| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Undurchsichtige Macht in Algerien | |
| > Präsident Bouteflika hat abgedankt. Nun befürchten viele Algerier, dass | |
| > Armee und Geheimdienste die Herrschaft unter sich aufteilen. | |
| Bild: Auch diese Frau fordert auf der Straße die Gründung einer zweiten Repub… | |
| Seit dem 22. Februar kommt es in Algerien immer wieder zu großen | |
| Demonstrationen gegen das Regime. Die Proteste sind von historischem | |
| Ausmaß: Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1962 hat das Land keine | |
| solche Bewegung mehr erlebt. Die Demonstrationen sind friedlich, und sie | |
| erstrecken sich über das ganze Land inklusive der Städte im Süden. | |
| Jeden Freitag, am ersten Tag des algerischen Wochenendes, gehen | |
| Hunderttausende auf die Straße. Unter den Demonstranten sind alle | |
| Altersstufen vertreten, aber vor allem die Jugend ist aktiv, die sich bis | |
| jetzt nicht besonders für Politik interessiert hat. Auch an den restlichen | |
| Tagen reißen die Aktionen nicht ab, es gibt Sit-ins und Protestmärsche von | |
| einzelnen Berufsständen (zum Beispiel Anwälten, Hochschullehrern oder | |
| Journalisten) und Pensionären. | |
| Ihre vordringlichste gemeinsame Forderung – ein Ende der Herrschaft des | |
| schwer kranken 82-jährigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika – haben sie | |
| durchgesetzt: Am späten Abend des 2. April überreichte Bouteflika dem | |
| Präsidenten des algerischen Verfassungsrats seine Rücktrittserklärung. | |
| Aber die Demonstranten, die mit dem Ruf „Silmiya!“ („Friedlich!“) durch… | |
| Straßen ziehen, protestieren auch gegen die Entourage des Präsidenten, vor | |
| allem seine beiden Brüder Said und Nacer Bouteflika. Sie fordern das Ende | |
| des Regimes und die Gründung einer zweiten Republik; manche wollen eine | |
| verfassunggebende Versammlung. Die Ordnungskräfte haben sich in den ersten | |
| Wochen der Proteste weitgehend zurückgehalten; einige Polizisten und | |
| Gendarmen haben sich sogar mit den Demonstrierenden solidarisiert. | |
| Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, wohin Bouteflika Anfang Februar zu | |
| einem „regelmäßigen Gesundheitscheck“ gereist war, hatte sich der | |
| Ex-Präsident in mehreren Briefen an die Algerier gewandt. Darin teilte er | |
| mit, er strebe keine fünfte Amtszeit mehr an, und sagte die für den 18. | |
| April geplante Präsidentschaftswahl ab. | |
| ## Wer entscheidet hinter den Kulissen für Bouteflika? | |
| Angesichts des schlechten Gesundheitszustands Bouteflikas fragen sich die | |
| Algerier allerdings schon seit Längerem, wer hinter den Kulissen für ihn | |
| entscheidet. Wer schrieb seine Briefe an das Volk? Wer ernennt oder | |
| entlässt den Premierminister? Und wer hat Bouteflika dazu gedrängt, nun | |
| doch seinen Hut zu nehmen? | |
| Es geht dabei um die Identität derjenigen, die man in Algerien als „die | |
| Entscheider“ bezeichnet (les décideurs). Der Begriff wurde zum ersten Mal | |
| von Muhammad Boudiaf, dem legendäre Mitbegründer der Nationalen | |
| Befreiungsfront (FLN), gebraucht, als er im Januar 1992 aus dem Exil | |
| zurückkehrte. Damals durchlebte Algerien eine schwere politische Krise. | |
| Präsident Chadli Bendjedid war von der Armee zum Rücktritt gezwungen | |
