# taz.de -- Brand in der Kathedrale Notre-Dame: Der Schock von Paris | |
> Am Tag danach pilgern Tausende zur Unglücksstelle. Sie können nicht | |
> fassen, was geschehen ist. Für viele ist die Kathedrale viel mehr als nur | |
> ein Gotteshaus. | |
Bild: Montagabend in Paris: Der Augenblick des Kirchturm-Absturzes | |
PARIS taz | Am Tag danach steht Paris unter Schock – dem Schock der Bilder | |
der Brandkatastrophe in der Kathedrale Notre-Dame von Paris, die alle | |
Menschen, sei es am Fernseher oder vor Ort als Augenzeugen auf der | |
Seine-Insel, zutiefst getroffen haben. Viele können es nicht fassen, wollen | |
das Desaster aber mit eigenen Augen betrachten. Sie finden keine Worte, | |
schütteln bloß den Kopf oder wiederholen Sätze, die sie seit dem Vorabend | |
im Fernsehen oder Rundfunk gehört haben: „Notre-Dame ist ein Teil von uns“ | |
oder „Diese Kathedrale ist ein Symbol unserer Nation, unserer Geschichte | |
und unserer Kultur“. | |
Viele Menschen berichten von einer ganz speziellen Beziehung zu dieser | |
Kirche: „Mich verbinden so viele persönliche Erinnerungen mit Notre-Dame. | |
Sie heute so zu sehen schmerzt mich zutiefst“, erklärt Maria Magdalena aus | |
Argentinien. Die in der Nähe von Reims wohnende Familie aus Anne und Jimmy | |
und ihrem Sohn Gabriel hat fast ein schlechtes Gewissen: Die drei wollten | |
ursprünglich am Montagnachmittag Notre-Dame besuchen, hatten es dann aber | |
auf den Dienstag vertagt. Als sie dann auf dem Bildschirm den Großbrand | |
entdeckten, hätte sie „ein Gefühl großer Ohnmacht“ ergriffen. Für ein in | |
Paris zu Besuch weilendes Ehepaar aus Mailand ist „Notre-Dame nach dem | |
Sankt-Peters-Dom in Rom [1][die bedeutendste Kirche] der Christen mit einer | |
universellen Bedeutung“. | |
Am Dienstagmorgen pilgern in einem ununterbrochenen Menschenstrom Tausende | |
von Schaulustigen auf dem linken Seine-Ufer auf dem Quai Saint-Michel zur | |
Brücke Petit Pont, über die man normalerweise zur Pariser Kathedrale auf | |
der Île de la Cité gelangt. Jetzt aber ist für die Neugierigen der | |
Durchgang von der Polizei gesperrt, nur Medienleute werden durchgelassen. | |
Vor der Esplanade vor der Notre-Dame, auf der noch schwarze Aschenreste vom | |
Großbrand in der zurückliegenden Nacht herumliegen, berichten Dutzende von | |
Fernsehteams aus aller Welt über das Unglück, [2][das eine weltweite | |
Betroffenheit ausgelöst hat]. | |
Die Frontfassade mit den beiden charakteristischen Türmen und der Rosette | |
über den Statuen von Heiligen sieht für sie auf den ersten Blick nicht sehr | |
viel anders aus als zuvor. In der Mitte aber fehlt etwas im bekannten Bild: | |
Der mehr als 90 Meter Spitzturm „La Flèche“ ist wie ein Teil des Dachs und | |
des gesamten Gebälks ein Raub der Flammen geworden. | |
## Feuerwehrleute sind Helden | |
Am Vormittag ist der Brand nach offiziellen Angaben gelöscht. Noch stehen | |
aber zwei Feuerwehrautos vor dem Eingang und etwas weiter abseits erholen | |
sich Angehörige der „Sapeurs-pompiers“ in ihren roten Schutzanzügen von | |
ihrem stundenlangen Einsatz. | |
Mehr als 400 Feuerwehrleute haben die ganze Nacht hindurch das Feuer | |
bekämpft, um so viel wie nur möglich von der Kathedrale zu retten. Sie sind | |
die Helden des Tages, ihnen ist es zu verdanken, dass die Zuschauer und | |
Journalisten nicht nur einen Haufen Schutt und Asche betrachten, sondern | |
eine Kathedrale, die weiterhin aufrecht steht. Sie mussten für ihre | |
Löscharbeiten Flusswasser aus der Seine pumpen, um es unter Lebensgefahr | |
aus hohen Leitern und Hebebühnen auf den Brandherd zu spritzen. Ein | |
Feuerwehrmann wurde dabei schwer verletzt. Immer wieder, wenn ein Fahrzeug | |
der Feuerwehr an der Zuschauermenge vorbeifährt, applaudieren die Menschen | |
spontan. | |
Die Nachricht vom Großbrand hatte sich am Montagabend in Windeseile | |
