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# taz.de -- Völkermord an den Armenier*innen: Die Erinnerung leben
> Spuren des Genozids an den Armeniern reichen bis nach Berlin. Dort kämpft
> Nihat Kentel für dessen Anerkennung – auch bei Türkeistämmigen.
Bild: Nihat Kentel beschäftigte sich mit dem Genozid. Heute will er sein Wisse…
Berlin taz | Keine Gedenktafel, keine andere Spur. In der Hardenbergstraße
an der Ecke zur Fasanenstraße in Berlin erinnert nichts an das Attentat des
Armeniers Soghomon Tehlirian auf den damaligen osmanischen Innenminister
Talaat Pascha am 15. März 1921. Der Berliner Nihat Kentel zeigt auf den
Fußgängerweg an der Straßenecke. „Tehlirian wohnte auf der Hardenbergstra�…
37 und Talaat Pascha gleich gegenüber. Tehlirian hat das Attentat geplant.
Auf der anderen Straßenseite ist er Talaat Pascha gefolgt und hat ihn hier
umgebracht.“
Unter dem Druck der damaligen Alliierten Frankreich und vor allem
Großbritannien ordnete die osmanische Regierung ein Militärgericht an,
damit die Hauptverantwortlichen des Massenmords an Armenier*innen
verurteilt werden konnten. Zwischen 1915 und 1916 wurden bei Massakern
Hunderttausende Armenier*innen getötet. Talaat Pascha war einer dieser
Hauptverantwortlichen.
Er war damals nach Berlin geflüchtet, um einer Bestrafung zu entkommen.
Seine Flucht rettete ihn zwar vor dem Todesurteil von 1919 in Istanbul,
nicht aber vor der Rache Tehlirians. Denn das Ziel des Armeniers und seines
geheimen Kommandos in der „Operation Nemesis“ war es, die Schuldigen des
Massenmordes zu verfolgen und zu töten.
## Persönliche Auseinandersetzung
Der Berliner Nihat Kentel kennt den geschichtsträchtigen Ort trotz der
fehlenden Gedenktafel – er hat ihn bei einer Tour in und an der
Hardenbergstraße kennengelernt. [1][Der Schriftsteller Doğan Akhanlı]
leitet diese Touren, die an Flucht und Exil in der deutsch-türkischen
Geschichte erinnern wollen. Die Tour war eine von vielen Stationen in Nihat
Kentels persönlicher Auseinandersetzung mit dem Genozid an Armenier*innen
im osmanischen Reich von 1915 bis 17.
Eine solche geistige Reise in die Vergangenheit kann mit einer Ahnung
seinen Vorlauf nehmen, dass in dem Land, in dem man geboren und
aufgewachsen ist, irgendetwas nicht stimmt. Und wenn man wie Kentel eh
schon ein politisch denkender Mensch ist, dann kann diese Reise umso
dringlicher werden.
Kentel bezeichnet sich selbst als ethnischen Türken. Die Auseinandersetzung
des 56-Jährigen mit diesem einschneidenden Abschnitt der Geschichte der
Türkei hat mit einem Buch begonnen, erzählt er. „Der Roman ‚Die vierzig
Tage von Musa Dağı‘ hat die Tür zu einem verborgenen Wissen in mir
aufgestoßen“, ist der Volkswirt, der in Istanbul geboren und aufgewachsen
ist, überzeugt.
## Tabu in der Türkei
In dem Roman hat der österreichische Schriftsteller Franz Werfel den
Genozid an Armenier*innen im osmanischen Reich und den Widerstand einer
Dorfgemeinschaft am Musa Dagı im Süden der heutigen Türkei gegen die
Vertreibung literarisch verarbeitet. Kentel fängt nach der Lektüre an, sich
intensiver mit dieser Vergangenheit zu beschäftigen.
Bis weit in die 1990er Jahre war der Genozid mit bis zu 1,5 Millionen
Opfern eines der unansprechbarsten Tabus der Türkei. Es ist auch heute noch
schwierig, das tiefgreifende Ereignis öffentlich beim Namen zu nennen. Von
dem „sogenannten armenischen Genozid“ ist dann bei Politikern – auch aus
der Opposition – und Fernsehmoderatoren häufig die Rede. Bis heute erkennt
die Türkei einen Völkermord nicht an.
Kentels Lektüre des Werfel-Romans ist jetzt 14 Jahre her. Er zweifelt
nicht, dass es sich bei den Geschehnissen von damals um einen Völkermord
handelte. „Alles ist so offensichtlich“, resümiert er. Mit dieser Meinung
ist er in der Minderheit. Der überwiegende Teil der türkischen Staatsbürger
in und außerhalb der Türkei folgt der offiziellen Version.
Zwar bestreitet die Türkei nicht, dass Hunderttausende Armenier*innen
damals zu Tode kamen, von rund 300.000 ist manchmal die Rede. Allerdings
starben sie nach offizieller Auffassung nicht durch einen planmäßig
durchgeführten Völkermord. Gründe seien vielmehr ungünstige Umstände in den
Wirren des Ersten Weltkriegs gewesen wie auch vereinzelte Übergriffe und
kriegsbedingte Umsiedlungen der mit dem damals feindlichen Russland
kollaborierenden Armenier*innen.
„Die Türken müssen die Angst hinter der Verleugnung überwinden“, Kentel
spricht auffallend frei über Gefühle. Auf den ersten Blick wirkt er sehr
ernst und traurig. Kein Wunder bei der jahrelangen Beschäftigung mit dem
Thema, will man meinen. Darauf angesprochen sagt er: „Der Eindruck täuscht.