| worden, und der Hohe Sicherheitsrat (HCS) hatte die zweite Runde der | |
| Parlamentswahlen abgesagt, um einen Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) | |
| zu verhindern, die den ersten Durchgang gewonnen hatte.(1) | |
| „Ich habe mit den décideurs gesprochen und mich entschieden, dem Ruf | |
| Algeriens zu folgen“, verkündete Boudiaf damals und rechtfertigte damit | |
| seine Ernennung zum Vorsitzenden des Hohen Staatsrats (HCE) – einer | |
| Übergangsinstitution, die das konstitutionelle Vakuum nach der Abdankung | |
| Benjedids füllen sollte. | |
| Boudiaf, der nur knapp sechs Monate später von einem seiner Leibwächter | |
| ermordet wurde, hütete sich allerdings, die „Entscheider“ beim Namen zu | |
| nennen. Mit ihm hatte man sich einen langjährigen Oppositionellen ins Boot | |
| geholt, der das Regime stets geschmäht hatte(2) und ihm nun historische | |
| Legitimation verleihen sollte. | |
| Die Algerier waren schon damals überzeugt, dass Boudiaf und der HCE nur als | |
| Fassade dienen sollten. Im April 1992 gab Boudiaf gegenüber Journalisten | |
| zu, dass er „nicht alle Entscheider“ kenne. Später fielen oft die Namen der | |
| Generäle Larbi Belkheir, Khaled Nezzar, Mohamed Mediène – genannt „Toufik… | |
| – und Mohamed Lamari. Aber bis heute weiß niemand ganz genau, wie und mit | |
| welchen internen Absprachen die „Janvieristes“(3) seinerzeit | |
| entschieden, den „Algerischen Frühling“ zu beenden, den demokratischen | |
| Übergangsprozess also, der nach den blutigen Unruhen vom Oktober 1988 | |
| begonnen hatte. | |
| Damals hatte das Regime auf hunderte junge Demonstranten schießen lassen – | |
| Schätzungen gehen von etwa 600 Toten aus –, setzte in der Folge jedoch | |
| einige Reformen in Gang, darunter die Einführung eines Mehrparteiensystems | |
| und die Liberalisierung der Presse. | |
| ## Die Stabiliät des Regimes hat oberste Priorität | |
| Das Wesen der aktuellen Proteste unterscheidet sich zwar von den Unruhen | |
| Ende der 1980er Jahre, aber auch in der aktuellen Krise geht es um die | |
| Undurchsichtigkeit „der Macht“. „Wer sind die Strippenzieher, die | |
| Bouteflika tanzen lassen?“, stand auf einem Spruchband der Demonstration | |
| in Algier am 15. März. „Warum verstecken sich die Entscheider?“, war auf | |
| einem anderen zu lesen. Diese Fragen sind nicht neu. Um sie zu beantworten, | |
| muss man nachverfolgen, wie Präsident Bouteflika im Verlauf seiner vier | |
| Amtszeiten (1999–2019) seine persönliche Macht innerhalb des Regimes immer | |
| weiter ausgebaut hat. | |
| 1965 stürzte Houari Boumediene, der den Großteil der Macht auf sich und | |
| seine Gefolgsleute im Revolutionsrat (Conseil de la Revolution) vereinigt | |
| hatte, den ersten Staatspräsidenten Ben Bella und fungierte dann selbst bis | |
| 1978 als Präsident. Unter Chadli Benjedid (1979–1992) entwickelten sich | |
| innerhalb des Regimes drei Machtzentren: der Generalstab der Nationalen | |
| Volksarmee (ANP), die Geheimdienste – darunter der Militärgeheimdienst (SM) | |
| – und der Präsident mit seinen Sicherheits- und Wirtschaftsberatern. | |
| Bei Entscheidungen in sensiblen Bereichen übermittelten alle drei Lager | |
| ihre jeweiligen Einschätzungen und Empfehlungen. Dabei rivalisierten sie | |
| untereinander, allerdings stets in dem Bewusstsein, dass die Stabilität des | |
| Regimes oberste Priorität hätte. | |
