# taz.de -- Pariser Kathedrale Notre-Dame: Die Kirche der Nation | |
> Notre-Dame steht für Geschichte der imposantesten und traditionellsten | |
> Form. Aber die Pariser Kathedrale steht auch für das Volk. | |
Bild: Wie ein Bug in der Seine | |
Es sind schreckliche Stunden voller Symbolkraft für jeden, der Frankreichs | |
Geschichte auch nur ein wenig liebt. [1][Das Herz des Landes brennt] – vor | |
den Augen all jener vielen Millionen Erdbewohner, die schon einmal zwischen | |
den ehrwürdigen Säulen und den Kapellen voller Mysterien durch das | |
Kirchenschiff gewandelt sind, die feierliche Luftigkeit genossen haben, die | |
verrückten Kreuzgewölbe, die kunterbunten Kirchenfenster. Brennt Paris? Ja, | |
irgendwie. Ein dichter Rauch steht über diesem ebenso bewegenden wie | |
erbarmungslosen Spektakel. | |
Das brennende Gebälk stützte nicht nur ein kunstvolles Dachgestühl und | |
einen stolzen Turm, sondern auch zu einem guten Teil die französische | |
Identität, wo Schulwissen und Legende aufeinandertreffen: Karl VII und | |
Jeanne d'Arc, Henri IV und Bossuet, die Revolution und die beiden | |
Napoleons, die Befreiung, Claudel, der Marschall und der General – und in | |
der Populärkultur vor allem der Glöckner Quasimodo, Frollo und Esmeralda, | |
die Helden Victor Hugos, der mit seinem Monument aus Papier dem Monument | |
aus Stein ein Denkmal gesetzt hat. | |
Notre-Dame de Paris, das ist zunächst einmal ein brutales und üppiges | |
Mittelalter, zu Unrecht missachtet, von Historikern rehabilitiert, von der | |
Öffentlichkeit geliebt, mit seiner an Fanatismus grenzenden Gläubigkeit, | |
seinen blutigen Game-of-Thrones-Intrigen, seinem Elend und seinen | |
Massakern, die einem den Glauben nehmen. Das große steinerne Raumschiff | |
mitten in der Hauptstadt war der Treffpunkt des Volkes. | |
Auf der Île de la Cité, wo einst das römische Lutetia stand, errichteten | |
die mit unbeschränkter Macht ausgestatteten Kirchenoberen diese Opfergabe | |
aus Stein an ihren über Europa herrschenden Gott. Von West nach Ost gen | |
Jerusalem ausgerichtet wie so viele Kathedralen, zwei massive Türme, ein | |
gigantisches Kirchenschiff, ein Querschiff mit Rosenkränzen aus Licht, ein | |
Chor wie ein in die Seine hineinragender Bug, ein Turm als Wolkenkratzer | |
über dem christlichen Paris als Inkarnation der unangreifbaren Macht des | |
Katholizismus. | |
Ringsum drängeln sich die fragilen Verschläge eines an Unglück gewohnten | |
Volkes, das harte Leben im Schatten der steinernen Wasserspeier und | |
Heiligen, unter dem Schutz von Reliquien mit magischen Kräften, darunter | |
die von Ludwig dem Heiligen dort verstaute Dornenkrone Jesu Christi. | |
Gläubige, Bürgerliche, Herrschaften, aber auch Geächtete, Ausgeschlossene, | |
Leidende erhalten Aufnahme zwischen diesen Mauern, die uns fahl erscheinen | |
weil die ursprünglichen roten und goldenen Fresken im Laufe der Zeit | |
verblichen sind und nie restauriert wurden in einer Epoche, in der man die | |
Religion von Natur aus für karg hielt. | |
Große Ereignisse folgten aufeinander in diesem lebenden Museum und | |
markieren die Kapitel der Geschichtsbücher der Republik. Philipp IV, | |
genannt der Schöne, berief hier im Streit mit dem Papst die ersten | |
Generalstände des Königreiches ein. Karl VI, genannt der Vielgeliebte, | |
wurde als Kind hier zum König von Frankreich und England gekrönt, ebenso | |
später Maria Stuart aus Schottland. Karl VII, genannt der Siegreiche, | |
feierte hier die Rückeroberung seiner Hauptstadt von den Engländern und den | |
Burgundern mit einem Te Deum, das erste einer langen Reihe, und berief das | |
