# taz.de -- Die Wahrheit: Nächstenliebe und lange Nadeln | |
> Auf der düsteren Seite des Gesundheitssystems: offene Worte einer jungen | |
> Krankenpflegerin in der Notaufnahme. | |
Bild: Oft fühlen sich Krankenpfleger wie rasende Roboter | |
Schon früh wollte ich Menschen helfen. Die Retterin in der Not sein – und | |
mich auch ein wenig selbst profilieren, mich auf dieser Erdenkruste als | |
sinnvoll erweisen. Aber dann erzählte mir einer meiner Berufsschullehrer, | |
dass Pflegekräfte, die von sich behaupten, Menschen helfen zu wollen, ihnen | |
am ehesten Schaden zufügen. Das verunsicherte mich, und ich beschloss, mir | |
das Leben leicht zu machen und den Menschen nicht mehr zu helfen. | |
Das fiel mir bereits direkt im Anschluss an meine Ausbildung sehr leicht. | |
Um meine Wut (die ich als anständige Gesundheits- und Krankenpflegerin | |
natürlich nicht habe) zu kanalisieren, fing ich an, in der Notaufnahme zu | |
arbeiten. | |
Das Hantieren mit den langen Nadeln, die ich Menschen unter ihre Haut | |
steche, gibt mir wenigstens für ein paar Sekunden am Tag das Gefühl, | |
respektiert zu werden. Auch wenn der Respekt wahrscheinlich eher der Nadel | |
als mir gilt. Denn als Krankenschwester habe ich lediglich zu | |
funktionieren. Ich bin nur gut in meinem Job, wenn mein Helfersyndrom mich | |
jede Nacht um den Schlaf bringt. Eigene Bedürfnisse wie Trinken oder auf | |
die Toilette gehen stehen selbstverständlich hinten an. | |
Wenn ein Patient hingegen bloß mit einem eingewachsenen Zehennagel kommt, | |
ist das der absolute Notfall. Natürlich habe ich aber für restlos alle | |
Probleme der Patienten ein offenes Ohr, für Trennungen, Geldnöte oder | |
sexuelle Belästigung – vor allem meiner Person. | |
Im Nebenjob bediene ich nämlich sexualisierte Vorstellungen und hauche | |
knapp bekleidet und mit Spritzen in beiden Händen lüstern sämtliche | |
Männernamen, die mir einfallen. Denn ich habe meinen Beruf nur gewählt, um | |
eines Tages von einem starken Arzt geheiratet zu werden, damit er mir | |
fortan die Welt erklärt. | |
## Depressionsquelle Gehaltszettel | |
Als Pflegekraft sollte ich meine unwesentliche Meinung ohnehin nicht | |
kundtun. Und wenn, dann nur nachdem alle anderen damit fertig sind. | |
Eigentlich verdiene ich eh keine eigene Meinung, weil mein Bildungsstand so | |
niedrig ist. Im Grunde ist es ein Wunder, dass ich der deutschen Sprache | |
mächtig bin. | |
Für Ratschläge stehe ich aber immer gern bereit. Meine eigenen allerdings | |
muss niemand beherzigen, schließlich kommen sie nur von einer | |
Krankenschwester. An manchen Tagen bringt mich die gesellschaftliche | |
Meinung über meinen Beruf mehr an den Rand der Depression als mein | |
Gehaltszettel. | |
Manchmal kommt es mir so vor, als ob alle Attribute, die einer Hausfrau aus | |
den fünfziger Jahren zugeschrieben wurden, bloß noch für die moderne | |
Krankenschwester gelten. Schließlich, so wird mir jedes Mal erklärt, wenn | |
ich meinen Beruf erwähne, ist mein Beruf ja auch kein Beruf sondern eine | |
Berufung. Pflegen kann schließlich jeder, der einigermaßen nett ist. | |
Aber mit dem Wandel der Generationen gibt es einen Bruch in meinem Beruf. | |
Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum Pflegende in meinem Alter | |
schon sehr schnell auf andere Berufe umschulen. | |
Ich habe auch keine Lust mehr, immer der Mensch mit der schönen Seele und | |
dem artigen Gesicht zu sein. Die Last meiner Patienten will ich nicht mehr | |
tragen, denn Rückenschmerzen habe ich jetzt schon. | |
Ich will das Recht haben, meinen Job auszuüben, ohne dabei nach | |
antiquierten Vorstellungen beurteilt zu werden. Ich will genauso laut, | |
direkt, schlecht gelaunt und so unfreundlich sein dürfen, wie es alle | |
anderen zu mir sind – auch wenn ich bei einem kirchlichen Arbeitgeber tätig | |
bin. | |
## Alle Probleme der Menschheit | |
Die christliche Nächstenliebe, zu der ich mich sogar vertraglich | |
verpflichtet habe, wirkt sich ja auch nicht auf meine Arbeitsbedingungen | |
aus, die durch bürokratische Anforderungen zeit- und nervraubender sind als | |
die Pflege selbst. Deswegen sollten wir Pfleger nicht so tun, als ob wir | |
unendlich belastbar sind. Wir müssen nicht aus Höflichkeit alle Probleme | |
der Menschheit tragen. Wir müssen nicht stark sein, damit andere schwach | |
sein können. Unsere Bedürfnisse sind genauso viel wert wie die aller | |
anderen auch. | |
Und du, liebe Gesellschaft: Du brauchst uns! Behandel uns bitte | |
dementsprechend! | |
18 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Antonia Kibitzki | |
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