| Die verbreitete Vorstellung, die Einheitspartei FLN habe Algerien seit der | |
| Unabhängigkeit geführt, ist falsch. Zusammen mit der Armee konnte die | |
| Partei sich zwar auf ihre im Unabhängigkeitskampf erlangte historische | |
| Legitimität stützen, doch sie stellte kein viertes Machtzentrum dar: Die | |
| FLN-Kader hatten kaum Einfluss auf die Geheimdienste oder den Generalstab, | |
| und das Politbüro der FLN wurde vom Präsidentenbüro kontrolliert. | |
| ## Die „Reinheit“ des Systems | |
| Vor der ersten Wahl Bouteflikas 1999 hatten die Armee und die Geheimdienste | |
| schon seit langer Zeit die Oberhand über die Präsidentschaft gewonnen. 1992 | |
| hatten sie Präsident Benjedid entfernt und sorgten auch für den Rücktritt | |
| von Präsident Liamine Zéroual (1995–1999), weil dieser sich weigerte, ein | |
| 1997 zwischen den Geheimdiensten und der AIS, dem bewaffneten Arm der | |
| Islamischen Heilsfront (FIS) geschlossenes Abkommen aufzukündigen. Nachdem | |
| Bouteflika den Präsidentenpalast El Mouradia hoch über Algier bezogen | |
| hatte, machte er sich sehr schnell daran, dem Amt des Präsidenten wieder | |
| mehr Gewicht zu verleihen. Er werde niemals nur ein „Dreiviertelpräsident“ | |
| sein, verkündete er. | |
| Dieser Ausspruch ließ zwei zentrale Absichten Bouteflikas erkennen: Erstens | |
| wollte er keinesfalls einem neuen Algerischen Frühling den Weg bereiten. | |
| Sein Ziel war es, die ursprüngliche „Reinheit“ des Systems | |
| wiederherzustellen, also die Bündelung der Macht von Armee und | |
| Geheimdiensten unter der Kontrolle eines mächtigen Präsidenten, wie es | |
| unter dem 1978 verstorbenen Houari Boumediene der Fall gewesen war. | |
| Dass Bouteflika seinerzeit die Nachfolge seines Ziehvaters Boumediene | |
| verwehrt worden war, hat auch mit der Frage der politischen Kultur zu tun. | |
| Bouteflika, der zwischen 1963 und 1979 Bous Außenminister gewesen war, | |
| gehört zu einer Generation, die keinerlei Einschränkungen in der Ausübung | |
| der politischen Macht akzeptiert. Seine seltenen Reden über die Demokratie | |
| konnten nie überzeugen, auch nicht, als er am 8. Mai 2012 in Setif | |
| verkündete, dass die Generation der Revolution „am Ende“ und für ihn die | |
| Zeit gekommen sei, die Verantwortung aus der Hand zu geben. Trotz dieser | |
| Ankündigungen trat er kurze Zeit später seine vierte Amtszeit an und sorgte | |
| dafür, dass die Politik der Hinterzimmer weitergeführt wurde. | |
| Zweitens wollte Bouteflika keine bloße Marionette der Armee sein. Trotz der | |
| Allmacht, die man der Nationalen Volksarmee zuschreibt, erwies sich dieses | |
| Vorhaben nicht als komplett aussichtslos. Die Militärs, auch die in den | |
| Geheimdiensten, waren stets bereit, ein Minimum an formalem Legalismus zu | |
| respektieren. Und in dieser Hinsicht war die Unterschrift des Präsidenten – | |
| mit der hohe Funktionäre oder Militärs ernannt, entlassen oder in den | |
| Ruhestand versetzt werden können – eine starke Waffe, von der Bouteflika im | |
| Verlauf der vergangenen 20 Jahre ausgiebig Gebrauch gemacht hat. | |
| Seine ersten drei Amtszeiten (1999–2014) waren geprägt vom Umbau und der | |
| Stärkung des präsidentiellen Machtzentrums – auf Kosten der beiden anderen. | |
| Dabei profitierte Bouteflika auch von seinem Prestige als geschickter | |
