# taz.de -- Roman über Mennonitenkolonie: Der strafende Gott, ein Vergewaltiger | |
> Anhand eines realen Falls: In Miriam Toews’ Roman „Die Aussprache“ | |
> beratschlagen Frauen, wie sie aus der Opferrolle ausbrechen können. | |
Bild: Erzählt von sozialen Strukturen, denen Glück fremd ist: Schriftstelleri… | |
Was sich in der bolivianischen Mennonitenkolonie Manitoba zwischen 2005 und | |
2009 ereignete, ist Stoff für einen Horrorfilm: 130 Frauen und Mädchen | |
wurden nachts wiederholt überfallen, mit einem Betäubungsmittel für Kühe | |
außer Gefecht gesetzt und anschließend brutal vergewaltigt. In der streng | |
religiösen Gemeinde wurden die Misshandlungen erst totgeschwiegen, dann als | |
Strafe Gottes deklariert, bis schließlich einer der Vergewaltiger auf | |
frischer Tat ertappt wurde. Nachdem die Kolonie zunächst versuchte, acht | |
angeblich an den Überfällen beteiligte Männer sowie den | |
Betäubungssprayhersteller selbst zu bestrafen und in Container | |
einzusperren, verurteilte schließlich 2011 die bolivianische Justiz die | |
Verdächtigen zu 25 Jahren Haftstrafe. | |
Doch dann erzählten Frauen der Kolonie Manitoba der Journalistin Jean | |
Friedman-Rudovsky, die Überfälle fänden nach wie vor statt. Will Braun, der | |
Redakteur des Webmagazins Cannadian Mennonite, nahm Kontakt mit den | |
Gefangenen auf, die wiederum behaupteten, zu Sündenböcken für Verbrechen | |
gemacht worden zu sein, die sie gar nicht begangen hätten. Und die | |
Schriftstellerin Miriam Toews, selbst 1964 in der mennonitischen Kleinstadt | |
Steinbach im kanadischen Manitoba aufgewachsen, bezog sich letzten Sommer | |
mit ihrem achten Roman, „Women Talking“, der jetzt als „Die Aussprache“… | |
der deutschen Übersetzung von Monika Baark erschienen ist, auf die ghost | |
rapes. | |
Wobei der Gattungsbegriff fast in die Irre führt. Denn Toews konstruiert | |
ein heimliches Treffen von acht Frauen (mit der dreijährigen Miep sind es | |
neun) in der fiktiven Kolonie Molotschna, das unter geradezu | |
aristotelischen Bedingungen, nämlich dramatischer Wahrung der Einheit von | |
Raum und Zeit stattfindet. Als die Männer in die Stadt gefahren sind, um | |
Vieh zu verkaufen und vom Erlös die Kaution für ihre bereits inhaftierten | |
Glaubensbrüder zu bezahlen, bleiben den Frauen 48 Stunden, um ihre | |
Handlungsoptionen zu diskutieren: nichts tun und hinnehmen, bleiben und | |
kämpfen oder die Kolonie verlassen. | |
## Sind wir wie Tiere? | |
Drei Generationen aus zwei Familien, die Friesen- und die Leuwen-Frauen, | |
führen auf einem Heuboden einen selbstaufklärerischen Diskurs über den | |
Ausstieg aus der Opferrolle, indem sie nach ihrem Wesen als Frauen und | |
ihrer Bedeutung vor Gott und für die Kolonie fragen („Sind wir wie | |
Tiere?“), indem sie erörtern, ob „Vergeltung“ nötig oder verwerflich se… | |
ob der Schutz der eigenen Kinder wichtiger ist als der Gehorsam gegenüber | |
dem Kolonievorsteher Peters, ob die Chance besteht, dass sich ihre Männer | |
und vor allem ihre minderjährigen Söhne verändern. Sie ringen mit ihrem | |
Glauben, den manche bereits verloren, gegen ohnmächtige Wut oder galligen | |
Humor eingetauscht haben, während andere versuchen, auf seiner Basis die | |
richtigen Entscheidungen zu treffen. Selbst das scheint neu für die zu | |
sein, denen Gottes Wort stets von Männern ausgelegt wurde. | |
Sowohl die reale Kolonie Manitoba als auch das fiktive Molotschna wurzeln | |
in der historischen Wiedertäuferbewegung, die sich vor 500 Jahren im | |
heutigen Norddeutschland von den reformierten Christen abspalteten. Seither | |
bemüht sich der radikal konservative Flügel der Mennoniten, ein von der | |
Moderne unangetastetes bibeltreues Leben zu führen. Bis heute sprechen die | |
Kolonist*innen Plautdietsch, einen alt-niederdeutschen Dialekt, und tragen, | |
da sie über Generationen nur untereinander geheiratet haben, ähnliche | |
Familiennamen. | |
Schulbesuch nur bis zur vierten oder fünften Klasse, Arbeit ausschließlich | |
in der Landwirtschaft, Ablehnung technischer Neuerungen und militärischer | |
Dienste sowie eine strikt patriarchale Familien- und Gesellschaftsordnung | |
auf der Basis wörtlicher Bibelauslegung („sola scriptura“) setzen | |
individueller Lebensgestaltung engste Grenzen. Weil diese Überzeugungen mit | |
den Prinzipien moderner Staaten unvereinbar sind, zog der orthodoxe Kern | |
der Mennoniten im Laufe der Jahrhunderte von Preußen über Russland, Kanada | |
