| # taz.de -- Rückschau in Berlin: Umwerfend lebendig | |
| > Das Kino Arsenal widmet dem bei uns noch weitgehend unbekannten | |
| > sowjetisch-jüdischen Filmemacher Michail Kalik eine Retrospektive. | |
| Bild: Kaliks berühmtester Film: „Der Sonne nach“ von 1961 | |
| Hupend biegt das Taxi die Auffahrt zum Flughafen Ben Gurion ein und hält | |
| vor dem Gate. Nach fast 20 Jahren fährt Filmregisseur Michail Kalik wieder | |
| nach Moskau. Auf ein Treffen mit Freunden folgt ein Besuch auf dem | |
| Friedhof, wo Kalik Kaddisch für seine Eltern spricht. | |
| Der Film „Die Rückkehr des Windes“ von 1991 dokumentiert diesen Besuch in | |
| der ehemaligen Heimat. Kalik verließ die UdSSR 1971 im Zuge einer der | |
| vielen antisemitischen Kampagnen und ging nach Israel. In Kooperation mit | |
| dem Österreichischen Filmmuseum in Wien zeigt das Kino Arsenal nun sein | |
| Gesamtwerk. | |
| Schon Kaliks Anfänge als Filmemacher schwankten zwischen Höhepunkten und | |
| Problemen. In einem autobiografischen Interview von 2017 spricht Kalik | |
| davon, dass das Aufnahmegespräch an der Moskauer Filmhochschule VGIK 1949 | |
| in einem anregenden Austausch mit der sowjetischen Filmlegende Michail Romm | |
| endete. 1951 endet Kaliks Filmstudium zunächst, er wird mit vier anderen | |
| des „jüdisch bourgeoisen Nationalismus“ und der „Planung antisowjetischer | |
| Terrorakte“ beschuldigt und in ein Gulag im Nordosten der UdSSR deportiert. | |
| Wiederum drei Jahre später ist es erneut Romm, der dafür sorgt, dass Kalik | |
| weiter studieren darf. 1958 folgen zwei Filme, beide in gemeinsamer Regie | |
| von Michail Kalik und seinem Studienkollegen Boris Ryzarew. Der erste, | |
| „Ataman Kodr“, entstanden im Filmstudio der Moldawischen SSR, erzählt in | |
| bunten Bildern von der Auflehnung eines Knechts gegen seinen Herren in den | |
| 1940er Jahren; der zweite, „Junost naschich otzow“ („Die Jugend unserer | |
| Väter“) blendet noch weiter zurück in die Zeit des Bürgerkriegs von 1919 | |
| und erzählt eine Partisanengeschichte. | |
| ## Vergangenheit und Gegenwart | |
| Beide sind deutlich konventioneller als Kaliks spätere Filme, vor allem | |
| „Die Jugend unserer Väter“ markiert jedoch eine Zäsur: Kaliks Diplomfilm | |
| ist zugleich die Abschlussarbeit des Komponisten Mikael Tariwerdijew am | |
| Gnessin-Institut. Tariwerdijew steuerte die Filmmusik zu Kaliks | |
| sowjetischen Filmen bei und prägte so die Filme in erheblichem Maße mit. | |
| Parallel zum politischen Tauwetter zieht mit „Kolybelnaja“ („Wiegenlied�… | |
| von 1960, Kaliks erster eigenständiger Regiearbeit, ein neuer Ton in Kaliks | |
| Filme ein: „Kolybelnaja“ lebt von der Durchdringung von Vergangenheit und | |
| Gegenwart, die einige Filme Kaliks durchzieht. In lyrisch-leichten, | |
| aufgeräumten Schwarzweißbildern mit einer deutlich vom Korsett befreiten | |
| Filmmusik erzählt Kalik die Geschichte eines Piloten, der viele Jahre | |
| später erfährt, dass seine Tochter das deutsche Bombardement seiner | |
| Heimatstadt wider Erwarten überlebt hat. Er begibt sich auf die Suche. | |
| Kaliks berühmtester Film, „Tschelowjek idet sa solntsem“ („Der Sonne nac… | |
| greift dieses Motiv der Suche auf: Ein kleiner Junge zieht los, nachdem er | |
| gehört hat, dass man die Welt einmal umrunden kann, indem man immer der | |
| Sonne folgt. | |
| Er findet ein Panorama der sowjetischen Gegenwart: einen Losverkäufer, | |
| freundliche Wissenschaftler mit Parabolspiegel, freundliche | |