| Diplomat: Den Generälen und Geheimdienstlern versprach er, das Bild | |
| Algeriens im Ausland zu verbessern und das Schreckgespenst der | |
| internationalen Strafverfolgung zu vertreiben. Denn viele Militärs waren | |
| während des „schwarzen Jahrzehnts“ (1991–2000) daran beteiligt gewesen, | |
| Menschen massenhaft verschwinden zu lassen und zu ermorden. | |
| ## Scharfsinniger Manipulator | |
| Nach innen wie nach außen machte sich Bouteflika sein Image als Mann, „der | |
| den Frieden zurückgebracht hat“, zunutze – obwohl der Frieden bereits vor | |
| seinem Amtsantritt ausgehandelt worden war. Und er erinnerte die Generäle | |
| stets daran, was sie ihm schuldeten und was sie durch seine Absetzung | |
| verlieren würden. Wenn er diesen oder jenen General in den Ruhestand | |
| versetzte oder, wie 2004, auf den Rücktritt eines „Janvieristen“ vom | |
| Kaliber Mohamed Lamaris drängte – langjähriger Generalstabschef und | |
| Architekt des Antiterrorkampfs gegen die bewaffneten islamistischen | |
| Gruppen –, widersetzten sich die anderen „Entscheider“ unter den Generäl… | |
| nicht. | |
| Als scharfsinniger Manipulator verstand es Bouteflika auch, die Rivalität | |
| zwischen dem Generalstab – den „Militärs in Uniform“ – und den | |
| Geheimdiensten – den „Militärs in Zivil“ – auszunutzen. Durch den Krie… | |
| den 1990er Jahren hatte der Geheimdienst DRS (Département du | |
| renseignement et de la sécurité, Nachfolger der SM) immer mehr Einfluss | |
| auf die Politik gewonnen. Folglich schmiedete Bouteflika 2002 ein Bündnis | |
| mit General Ahmed Gaid Salah, der seit 2004 Generalstabschef und seit 2013 | |
| Vizeverteidigungsminister ist. | |
| „Der älteste aktive Soldat der Welt“, wie der heute 79 Jahre alte Salah in | |
| Algerien ironisch genannt wird, verkörpert seither die Rache der „Militärs | |
| in Uniform“ an den Kollegen von den Diensten. Zahlreiche Entlassungen in | |
| den höchsten Rängen der Armee haben Salahs Position gefestigt und ihn zu | |
| einem Stützpfeiler des Bouteflika-Systems gemacht. „General Ahmed Gaid | |
| Salah hat Bouteflika viel zu verdanken“, sagt ein hoher Offizier. Kein | |
| Wunder also, dass der Generalstabschef eine fünfte Amtszeit Bouteflikas | |
| zunächst unterstützte. | |
| Die Einhegung der algerischen Geheimdienste durch den Präsidenten war | |
| allerdings kein leichtes Unterfangen. Nach einer Phase des Rückzugs | |
| erlangte der DRS ab 2010 wieder mehr Einfluss. Dabei machte er sich diverse | |
| Korruptionsaffären zunutze, in die Vertraute des Präsidenten verstrickt | |
| waren. So brachten die Geheimdienstler einen großen Teil des Managements | |
| von Sonatrach, dem staatlichen Mineralölunternehmen, zu Fall und zwangen | |
| den damaligen Energieminister Chakib Khelil, einen engen Vertrauten | |
| Bouteflikas, zum Rücktritt. | |
| Der Angriff auf die Erdgasförderanlage in In Aménas im Januar 2013 durch | |
| die Dschihadistengruppe al-Muwaqqi’un bil-Dima („Die mit Blut | |
| unterzeichnen“), der mit einer Geiselnahme einherging, gab Bouteflika und | |
| den Militärs in Uniform Gelegenheit, den Schwung des DRS zu stoppen. Der | |
| Fall In Aménas offenbarte schwere Versäumnisse des Geheimdienstes und | |
| öffnete so den Weg für dessen Restrukturierung. Im September 2015 wurde | |
| schließlich der langjährige DRS-Chef General „Toufik“ Mediène entmachtet. | |