und Mexiko bis nach Bolivien, das seit den 1950er Jahren mittlerweile rund | |
80.000 Mennoniten eine – das Beispiel Manitoba zeigt es – zweifelhafte | |
„Religionsfreiheit“ gewährt. | |
## Das Protokoll führt ein Mann | |
Geschickt integriert Miriam Toews diese Hintergründe, indem sie ihre eigene | |
Halbdistanz in der Perspektive eines Außenseiters spiegelt. Es ist die | |
eines Mannes, des einfühlsamen Ich-Erzählers August Epp. Selbst | |
aufgewachsen im streng patriarchalen Molotschna, wurden seine nicht ganz | |
konformen Eltern exkommuniziert, er studierte im Ausland und kehrte | |
rätselhafterweise dennoch zurück (warum, erfährt man ganz zum Schluss), um | |
in der Kolonie als Lehrer zu unterrichten. Ein besserer Mann, der Mann der | |
Zukunft vielleicht? | |
Jetzt hat er, der von seinen Geschlechtsgenossen nicht ganz ernst genommen | |
wird, sich den Frauen und vor allem der hochschwangeren Ona Friesen, die er | |
liebt, als Protokollant angeboten, denn keine der Frauen kann lesen oder | |
schreiben. Wozu dann aber das Ganze? Sie vertrauen ihm, so viel steht fest, | |
und Epp nutzt die Gelegenheit, um Ona nahe zu sein, seine detaillierten | |
Beobachtungen von Rede und Gegenrede, aber auch seine eigene Geschichte mit | |
aufzuschreiben. | |
Beiläufig und in feinen Dosen träufelt Miriam Toews Informationen über | |
diese hermetische Parallelwelt in August Epps Protokoll, das weder | |
besonders sachlich noch wohlgeordnet ist, sondern möglichst dicht an die | |
Frauen heranzoomt. Auf dem Heuboden nehmen sie ihre Kopftücher ab, die | |
jungen Mädchen binden sie sich ums Handgelenk: Gipfel of cool. Niemand | |
besitzt ein Handy, bis auf Kolonieboss Peters, der „darauf Spiele spielt“. | |
Mariche Leuwen, erfährt man in Nebensätzen, ist verstümmelt – ein Finger | |
wurde ihr „abgebissen“, ein Auge verlor sie, weil jemand „einen Hufkratze… | |
nach ihr warf. | |
## Häusliche Gewalt im Spiel | |
Dass hier auch häusliche Gewalt im Spiel ist, wird nicht ausgeprochen, aber | |
spätestens klar, als Mariches vor der Zeit zurückgekehrter Mann Klaas sie | |
und ihre Tochter Otje verprügelt. Die Frauen sehen mit dreißig bereits aus | |
wie sechzig, heißt es einmal, so viele Kinder hätten sie da schon bekommen. | |
Kinder, die sie nicht beschützen können, wie die dreijährige Miep: Nicht | |
mal vor ihr haben die Täter Halt gemacht. Dennoch vermeidet Toews jede | |
Anmutung von „Handmaid’s Tale“-artigem Opferporno, entzieht die Frauen | |
immer wieder einer voyeuristischen oder sadomasochistischen Wahrnehmung. | |
Vor zwölf Jahren hat Miriam Toews selbst in dem frappierend langsamen Film | |
„Stellet Licht“ des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas die Ehefrau | |
eines Mennoniten gespielt, der eine andere Frau liebt. Kein Film über | |
äußerliche Gewalt, wohl aber über soziale Strukturen, die nicht auf | |
individuelles Glück und Selbstverwirklichung ausgerichtet sind. Wie damals | |
Reygadas versucht jetzt auch Toews, die Kolonien nicht zu exotisieren, den | |
Mennonit*innen nicht ihr Menschsein abzusprechen und den ohnehin schon | |
beträchtlichen Graben zwischen ihnen und uns nicht zu leugnen, aber auch | |
nicht noch weiter zu vertiefen. | |
## Dann wird es packend | |
Dass das nicht durchgängig gelingt, liegt auch daran, dass August Epp als | |
Stellvertreter Toews’ ihre analytischen Begriffe – Patriarchat, Demokratie, | |
revolutionär, modern – in ein Gespräch streut, das zugleich versucht, die | |
intellektuelle Unschuld bei gleichzeitiger Klugheit der Frauen | |
wiederzugeben. Gerade in der ersten Hälfte liest sich „Die Aussprache“ oft | |
etwas umständlich, wirkt die Sprache ähnlich konstruiert wie die | |
Erzählsituation. | |
Aber dann wird es doch noch packend. Das Zeitfenster beginnt sich zu | |
schließen, die Entscheidung ist gefällt, die Frauen ergreifen konkrete | |
Maßnahmen, etwa indem die beiden jungen Mädchen, Nietje und Otje, den Spieß | |
halb herumdrehen und zwei Männer verführen, um sie anschließend zu | |
betäuben. Und August Epp, der neue Mann? Ist er nicht auch ein großer | |
Manipulator? Obwohl seine Rolle am offenen Ende weit zwiespältiger ist als | |
zu Beginn: Dass Miriam Toews durch ihn ihre erzählerischen Skrupel | |
reflektiert, verleiht der „Aussprache“ noch zusätzliche Tiefe. | |
14 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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