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# taz.de -- Berlinale „So Long, My Son“: Ein Kindertotenlied​
> Im Wettbewerb der Berlinale: Wang Xiaoshuais „So Long, My Son“ erzählt in
> episch-melancholischer Weise von der Gegenwart der Vergangenheit.
Bild: Zusammenkommen in fröhlicheren Zeiten: Still aus Wang Xiaoshuais „So L…
Ein Flussufer, Sonne, etwas Wind, Kinder spielen am Ufer. Etwas oberhalb
sitzt ein Junge noch komplett angezogen und traut sich trotz allem Zuredens
nicht ins Wasser. Ein Flussufer, grauer Himmel, etwas Wind, Kinder stehen
am Ufer, im Wasser treibt der Junge, leblos.
Wang Xiaoshuais Wettbewerbsbeitrag „So Long, My Son“ erzählt in
episch-melancholischer Weise vom Leben mit Verlust und von der Gegenwart
der Vergangenheit. Die Eltern Liu Yaojun und Wang Liyun verlieren an jenem
grauen Tag ihren Sohn Xingxing, verlassen kurz darauf ihre Heimat und
adoptieren einen Jungen, um die Leerstelle zu füllen, die der tote Sohn
hinterlassen hat.
Yaojun und Liyun ziehen sich von allen zurück, brechen mit der
Gemeinschaft, die sie all die Jahre in der Fabrik umgab. Sie lassen die
Freunde hinter sich, die nicht wissen, wie den beiden zu helfen wäre, und
die mit ihrem eigenen Leben ringen.
Sie alle führen nun ein Leben zwischen kollektiver Vergangenheit und
individuellem Lebensweg – ohne dass sich das eine vom anderen trennen
ließe. „Wie könnten alte Freunde die guten Zeiten der Vergangenheit
vergessen“, heißt es in dem Lied „Auld Lang Syne“ (auf Deutsch „Ewige
Freundschaft“). Es strukturiert als Streichquartett und Lied den ersten
Teil des Films, markiert die Sprünge zwischen Gegenwart und Vorgeschichte.
Später kehrt die Melodie wieder, bricht jedoch nach den ersten Tönen ab.
Die Erinnerung ist unerträglich geworden.
## Drei Jahrzehnte chinesischer Geschichte
„So Long, My Son“ umspannt drei Jahrzehnte chinesischer Geschichte. 1979,
drei Jahre nach Ende der Kulturrevolution führte die Regierung die
sogenannte Ein-Kind-Politik ein. Die früheste Erzählebene des Films spielt
just in jenen Jahren. Als Liyun nach der Geburt von Xingxing erneut
schwanger wird, nötigt die Fabrikdirektorin sie zu einer Abtreibung. In
seiner epischen Grundanlage, zentrale Umbrüche der chinesischen
Zeitgeschichte anhand einer Familiengeschichte zu erzählen, ähnelt „So
Long, My Friend“ Zhang Yimous „To Live“ von 1994, der eine Familie durch
die Kriegsjahre, den Großen Sprung bis durch die Kulturrevolution
begleitet.
Nimmt man diese Parallele ernst, wird deutlich, was für ein einschneidendes
Trauma die Ein-Kind-Politik ist. Dazu kommt, dass die Gegenwart im
chinesischen Film als eine ähnliche Zäsur wahrgenommen wird wie die späten
1980er bzw. frühen 1990er Jahre. Der Blick zurück in die Geschichte dient
nicht länger zur Kritik an der Gegenwart, wie in jenen Filmen, die
Regisseure wie Zhang Yimou berühmt machten, sondern – wie es der Regisseur
auf der Pressekonferenz formulierte: „Wir müssen [wie in der Zeit nach der
Kulturrevolution] nach vorne blicken, doch auch zurück, um Fehler der
Vergangenheit zu vermeiden.“
## Der Blick über die Schultern
„So Long, My Son“ springt drei Stunden lang durch die verschiedenen
Zeitebenen, blendet vor und zurück und wird auf beeindruckende Weise
zusammengehalten durch die überzeugende Leistung der Schauspieler und die
formale Gestaltung.
Die Bildgestaltung wechselt immer wieder zwischen axialen Blicken in die
Weite und Barrieren, die mit strengen Horizontalen den Blick gleichsam an
der Leinwand abprallen lassen. Der Blick voraus hat es da nicht leicht. Ein
weiteres wiederkehrendes Element ist der Blick über die Schultern der
Protagonisten Wang Jingchun und Yong Mei, die immer wieder zu
entsubjektivierten Zuschauern des Geschehens werden, die ihr Leben formen.
## Zweimal Preise gewonnen
Die harten Schnitte zwischen Gegenwart und Vergangenheit stellen die beiden
Zeitebenen gleichwertig nebeneinander. Leider hält der Film diese
Gestaltungselemente nicht über die gesamte Dauer des Films durch.
Wang Xiaoshuai gewann bislang zweimal Preise auf der Berlinale: 2001 für
seinen Film „Beijing Bicycle“ den Silbernen Bären als Großer Preis der Ju…
und 2008 für das Drehbuch zu „Zuo you“ („In Love We Trust“) einen Silb…
Bären. „So Long, My Son“ ist ein Lichtblick in einem unfassbar
uninspirierten Wettbewerbsjahrgang. Ob es angesichts des leichten
Schwächelns zum Ende hin zu einem Bären reicht, werden wir morgen Abend
wissen.
15 Feb 2019
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
Schwerpunkt Berlinale
China
Preisverleihung
Catherine Deneuve
Schwerpunkt Berlinale
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