| Der DRS wurde durch die Direction des services de sécurité (DSS) abgelöst, | |
| die nun direkt dem Präsidenten unterstand. Auch der Generalstab übernahm | |
| einen Teil der Aufgaben, die zuvor dem DRS oblagen. Im Frühjahr 2013 stand | |
| Bouteflika kurz vor seinem Ziel, ein Vierviertelpräsident zu sein. Doch | |
| dann machte ihm seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung: Nach | |
| einem Schlaganfall am 27. April 2013 war er nicht mehr in der Lage, den | |
| Wahlkampf für seine vierte Amtszeit selbst zu bestreiten. | |
| ## Zustände wie in einer Golfmonarchie | |
| Seit diesem Zeitpunkt wurde das algerische Regime noch undurchsichtiger. | |
| Allerdings ließen sich bestimmte Veränderungen innerhalb der | |
| Präsidentschaft beobachten. Seit seiner ersten Amtszeit hatte Bouteflika im | |
| Bemühen, den Einfluss der Militärs zurückzudrängen, die | |
| Führungspositionen ziviler Institutionen (Verfassungsgericht, | |
| Rechnungshof etc.) mit Vertrauten besetzt, die oft aus dem Westen Algeriens | |
| stammten. | |
| Er sorgte dafür, dass das Parlament, die Gewerkschaften und | |
| Arbeitnehmerverbände ihm vollständig ergeben waren; deren Lobeshymnen und | |
| Liebeserklärungen erinnerten bisweilen an die Zustände in einer | |
| Golfmonarchie. Resultat war ein Personenkult, der in der Geschichte der | |
| Unabhängigkeit Algeriens einmalig ist. Der Präsident, dessen Konterfei | |
| allgegenwärtig ist, wird als fakhamatouhou (Seine Exzellenz, Seine Hoheit) | |
| angeredet. | |
| Um seine Macht zu festigen, umgab sich Bouteflika auch mit Verwandten, etwa | |
| seinem Bruder Said, ein 61-jähriger Hochschullehrer. Diese Leute übernahmen | |
| die Rolle von Beratern ohne präzise definierten Aufgabenbereich, aber mit | |
| dem blinden Vertrauen des Rais. Im Namen des Präsidenten wurden sie direkt | |
| bei Ministern vorstellig, aber auch bei Walis (Regionalpräfekten) und sogar | |
| bei westlichen Diplomaten in Algier. | |
| Der Premierminister fungierte entweder als treuer Vollstrecker der | |
| Anweisungen des Präsidentenclans oder, wie der am 12. März zurückgetretene | |
| Ahmed Ouyahia, als eine Art Mittler zwischen den verschiedenen | |
| Machtzentren des Regimes. Eines aber hatten alle Premiers der Ära | |
| Bouteflika gemeinsam: Sie hatten keinerlei Handlungsfreiheit gegenüber dem | |
| Präsidenten oder, seit 2013, gegenüber seinem Clan. | |
| Innerhalb von Bouteflikas innerstem Zirkel hatte sich in den vergangenen | |
| Jahren ein neues Machtzentrum gebildet. Es bestand aus Geschäftsleuten, die | |
| Said Bouteflika nahestanden, darunter auch solche, die bis Anfang der | |
| 2000er Jahre noch kleine Unternehmer waren und mit zahlreichen | |
| Infrastrukturaufträgen des Staats reich geworden sind. Mit Öl- und | |
| Gasexporten hat Algerien zwischen 2000 und 2015 mehr als eine Billionen | |
| US-Dollar an Devisen eingenommen. Diese Rente hielt den auf Korruption | |
| basierenden algerischen Kapitalismus am Leben (siehe Text auf Seite 6). | |
| Niemand symbolisierte den Aufstieg der politisch einflussreichen Oligarchen | |
| deutlicher als Ali Haddad, der langjährige Präsident des mit Abstand | |
| wichtigsten Unternehmerverbands (FCE). Dem FCE gelang es zum Beispiel im | |
| Sommer 2017, den gerade erst ernannten Premierminister Abdelmadjid | |