Kirchentribunal ein, das die in Rouen verbrannte Jeanne d'Arc | |
rehabilitierte. Margarete von Valois, genannt Königin Margot, heiratete | |
hier Heinrich von Navarra, den Hugenottenkönig der während der | |
Trauungszeremonie draußen wartete, sechs Tage bevor aus dieser | |
Versöhnungshochzeit die Bluthochzeit mit dem Massaker der Bartholomäusnacht | |
wurde. Noch ein Te Deum gab es zur Hochzeit von Louis XIV, eine | |
beeindruckende Trauerrede von Bossuet zum Tod des Prinzen von Condé. | |
Napoleon krönt sich hier zum Kaiser, nimmt aus den Händen des Papstes die | |
Krone entgegen um sie sich selbst auf den Kopf zu setzen und dann seine | |
Tochter Josephine zu krönen. Sein Neffe Napoleon III heiratet hier seine | |
Kaiserin und lässt hier den Kaiserprinzen taufen. Zwischendurch hat die | |
Revolution aus der Kathedrale einen kurzlebigen „Tempel der Vernunft“ | |
gemacht, in einem vergeblichen Versuch der Entchristianisierung, als aus | |
Kirchen Getreidespeicher wurden und aus Glocken Kanonen. | |
Dunkle Stunden gibt es während der deutschen Besatzung. Kardinal Suhard | |
empfängt hier feierlich unter dem Jubel der Pariser im April 1944 Marschall | |
Pétain. Lichte Stunden folgen: die Befreiung von Paris beginnt nahe des | |
Vorplatzes mit der Revolte der Polizeipräfektur, geht weiter mit einem | |
Steinwurf vor dem Rathaus, mit den Panzerfahrzeugen von Kapitän Dronne und | |
spanischen Republikanern, und schließlich die Apotheose mit dem | |
Orgeldonnern des Te Deum und der Marseillaise im Beisein von General de | |
Gaulle und den Anführern des freien Frankreichs und der Résistance. Im | |
Augenblick ihres Einzuges in die Kathedrale eröffnen Scharfschützen von | |
Dächern das Feuer auf die Menge, und es heißt, der General sei als einer | |
der wenigen aufrecht geblieben und sei unverändert bedächtig in das | |
Kirchenschiff geschritten. | |
Hinter einer Säule von Notre-Dame findet Claudel zum Glauben, hier | |
betrauert die Nation Charles de Gaulle, Georges Pompidou und Francois | |
Mitterrand, obwohl dieser Saint-Denis vorzog. Hier ehrt man den Abbé | |
Pierre, die Schwester Emmanuel, hier nimmt sich der rechtsextreme | |
Schriftsteller Dominique Venner das Leben, hier sammelt man sich nach den | |
Anschlägen des November 2015. | |
Notre-Dame steht also für Geschichte der imposantesten und traditionellsten | |
Form. Aber Notre-Dame steht auch für das Volk. Victor Hugo hat die düsteren | |
Emotionen des Glaubens beschrieben, aber vor allem den Überschwang der | |
Menge auf dem Vorplatz und sogar im Kirchenschiff, wo sich die Handwerker | |
drängelten, die Spinnweber, die Lastenträger, die Prostituierten, wo die | |
Zigenuerin Esmeralda tanzte, wo der Glöckner Quasimodo litt – er lebte in | |
den obskuren Höhen des Gebälks, das jetzt verbrannt ist. Vor ihm hat Eugène | |
Sue seine Mystères de Paris, der erste große Reportageroman über das Elend, | |
die Menschlichkeit und die Würde der Vergessenen, hier auf der Île de la | |
Cité beginnen lassen, dem ärmsten Viertel der Hauptstadt. Und nicht zuletzt | |
hat ein Musical voller leichter Melodien in die ganze Welt den Ruhm dieses | |
Monuments getragen, das in sich die Größe einer mythischen Geschichte mit | |
den allzu menschlichen Prüfungen eines mal devoten, mal aufsässigen Volkes | |
vereint. | |
Übersetzung des [2][französischen Orginals aus Libération]: Dominic Johnson | |
16 Apr 2019 | |
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[2] https://www.liberation.fr/france/2019/04/15/de-la-reine-margot-a-la-liberat… | |
## AUTOREN | |
Laurent Joffrin | |
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