verbreitet, in Büros, Cafés, auf der Straße, überall ist der Blick auf die | |
Smartphones gerichtet. | |
Die ersten Videos lassen befürchten, dass dieses über 800 Jahre alte | |
Meisterwerk gotischer Baukunst und Wahrzeichen von Paris der totalen | |
Zerstörung anheimfallen werde. In der Hauptstadt sind die Rauchfahne und | |
das beängstigende Licht der orangeroten Flammen weithin zu sehen. Den | |
ganzen Abend über und weit in die Nacht hinein kommen aus allen Stadtteilen | |
Menschen zur Seine-Insel. Die Polizei sperrt die Brandstätte weiträumig ab, | |
und die Bewohner der benachbarten Gebäude auf der Île de la Cité werden | |
evakuiert. Das Spektakel für die Zuschauer wird geradezu grotesk, als auf | |
der Seine noch die Sightseeing-Schiffe „Bâteaux Mouche“ mit Touristen still | |
vorübergleiten. | |
## Ein Aufschrei geht durch die Menge | |
Am Ufer unweit von Saint-Michel gegenüber der brennenden Kathedrale haben | |
sich in der einbrechenden Dunkelheit Gruppen von Gläubigen, zum Teil auf | |
Knien, zum Gebet eingefunden. Andere halten die Hände gefaltet, viele | |
weinen. „Ich bin keine besonders praktizierende Katholikin, aber ich bete | |
zu allen Heiligen, Engeln und Erzengeln und zur Heiligen Jungfrau Maria, | |
dass der Brand gestoppt wird. Wie ist so etwas nur möglich?“, fragt | |
bestürzt Monique Jacob, eine 45-jährige Pariserin aus dem Süden der | |
Hauptstadt. Als der lichterloh brennende Spitzturm, „La Flèche“, zuerst in | |
zwei Hälften zerbricht und dann in seinem Sturz den Dachstuhl mit in die | |
Tiefe reißt, geht ein Aufschrei durch die Menge. | |
Alle sind schockiert. Vielleicht hat dieser Brand in der von | |
Terroranschlägen heimgesuchten Stadt auch kaum verheilte Wunden des | |
Schreckens wieder aufbrechen lassen. Für die gläubigen Katholiken ist es | |
besonders tragisch, dass sich dieses Unglück zu Beginn der Karwoche | |
ereignet hat. In die rasch wachsende Menge entsetzter Zuschauer mischen | |
sich Touristen, die ebenso von dieser Katastrophe im Innersten berührt sind | |
wie die Franzosen und Französinnen. | |
Mehrere Besucher aus den USA erklären, sie fühlten sich an den 11. | |
September 2001 erinnert, als in New York das World Trade Center nach dem | |
Terrorangriff zusammenfiel. Immerhin wird es in Paris mit Erleichterung | |
aufgenommen, dass es sich Im Fall der Notre-Dame nicht um ein Attentat und | |
vermutlich auch nicht um vorsätzliche Brandstiftung handelt. Von Beginn an | |
erklären die Behörden, dass der Brand höchstwahrscheinlich auf Bauarbeiten | |
im Dachstuhl zurückzuführen sei. | |
## Rätseln über die Brandursache | |
Rund 50 Experten sind seit dem Dienstag fieberhaft mit der Untersuchung der | |
Brandstelle beschäftigt. Dreißig Arbeiter von fünf Firmen, die an den | |
Vortagen mit einer Teilrenovierung beschäftigt waren, sind noch in der | |
Nacht auf den Dienstag befragt worden. Der Staatsanwalt von Paris, Rémy | |
Heitz, teilt dazu mit, nichts lasse beim derzeitigen Stand der Ermittlungen | |
auf eine mutwillige Brandstiftung schließen. | |
Philippe Villeneuve, der als Chefarchitekt seit 2018 die Renovierung der | |
Kathedrale leitet, kann sich nicht erklären, was geschehen ist. „Was ich | |
lediglich bestätigen kann, ist, dass sich zum Zeitpunkt des Brandausbruchs | |
kein Arbeiter mehr an der Baustelle befand.“ Für die Besucher schloss | |
Notre-Dame am Montag wie üblich um 19 Uhr. Etwa um dieselbe Uhrzeit | |
entdeckte die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo aus ihrem Büro im | |
Rathaus den aus der Notre-Dame aufsteigenden Rauch. Sie habe die Feuerwehr | |
alarmiert, sagt sie. | |
Widersprüchliche Meldungen zirkulieren über den ersten Brandalarm gegen | |
18.30 Uhr. Die Experten müssen auch untersuchen, wie stabil die Struktur | |
der Kathedrale jetzt noch ist, die wie die beiden Türme und die Fassade | |
