokratischen Übergangs akzeptiert werden. | |
Die Protestbewegung fordert mittlerweile lautstark einen Regimewechsel, der | |
über die Abdankung des Präsidentenclans hinausgehen soll. Die Parole | |
„Yatnahawga’“ („Sie sollen alle abhauen“) macht die Runde. Am Freitag… | |
5. April, gingen erneut Hunderttausende auf die Straße. | |
Vieles wird nun davon abhängen, wie sich die Armee und die Geheimdienste | |
verhalten. Werden die Militärs, ob in Uniform oder in Zivil, einen | |
grundlegenden politischen Wandel akzeptieren und auf ihren Einfluss | |
verzichten? „Die Armee hat Angst davor, Rechenschaft ablegen zu müssen und | |
ihre finanziellen Vorteile zu verlieren“, sagt der bereits zitierte | |
Offizier. „Und sie fürchtet, unter die Kontrolle von Zivilisten zu | |
geraten.“ | |
Während die algerische Bevölkerung, der viele bis vor Kurzem völlige | |
Resignation nachsagten, eine beeindruckende Reife beweist, ist es jetzt an | |
der Armee, die Revolution zu Ende zu bringen. Sie muss das politische Feld | |
räumen. | |
(1) Siehe Abed Charef, „Algérie. Le grand dérapage“, La Tour-d’Aigues | |
(L’Aube) 1994. | |
(2) Mohamed Boudiaf, „Où va l’Algérie ? Notre révolution“, Paris (Édi… | |
Librairie de l’Étoile), 1964. | |
(3) Wörtlich: „Januaristen“, nach dem Zeitpunkt der Aussetzung des | |
Wahlprozesses im Januar 1992. | |
(4) Siehe „Liamine Zéroual enfonce le général Toufik et Said Bouteflika“, | |
TSA Algerie, 2. April 2019. | |
Aus dem Französischen von Jakob Farah | |
14 Apr 2019 | |
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