| Tebboune gleich wieder abzusägen, weil dieser plante, den Bezug von | |
| Devisen für private Importeure zu beschneiden. | |
| ## Offen, wie es politisch weitergeht | |
| Als Haddad Ende März von seinem Amt als FCE-Präsident zurücktrat und in der | |
| Nacht auf den 31. März an einem algerisch-tunesischen Grenzübergang wegen | |
| Devisenvergehen festgenommen wurde, war das ein klares Zeichen dafür, dass | |
| es mit der Präsidentschaft Bouteflikas zu Ende ging. Mittlerweile dürfen | |
| zahlreiche dem Bouteflika-Clan nahestehende Geschäftsleute Algerien nicht | |
| mehr verlassen, Privatflugzeuge haben auf den Flughäfen des Landes | |
| Startverbot. | |
| Schon in den Wochen vor Haddads Verhaftung war deutlich geworden, dass sich | |
| der Generalstab angesichts der anhaltenden Proteste immer stärker von | |
| Bouteflika distanzierte. Nachdem Gaid Salah am 6. März noch behauptet | |
| hatte, die Proteste seien „das Werk bestimmter Kräfte, die Algerien in die | |
| Jahre der Hölle zurückwerfen wollen“, änderte der General den Ton und | |
| verkündete am 10. März: „Algerien kann sich seines Volkes glücklich | |
| schätzen, und die Armee kann sich ihres Volkes glücklich schätzen.“ | |
| Zehn Tage später begrüßte er das „tiefe Volksbewusstsein der | |
| Demonstranten“ und versicherte, [1][dass es für jedes Problem eine, wenn | |
| nicht gar mehrere Lösungen gebe]. Am 26. März forderte Gaid Salah | |
| schließlich öffentlich die Anwendung des Artikels 102 der algerischen | |
| Verfassung, sprich die Absetzung des Präsidenten aus gesundheitlichen | |
| Gründen. | |
| Noch im vergangenen Herbst hatte Bouteflikas Entourage versucht, dem | |
| Generalstab und den Geheimdiensten die Idee einer Verlängerung der vierten | |
| Amtszeit zu verkaufen. Aus fünf Jahren sollten sieben werden, an deren Ende | |
| Bouteflika abtreten würde. Damit blieb man der alten Strategie des Regimes | |
| treu: Zeit gewinnen um jeden Preis. Die Option einer auf sieben Jahre | |
| verlängerten Amtszeit wurde allerdings Ende 2018 aufgegeben. Es gab einfach | |
| keine vernünftigen Gründe, die man als Rechtfertigung hätte vorbringen | |
| können, zudem wäre eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen. | |
| Ende März unternahm der Präsidentenclan offenbar einen letzten Versuch, | |
| zumindest mittelbar die Kontrolle über die politischen Geschicke des Landes | |
| zu behalten: Am 2. April – dem Tag von Bouteflikas Rücktritt – verschickte | |
| Ex-Präsident Liamine Zéroual eine Mitteilung an algerische Medienhäuser, in | |
| der er erklärte, er habe einige Tage zuvor von Ex-DRS-Chef „Toufik“ Mediè… | |
| den Vorschlag erhalten, den Vorsitz einer „Instanz zur Organisation einer | |
| Übergangsperiode“ zu übernehmen.(4) Mediène habe ihm bestätigt, so Zérou… | |
| dass der Vorschlag mit Said Bouteflika abgestimmt sei. | |
| Nach dem Rücktritt Bouteflikas ist nun völlig offen, wie es politisch in | |
| Algerien weitergeht. Laut algerischer Verfassung übernimmt bei einem | |
| Rücktritt des Staatsoberhaupts der Präsident des Oberhauses des algerischen | |
| Parlaments den Präsidentenposten – um in einer Interimsperiode von 90 Tagen | |
| Neuwahlen zu organisieren. Gleichzeitig bleibt die amtierende Regierung im | |
| Amt. Das Problem ist allerdings, dass sowohl Parlamentspräsident Abdelkader | |
