# taz.de -- Edgar Hilsenrath ist verstorben: Sprache als Heimat | |
> Am Sonntag ist Autor Hilsenrath gestorben. Sein Werk, welches in den USA | |
> als brillante Satire begriffen wurde, las man in Deutschland als Angriff. | |
Bild: Edgar Hilsenrath, 2005 | |
Edgar Hilsenrath war ein Mensch, der viele Länder gesehen hatte – geboren | |
wurde er 1926 in Leipzig, er wuchs in Halle auf, 1938 emigrierte seine | |
Mutter mit Edgar und seinem Bruder nach Siret, Rumänien, zu den Großeltern. | |
1941 wird die Familie in das Ghetto Mohyliw-Podilskyj deportiert. Sie wird | |
1944 von der Roten Armee befreit, Edgar Hilsenrath geht zu Fuß zurück nach | |
Siret und findet den Ort restlos zerstört vor. „Kurz darauf reiste ich mit | |
einem gefälschten Pass nach Palästina, auf dem Landweg über Bulgarien, | |
Türkei, Syrien und Libanon. Für mich war der Krieg zu Ende.“ In Palästina | |
erfuhr er, dass seine Mutter und sein Bruder den Vater in Frankreich | |
gefunden hatten, auch er reiste nach Frankreich, ging von dort aus in die | |
USA, die Eltern folgten. 1975 dann zog Hilsenrath nach Berlin. | |
Da hatte er bereits zwei Bücher in den USA veröffentlicht, „Nacht“ (1966, | |
auf Deutsch bereits 1964 erschienen) und „Der Nazi & der Friseur“ (1971), | |
das erste Buch fand einige Beachtung, das letztere wurde ein großer Erfolg. | |
In Deutschland hingegen wurde „Nacht“ verrissen, Fritz J. Raddatz | |
[1][erzürnte sich in der] Zeit folgendermaßen: „Statt der Posaunen des | |
Jüngsten Gerichts nur Wortgeklingel, statt der Stummheit gegenüber dem | |
Unsagbaren unsägliche Beredtheit: ein Nelly Sachs für kleine Leute.“ Der | |
zweite Roman, „Der Nazi & der Friseur“, wurde, als er 1977 auf Deutsch | |
erschien, ebenfalls von der Kritik attackiert – es ging in dem Buch um | |
einen begeisterten Nazi, der sich nach dem Krieg als jüdischer Friseur | |
ausgab und sogar nach Israel auswanderte, Hilsenrath hatte von einem | |
ähnlichen Fall in der Zeitung gelesen. | |
Was in den USA als brillante Satire begriffen wurde, las man hier als | |
Angriff auf alle Deutschen – und zugleich erkannte man dem Überlebenden | |
nicht zu, nüchtern realistisch oder satirisch über den Holocaust schreiben | |
zu dürfen. Selbst das Leiden der Juden war noch deutsche Chefsache. | |
Warum kehrte Hilsenrath in dieses Land zurück? In seinem letzten Roman, | |
„Berlin … Endstation“ von 2006, ließ er es sein Alter Ego Lesche erklär… | |
„'Was willst du in Deutschland, Lesche?’ 'Ich will zu meiner Geliebten.’ | |
'Lesche, sei kein Narr, du bist ein alter Mann, eine Geliebte, die ist was | |
für einen jungen.’ 'Ich bin 58’, sagte Lesche, 'das ist nicht alt.’ | |
'Lesche, willst du dich zum Gespött der Leute machen? Sicher ist sie jung | |
und schön, hat Ansprüche, und du willst als Lustgreis hinter ihr | |
hertappern.’ 'Lustgreis? Du spinnst wohl?’ 'Spaß beiseite’, sagte Betti. | |
'Wer ist diese Geliebte?’ 'Du hast recht. Sie ist schön, aber nicht jung. | |
Ich habe mich in sie verliebt, als ich neun war, damals in Polen. Ich wurde | |
von ihr getrennt, aber ich bin ihr treu geblieben, ein Leben lang.’ | |
'Lesche, bist du sicher, dass sie noch lebt?’ 'Ja, ich bin sicher.’ 'Wer | |
ist diese Geliebte?’ 'Ich bin verliebt in die deutsche Sprache.’“ | |
Der trockene Ton seiner Texte und der Witz seiner Dialoge verdankte sich | |
den Werken von Erich Maria Remarque und Ernest Hemingway und galt im | |
deutschen Sprachraum viele Jahre als „unliterarisch“. Daher gelangte | |
Hilsenrath spät zu Ruhm, obschon seine gleichfalls großartigen Romane „Das | |
Märchen vom letzten Gedanken“ (1989), über den Völkermord an den Armeniern, | |
und „Jossel Wassermanns Heimkehr“ (1993) durchaus Aufmerksamkeit fanden. | |
Gewürdigt als ein Klassiker der deutschen Literatur wurde er jedoch erst, | |
als er als Literat verstummte. Hilsenrath ließ seine Schreibmaschine ruhen | |
und die Werkausgabe wirken, die mit dem Erscheinen seines letzten Romans | |
abgeschlossen wurde. | |
Auch war Berlin nicht die Endstation, er zog vor einigen Jahren mit seiner | |
zweiten Frau Marlene und seinem „Generalbevollmächtigten“ Ken Kubota in die | |
Vulkaneifel. Zuvor überwarf er sich öffentlich mit seinem Verlag, woraufhin | |
Kubota zu seinem Verleger wurde. In den letzten Jahren war es stiller um | |
Hilsenrath geworden, in den USA und in Frankreich allerdings wurde der | |
Autor wiederentdeckt, und erst im November 2018 fuhr Hilsenrath nach Paris, | |
um sich feiern zu lassen. Er konnte also noch seinen Weltruhm genießen. Am | |
Sonntag erlag er den Folgen einer Lungenentzündung. | |
31 Dec 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/1978/40/breitwandbuch/seite-2 | |
## AUTOREN | |
Jörg Sundermeier | |
## TAGS | |
Edgar Hilsenrath | |
Holocaust | |
Lesestück Interview | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regisseurin über Serie „Holocaust“: „Es hat Verkrustungen aufgesprengt“ | |
Vor 40 Jahren löste die Serie „Holocaust“ eine große Debatte aus. In ihrer | |
neuen Doku zeichnet Alice Agneskirchner die Entstehung und die Reaktionen | |
nach. |