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# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Mehr Kunst aushalten
> Kunst und Künstler müssen nicht charakterlich untadelig sein. Das führt
> zu Sterilität im Kulturbetrieb. Wir müssen Uneindeutigkeit aushalten.
Bild: Nicht immer so schwarz-weiß: Nicht nur gute Menschen machen gute Kunst
Was darf Kunst eigentlich, was soll sie dürfen, und was sind das für
Künstler, in die wir noch genügend Vertrauen haben, [1][um uns ihrer Kunst
auszusetzen]? Welchen moralischen Prüfungen muss er oder sie standhalten,
welche außerästhetischen Kriterien müssen erfüllt werden, damit etwa eine
Provokation als gesellschaftlich aufrüttelnd und nicht als verletzend
wahrgenommen wird?
Während in Deutschland vergangene Woche ein neues Rammstein-Musikvideo, in
dem Bandmitglieder in KZ-Häftlingskleidung zu sehen waren, heftige Kritik
auslöste, verhinderten Anti-Rassismus-Gruppen in der Pariser
Elitehochschule Sorbonne die Aufführung der griechischen Tragödie „Die
Schutzflehenden“ von Aischylos – eines hochaktuellen Stücks über die Frage
nach Asyl und politischer Verantwortung, in dem allerdings Masken und
dunkle Schminke verwendet werden sollten. Zugleich gibt es derzeit
vehemente Forderungen, die Werke von Künstlern zu verbieten, die in ihrem
Privatleben in gravierendem Maße Menschen ausgenutzt oder gar misshandelt
haben. Intuitiv ist das sofort nachvollziehbar, nur bleibt dabei unberührt,
ob einem Kunstwerk oder einem künstlerischen Engagement jenseits der
Verwerflichkeit des Schöpfers, der Schöpferin ein Wahrheitsanspruch
zukommt.
Im letzten Jahr war ich bei einer Podiumsdiskussion, bei der unter anderem
Klaus Theweleit darüber sprach, wie in Europa ein ganzer Kontinent, Afrika,
aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt werde. Er verglich es mit
dem viel kleineren und privaten Leugnen einer Geliebten, aus dem Bedürfnis
heraus, sich ein eigenes integres Selbstbild zu bewahren. Solche
verdrängten Geschichten gibt es natürlich auch im Kulturbetrieb: Nehmen wir
eine sich in der Arbeit für die Sichtbarmachung von gesellschaftlich
verdrängten Problemen einsetzende Künstlerpersönlichkeit, der oder die ein
geregeltes Familienleben führt, nebenher aber immer wieder Geliebte hat,
die dann ebenso wie der feste Partner oder die Partnerin über die Existenz
des jeweils anderen getäuscht werden.
Das wäre zwar eine unerfreuliche Geschichte, die etwas erzählt über
Hierarchien sowohl auf dem Kultur- wie auf dem Beziehungsmarkt und
natürlich über Verdrängungsmechanismen, aber sie hat weder die Sprengkraft
eines Kachelmannskandals noch reicht sie an eine #MeToo-Erfahrung heran.
Sie ist vermutlich eher recht gewöhnlich, gerade darum dennoch
erzählenswert, weil sie im Kleinen einige Fragen berührt, die derzeit in
der Debatte über politische Korrektheit und private Integrität von
Kunstschaffenden immer wieder mit einer gewissen Verbissenheit gestellt
werden, und die mit den großen, schockierenden Beispielen oft schnell zu
einer emotional aufgeladenen Diskussion führen, die eine nüchterne
Betrachtung erschwert.
## Ohne Ambivalenz lässt sich die Gesellschaft nicht verstehen
Es geht, lapidar gesagt, um die alte Frage, ob man Wasser predigen und Wein
trinken darf, ferner ob man es soll und überhaupt kann. Muss ein Künstler
über ein Privatleben verfügen, das den moralischen Ansprüchen der eigenen
Arbeit und/oder denen der Gesellschaft genügt, nicht zuletzt, damit das
Werk, womöglich noch mit politisch-ethischer Façon, nicht zwischen
Heuchelei und PR-Coup hängenbleibt?
Spontan mag man dies bejahen, entspricht dies ja auch dem derzeit höchst
akuten Wunsch nach moralisch ungebrochenen Charakteren, der Ablehnung von
oder auch der Angst vor Ambivalenz in diesem Bereich, der Sehnsucht nach
einer Welt, in der eindeutig das Gute hier steht und das Schlechte da
drüben. Dabei wissen wir eigentlich nur allzu gut, dass diese Klarheiten
Trug sind. Ohne Ambivalenz lässt sich eine Gesellschaft weder im Kleinen
noch im Großen verstehen und in Bezug auf künstlerische Arbeit ist zudem
geradezu binsenweisheitlich bekannt, dass sich bestimmte kompensatorische
Dynamiken mitunter durchaus positiv auf den Schaffensprozess auswirken
können, wenngleich nicht unbedingt auf das Umfeld des Künstlers (oder der
Künstlerin, historisch gesehen dominiert hier allerdings das Maskulinum).
Nicht zwingend, aber auch nicht ganz unüblich ist es, dass gerade jene, die
zu viel Wein trinken, umso besser dagegen ansprechen können, und mitunter
waren und sind die großen moralischen Mahner Menschen, die selbst Leichen
oder sagen wir vorsichtiger: nicht ganz geklärte Geschichten im Keller
haben. Künstler sind niemals nur Beschreiber der Gesellschaft, sondern
immer auch Teil von ihr. Sie können sie nicht zur Gänze greifen, sondern
werden sich in einer Suchbewegung um sie herum ihnen annähern und vor ihnen
zurückweichen.
Der derzeit so oft formulierte Wunsch nach vollkommener Aufgeklärtheit über
die eigenen Regungen, nach einer absoluten Charaktertransparenz (und damit
auch bitteschön gleich einer geprüften charakterlichen „Gutheit“) ist
möglicherweise illusorisch. Falls nicht, könnte seine Durchsetzung am Ende
zu einer gewissen Sterilität in der Kunst führen, die schließlich zumindest
zum Teil von unauflösbaren Widersprüchen lebt.
So immens wichtig es ist, in allen Gesellschaftsbereichen, auch dem
Kulturbetrieb, gegen Diskriminierung, Missbrauch und das Ausnutzen von
Privilegien und Machtungleichgewicht einzutreten, sollte die Debatte in
Bezug auf das Wesen der Kunst so viel Leichtigkeit und Freiheit
zurückgewinnen, dass zumindest wieder unterschieden werden kann zwischen
Leben und Werk, zwischen einzelnen Ingredienzen eines Kunstwerks und ihrer
Wirkung im Zusammenhang. Kunst mit Reglementierung zu begegnen, wird sie
nicht hellsichtiger machen. Nicht was sie darf und was nicht, sondern was
sie sich zutraut und aushält, wäre die interessante Frage. Statt eines
röntgenartigen Durchleuchtens der eigenen Handlungslogik könnte das eher
ein Wissen um die uns je eigene Verletzbarkeit sein.
4 Apr 2019
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## AUTOREN
Nora Bossong
## TAGS
zeitgenössische Kunst
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