| Bensalah als auch der amtierende Regierungschef Noureddine Bedoui und der | |
| Präsident des algerischen Verfassungsrates Tayeb Belaïz als Männer des | |
| Regimes gelten und von den Demonstranten auf der Straße nicht als Köpfe | |
| eines glaubhaften demokratischen Übergangs akzeptiert werden. | |
| Die Protestbewegung fordert mittlerweile lautstark einen Regimewechsel, der | |
| über die Abdankung des Präsidentenclans hinausgehen soll. Die Parole | |
| „Yatnahawga’“ („Sie sollen alle abhauen“) macht die Runde. Am Freitag… | |
| 5. April, gingen erneut Hunderttausende auf die Straße. | |
| Vieles wird nun davon abhängen, wie sich die Armee und die Geheimdienste | |
| verhalten. Werden die Militärs, ob in Uniform oder in Zivil, einen | |
| grundlegenden politischen Wandel akzeptieren und auf ihren Einfluss | |
| verzichten? „Die Armee hat Angst davor, Rechenschaft ablegen zu müssen und | |
| ihre finanziellen Vorteile zu verlieren“, sagt der bereits zitierte | |
| Offizier. „Und sie fürchtet, unter die Kontrolle von Zivilisten zu | |
| geraten.“ | |
| Während die algerische Bevölkerung, der viele bis vor Kurzem völlige | |
| Resignation nachsagten, eine beeindruckende Reife beweist, ist es jetzt an | |
| der Armee, die Revolution zu Ende zu bringen. Sie muss das politische Feld | |
| räumen. | |
| (1) Siehe Abed Charef, „Algérie. Le grand dérapage“, La Tour-d’Aigues | |
| (L’Aube) 1994. | |
| (2) Mohamed Boudiaf, „Où va l’Algérie ? Notre révolution“, Paris (Édi… | |
| Librairie de l’Étoile), 1964. | |
| (3) Wörtlich: „Januaristen“, nach dem Zeitpunkt der Aussetzung des | |
| Wahlprozesses im Januar 1992. | |
| (4) Siehe „Liamine Zéroual enfonce le général Toufik et Said Bouteflika“, | |
| TSA Algerie, 2. April 2019. | |
| Aus dem Französischen von Jakob Farah | |
| 14 Apr 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Bouteflika-vor-dem-Aus/!5581532 | |
| ## AUTOREN | |
| Akram Belkaïd | |
| Lakhdar Benchiba | |
| ## TAGS | |
| Algerien | |
| Abdelaziz Bouteflika | |
| Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
| Abdelaziz Bouteflika | |
| Algerien | |
| Algerien | |
| Algerien | |
| Algerien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer Zulauf für Massenproteste: Algeriens Jugend will mehr | |
| Bisherige Zugeständnisse der Staatsführung reichen den Demonstranten nicht | |
| aus. Sie fordern den Rücktritt von Armeechef Ahmed Gaïd Salah. | |
| Neue Massenproteste in Algerien: „Nein zur Herrschaft des Militärs“ | |
| Wieder einmal zog sich am Freitag ein kilometerlanger Demonstrationszug | |
| durch die Hauptstadt Algier. Der Protest richtet sich nun gegen den | |
| Armeechef. | |
| Kommentar Algerien im Wandel: Und jetzt die Systemfrage | |
| Bouteflika ist weg. Restauriert sich das algerische Regime nun von innen | |
| heraus? Oder erzwingt die Protestbewegung einen wahren Wandel? | |
| 20-jährige Amtszeit in Algerien endet: Bouteflika tritt als Präsident zurück | |
| Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika ist nach wochenlangen | |
| Massenprotesten mit sofortiger Wirkung zurückgetreten. Auch das Militär | |
| hatte ihn dazu gedrängt. | |
| Algeriens Präsident vor dem Aus: Bouteflika tritt zurück | |
| Nach anhaltenden Massenprotesten hat Algeriens Präsident Abdelaziz | |
| Bouteflika seinen Rückzug bis zum 28. April bekanntgegeben. Es ist ein | |
| Abschied auf Raten. |