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# taz.de -- Kinoempfehlung für Berlin: Das Verlangen, sichtbar zu werden
> Mit dem Streetdance-Drama „Somos Calentura“ (2018) von Jorge Navas
> eröffnet das „Panorama Colombia“-Festival im Babylon-Mitte.
Bild: Sehen aus wie Bad Boys, haben aber nur Angst: Die vier Jungs von Harveys …
Als Harvey (Duván Arizala) aufwacht, liegt er am Ufer eines Flussdeltas,
mitten im vermüllten Schlamm von Mangroven; vor ihm ragt ein riesiger
Frachter in den Himmel. Harvey war nahe seiner Heimatstadt Buenaventura an
der Pazifikküste Kolumbiens an Bord eines Schmugglerschiffs, als die
Küstenwache das Boot entdeckt und er von der Besatzung genötigt wird, ins
offene Meer zu springen.
Regisseur Jorge Navas führt Buenaventura in seinem Film „Somos Calentura“
(„We are the Heat“, 2018), der am Donnerstag das „[1][Panorama
Colombia]“-Festival eröffnet, als einen Ort ein, der mehr nach Apokalypse
aussieht als wie ein tropisches Paradies am Meer. Tatsächlich ist das
afrokolumbianisch geprägte Buenaventura eine der ärmsten Städte des Landes.
Während der modernisierte Containerhafen und der Drogenhandel prosperieren,
leben die meisten drumherum in Slums oder „Palafitas“, Pfahl-Hütten über
dem Wasser.
In diesem Ambiente schlagen sich Harvey und seine Kumpels irgendwie durchs
Leben. Die einzige Chance, ihrem prekären Dasein zu entkommen, ist der
lokale Tanzwettbewerb. Harvey wird von Steven (Miguel Ángel Micolta),
Freddy (José Luis Paz) und „El Baby“ (Manuel Riascos), seinen drei
Tanzcrew-Partnern, zur Teilnahme überredet.
## Marimbas und HipHop
Zu den weichen, durchdringenden Klängen von Marimbas und dem HipHop der
Band ChocQuibTown entwickelt sich „Somos Calentura“ zu einem klassischen,
von Klischees nicht ganz freien Tanz- und Musikfilm, einem
Ich-zieh-mich-mit-Streetdance-aus-der-Scheiße-Märchen. Zunächst scheitert
das fast; die Versuchungen und Zwänge sind groß – das schnelle Geld winkt,
die „Narcos“ und korrupte Polizisten drängen mit allen Mitteln –, bis die
Vier vor die Entscheidung gestellt werden: Moves oder Kugeln, Gewalt oder
Tanz?
Es folgen so einige Urban-Dance-Battles mit zum Teil beeindruckenden
Choreografien, die Break- und Streetdance mit Salsa Choke und Reggaeton
mischen. Sie zeugen von einer unbändigen kreativen Kraft, dem Verlangen der
marginalisierten Afrokolumbianer, sich auszudrücken, sichtbar und
wahrgenommen zu werden.
Manchmal erinnern diese Szenen aber auch an die machistische Ästhetik von
Reggaeton-Videoclips. Es ist bezeichnend, dass an dem Tanzwettbewerb
überwiegend Boy Crews teilnehmen. Ihre Auftritte sehen aus wie Hahnenkämpfe
potenter Jungmänner, welche die Gewalt allerdings künstlerisch
transformieren. Besonders der Stil des Harvey-Darstellers Duván Arizala
imponiert; er wirkt, als ob Arizala unablässig mit sich selber ringe und
versuche, aus seinem eigenen Körper auszubrechen.
Musik und Tanz spielten auch bei dem Generalstreik eine Rolle, der
Buenaventura im Mai 2017 wochenlang lahmlegte – und die Bewohner der Stadt
im abgelegenen Süden mit ihren Forderungen endlich in die nationalen
Nachrichten brachte. Der Rapper El Teacher nahm etwa im Unterhemd auf dem
Bett sitzend seinen Acapella-Rap „Lo que nos merecemos“ („Was wir uns
verdient haben“) auf, der in den sozialen Netzen viral ging.
Auch beim „Somos Calentura“-Dreh wurde eng mit den „comunidades“ der
Hafenstadt zusammengearbeitet, die Darsteller und Tänzer sind
Laienschauspieler und Szenegrößen. Der Film lief in Kolumbien für eine
heimische Independent-Produktion im September schließlich recht gut an.
Trotzdem entschied der Verleih nach wenigen Tagen, ihn landesweit nur noch
in einem Dutzend Kinosälen zu zeigen. Regisseur Jorge Navas erklärte in
einem Interview mit El País frustriert, der einzige Grund dafür sei, dass
sich mit US-Filmen einfach schneller Geld machen lasse.
## Kritisches Programm
„Panorama Colombia“ hat mit ähnlichen finanziellen Schwierigkeiten zu
kämpfen. Jedenfalls unterstützen die kolumbianischen Institutionen das
kleine Festival nach dem Wahlsieg des konservativen Präsidenten Iván Duque
nicht mehr. Dass die Programmgestaltung dabei eine Rolle spielte, ist
naheliegend. Viele Filme des viertägigen Festivals drehen sich um
gesellschaftliche Konflikte.
Im Drama „Matar a Jesús“ („Killing Jesus“, 2017) von Laura Mora zum
Beispiel will eine junge Frau den ungesühnten Auftragsmord an ihrem Vater
rächen. Der Dokumentarfilm „La Negociacion“ („The Negotiation“, 2018) …
Margarita Martínez Escallón beleuchtet wiederum die schwierigen
Verhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla
– von den ersten geheimen Treffen im Jahr 2012 über das eine Vereinbarung
ablehnende Referendum bis zur Unterzeichnung des zweiten Friedensvertrags
im November 2016.
Je länger man den Interviews mit den am Friedensprozess Beteiligten folgt,
umso klarer wird eines: Auf dem Weg zum Abkommen wurde so lange und
konstruktiv um Kompromisse und einen Konsens gerungen, dass alles andere,
als weiter auf seine konsequente Umsetzung zu drängen, ein historischer
Fehler wäre.
Dieser Text erscheint im taz Plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
13 Mar 2019
## LINKS
[1] https://www.panoramacolombia.com/
## AUTOREN
Ole Schulz
## TAGS
Filmfestival
Kolumbien
Tanz
Aufstand
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