grundsätzlich verschont blieb. Die jahrhundertealten Eichenbalken des | |
Dachgewölbes sind dagegen verbrannt, was auch die Struktur des ganzen | |
Gebäudes schwächen könnte. Entgegen ersten Befürchtungen blieb die | |
historische Hauptorgel von Notre-Dame weitgehend unbeschädigt. Der | |
Kirchenschatz und die wichtigsten Reliquien konnten zu Beginn des Brandes | |
in Sicherheit gebracht werden. | |
Anfänglich, am Montagabend, wird das Schlimmste, eine totale Zerstörung, | |
befürchtet. Nach Mitternacht macht sich Erleichterung breit. Die Feuerwehr | |
hat den Brand unter Kontrolle. Sonia Krimi, eine Abgeordnete der | |
Regierungspartei „République en marche“, die zusammen mit dem Staatschef | |
und mehreren Ministern einen ersten Augenschein auf das Innere der | |
Kathedrale werfen darf, in der noch Glut und kleine Brände gelöscht werden | |
müssen, kann versichern: „Der Altar, die Mauern und auch ein großer Teil | |
des Dachs sind intakt.“ | |
## Präsident Macron verspricht den Wiederaufbau | |
Trotzdem ist der Schaden enorm und vorerst nicht einmal annähernd zu | |
beziffern. Parallel zu anderen privaten Initiativen für Geldsammlungen hat | |
Präsident Emmanuel Macron bereits am Montagabend eine nationale und | |
internationale Spendenkampagne gestartet: „Wir werden Notre-Dame wieder | |
aufbauen, gemeinsam“, verspricht er. Am Dienstag leitet er eine | |
Sondersitzung des Ministerrats zur Planung des Wiederaufbaus. Die Rede ist | |
von einer internationalen Geberkonferenz. | |
Der französische Kunstmäzen und Milliardär François Pinault, Besitzer der | |
Luxuswarenholding Kering, hat bereits 100 Millionen Euro versprochen. Sein | |
Konkurrent Bernard Arnault von der Luxusgruppe LVMH will sich nicht lumpen | |
lassen, er will 200 Millionen Euro beisteuern. Auch die Stadt und die | |
Region Paris müssen tief in die Tasche greifen. Bürgermeisterin Anne | |
Hidalgo will 50 Millionen aus kommunalen Mitteln und die Hauptstadtregion | |
Île-de-France 10 Millionen für die erste Phase der Instandssetzung geben. | |
Unklar bleibt, wie lange diese Restaurierung dauern wird. Man hat nur eine | |
historische Vorgabe: Als die gotische Kathedrale von Reims im Ersten | |
Weltkrieg bombardiert und weitgehend zertrümmert wurde, dauerte der | |
Wiederaufbau fast zwanzig Jahre. Dabei wurden innovative Techniken und | |
neueres Baumaterial wie Zement verwendet. Im Fall der Notre-Dame ist zum | |
Beispiel nicht geklärt, ob es noch Zimmerleute gibt, die sich mit dem | |
originalen Fachwerk aus der gotischen Epoche auskennen. | |
In Frankreich melden sich noch in der Nacht alle politischen | |
Persönlichkeiten zu Wort, allen voran Präsident Emmanuel Macron. „Ich bin | |
traurig, ein Teil von uns selbst steht in Flammen“, schreibt der Präsident | |
auf Twitter in einer ersten Reaktion auf den schrecklichen Brand. Er | |
verschiebt die ursprünglich geplante Rede an die Nation zur Ankündigung | |
seiner Antwort auf die Proteste der Gelbwesten auf unbestimmte Zeit. | |
Mehrere Parteien haben ihren Europa-Wahlkampf vorübergehend gestoppt. | |
Angesichts einer solchen Tragödie herrscht eine „union sacrée“ von links | |
bis rechts. | |
Laurent Wauquiez, der Parteichef der französischen Konservativen „Les | |
Républicains“, meint: „Ein ganzer Teil unserer Geschichte, ja ein Teil von | |
uns selbst brennt.“ Für ihn ist dieses Gotteshaus ein „Symbol unserer | |
christlichen Wurzeln“, aber ebenso ein Teil der Kultur, dank Victor Hugos | |
klassischem Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“. Katholiken und Gläubige | |
anderer Konfessionen wie Nichtreligiöse sehen in der Notre-Dame mehr als | |
nur eine Kirche oder eine Touristenattraktion. Die nicht endenden | |
Reaktionen auf den Brand zeugen von dieser tiefen Verbundenheit. | |
16 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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