| Krankenschwestern in der Geburtenabteilung eines Krankenhauses, einen | |
| Jungen vom Land auf einem Wagen voller Wassermelonen. Einen Moment lang | |
| beäugen sich die beiden Jungen misstrauisch, dann sitzen sie einträchtig | |
| nebeneinander auf den Melonen, schauen sich ein Motorradschaurennen an. | |
| „Der Sonne nach“ ist von einer umwerfenden Lebendigkeit und Neugier auf die | |
| Welt. | |
| Kaliks schönster Film „Do swidanja, maltschiki“ („Auf Wiedersehen, Jungs… | |
| wechselt zurück in das Register von „Kolybelnaja“: drei Jungs, drei | |
| Mädchen, ein Sommer am Schwarzen Meer. Spielerisch umtänzeln sich die Paare | |
| in jugendlicher Liebe. Dabei beginnt Kalik seinen Film beinahe ohne | |
| Dialoge, Zwischentitel machen deutlich, dass es sich um Jugenderinnerungen | |
| eines der drei Jungs handelt: „Vor mir lag, dachte ich, nichts als Freude.“ | |
| Am Ende des Films neigt sich der unbeschwerte Sommer – die drei Jungs | |
| fahren, noch ohne es zu wissen, in den Krieg. | |
| ## Emigration nach Israel | |
| 1971 geht Kalik nach Israel, wo er schnell Filmangebote bekommt, dem | |
| israelischen Kino scheint der berühmte Regisseur aus der Sowjetunion eine | |
| Verheißung. 1974 dreht er schließlich „Shlosha v’achat“ („Drei und ei… | |
| eine Gorki-Adaption im Schatten des aufziehenden Jom-Kippur-Krieges. | |
| Avshaloms Vater, ein ehemaliger Kämpfer der paramilitärischen Palmach, hat | |
| vor langer Zeit die Familie verlassen und lebt jetzt mit seiner jungen | |
| Geliebten Marwa am Strand des Roten Meeres bei Eilat. Als Avshalom zu den | |
| beiden stößt und beginnt, Marwa zu umwerben, werden die Dinge allerdings | |
| kompliziert. | |
| Kalik inszeniert in „Shlosha v’achat“ mit einem Gespür für den | |
| Generationenkonflikt, der die israelische Gesellschaft seit den späten | |
| 1960er Jahren ebenso prägte wie das israelische Kino der Zeit. Der Vater, | |
| Veteran des Unabhängigkeitskriegs, und die kiffenden Hippies am Strand, die | |
| bald in den Jom-Kippur-Krieg ziehen sollten, könnten unterschiedlicher | |
| nicht sein. „Shlosha v’achat“ fügt sich im Rückblick durchaus treffend … | |
| das israelische Kino der Zeit ein. | |
| Die Leichtigkeit der sowjetischen Filme geht Kaliks filmischem Versuch, in | |
| Israel Fuß zu fassen jedoch vollkommen ab, in den Hippieszenen und einem | |
| Gespräch zwischen Avshaloms Vater und US-Touristen wirkt der Film gar | |
| gekünstelt. „Shlosha v’achat“ floppte und blieb Kaliks letzter Film in | |
| Israel. Erst mit den Besuchen im postsowjetischen Russland begann Kalik | |
| wieder als Filmemacher zu arbeiten. | |
| Dieser Text erscheint im taz Plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
| immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
| 18 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
| ## TAGS | |
| Michail Kalik | |
| Sowjetisches Tauwetterkino | |
| Arsenal Kino | |
| Bonner Republik | |
| Politikerporträt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Dokumentarfilm über Leo Wagner: Schatten und dröhnende Bigotterie | |
| Der Dokumentarfilm „Die Geheimnisse des schönen Leo“ porträtiert einen | |
| verwegenen CSU-Politiker. Und zeichnet eine Skizze der Bonner Republik. | |
| Spielfilmporträt von US-Politiker: Sex? Ist ja wohl privat! | |
| Der Anti-Trump: Jason Reitman porträtiert im Spielfilm „Der | |
| Spitzenkandidat“ den gescheiterten demokratischen | |
| Präsidentschaftskandidaten Gary Hart. |