Trauer ist nicht meine Sache, ich habe Hoffnung.“
## Freude über Armenien-Resolution im Bundestag
Die gesammelten Informationen stürzten Kentel in tiefe Gewissenskonflikte.
„Ich war sehr beunruhigt und wollte aktiv werden, mein Wissen in die
Öffentlichkeit tragen. Es war fast wie ein Zwang.“ Also gründet Nihat
Kentel 2014 gemeinsam mit anderen AKEBi. Was wie eine japanische Frucht
klingt ist ein Berliner Verein, der sich nach eigenem Verständnis gegen
Rassismus, Nationalismus und Diskriminierung jeglicher Art in Deutschland
und unter Migrant*innen aus der Türkei wendet.
AKEBi hat einen festen Kern von rund 15 Mitgliedern und organisiert
Podiumsdiskussionen mit internationalen Gästen wie dem bekanntesten
türkeistämmigen Forscher auf dem Gebiet, Taner Akçam von der Clark
Universität (USA), dazu Kundgebungen, Filmabende und Workshops, darunter
solche zur Erinnerungskultur. „Wir stellen uns unserer Verantwortung. Unser
Ziel ist die Anerkennung des Völkermords. Die Versöhnung mit den
Armenier*innen ist ein Nebenprodukt“, sagt Kentel.
Er und seine Mitstreiter*innen freuten sich, als der Bundestag Anfang Juni
2016 eine Resolution für die Anerkennung des Völkermords beschloss. Mit
rund hundert Menschen stand AKEBi damals mit zwei Bannern vor dem
Reichstagsgebäude. „1915 Genozid – Wir protestieren gegen Schweigen und
Verleugnen“ stand auf einem der Banner. Andere Türkeistämmige protestierten
lautstark gegen die Resolution.
Die konservative Türkische Gemeinde zu Berlin beispielsweise sieht heute
wie andere türkische Organisationen auch hinter der Resolution eine
politische Motivation am Werk. „Dieser Beschluss hat das Vertrauen von
türkischen Staatsbürgern in den Staat, seine Organe und in Politiker
verletzt“, sagt deren Vorsitzende Selçuk Demirci der taz. „Der Staat muss
etwas dafür tun, dieses Vertrauen wiederzugewinnen.“
Kentel sieht das ganz anders. „Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die
Anerkennung von den Türkeistämmigen selbst kommen würde. Die Resolution
zwingt sie immerhin, Stellung zu nehmen.“ Es gäbe noch ein aus deutscher
Sicht wichtigeres Argument für die Bundestagsanerkennung: „Das Deutsche
Reich hat damals Beihilfe zum Völkermord geleistet. Heute bekennt sich
Deutschland zu seiner Verantwortung“, meint Kentel. Heute könne Deutschland
dabei helfen, „dass die Türkei den Völkermord anerkennt. Das wäre eine
Wiedergutmachung“.
## Fehlende Anerkennung
Von einer Anerkennung ist die jetzige türkische Regierung allerdings weit
entfernt. Das zeigt zuletzt ein Ereignis vor erst zwei Wochen. Da
deklarierte der französische Präsident Emmanuel Macron den 24. April
offiziell zum nationalen Gedenktag für den Völkermord an den Armeniern.
Frankreich nahm nach den Vertreibungen der Armenier*innen im Ersten
Weltkrieg aus dem Gebiet der heutigen Türkei viele armenische Flüchtlinge
auf, bis heute lebt dort eine große armenische Gemeinde. Der türkische
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu warf Macron Populismus vor. „Frankreich s…
sich erst seine eigene dunkle Geschichte anschauen. Seit dem Völkermord in
Ruanda ist ein Viertel Jahrhundert vergangen“, schrieb der Außenminister
auf Twitter. An anderer Stelle warf er Frankreich vor, die Türkei in dieser
Sache von oben herab zu behandeln.
Der Berliner Vereinsgründer Nihat Kentel ist dennoch optimistisch:
„Verleugnung ist der Anfang von Anerkennung“, glaubt er. Die
Hardenbergstraße weiter runter steht am Steinplatz ein Gedenkstein. Kentel
hält an. „Hier haben sich türkische Nationalisten 2006 eine peinliche
Aktion geleistet. Sie wollten den Minister Talaat Pascha ehren, haben aber
fälschlicherweise versucht, am Gedenkstein für die Opfer des
Nationalsozialismus einen Kranz niederzulegen.“
Was hat einer davon, sich gegen die Mehrheitsmeinung unter den
Türkeistämmigen in Deutschland zu stellen und potentiell anzuecken – außer
einem ruhigeren Gewissen? „Durch die Auseinandersetzung fühle ich die
Freundschaft zu viel mehr Menschen, Völkern und Kulturen als früher. Es ist
ein Weg hin zu mehr Demokratie und Mitgefühl – auch bei Türkeistämmigen
untereinander“, sagt Kentel. Seine Stimme klingt bei diesen Worten noch
milder und sanfter als vorher.
24 Apr 2019
## LINKS
[1] /Portraet-des-Schriftstellers-Doan-Akhanl/!5440320
## AUTOREN
Hülya Gürler
## TAGS
Völkermord Armenien
Erinnerungspolitik
Türkei
Deutschland
Völkermord Armenien
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