# taz.de -- Michael Kleebergs neuer Roman: Die Sünde der Anverwandlung | |
> Gegen Identität, für Utopie: „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ ist das | |
> Hohelied jener, die sich weltlichen Hierarchien entziehen. | |
Bild: Sehnsuchtsort der Deutschen? Straßenszene im vom Krieg zerstörten Beiru… | |
„Der Orient ist längst hier bei uns.“ So spricht der Erzähler, der zu | |
Beginn von Michael Kleebergs Roman „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ aus der | |
utopischen Küche Bernhards und Ullas im kleinen Ort Mühlheim bei Frankfurt | |
berichtet. Dort sitzen Einheimische und Zugewanderte aus der Pfalz, die | |
Hääschdener Dialekt sprechen, mit Menschen aus Polen, aus dem Libanon und | |
dem Iran und erzählen sich ihre Lebensgeschichten. Hier wird die | |
Freundschaft gefeiert und den Künsten gehuldigt. | |
Der Orient, sinniert der Erzähler weiter, „fliegt mit MEA und mit Lufthansa | |
und Turkish, er studiert Hegel in Heidelberg, Strömungsmechanik an der TU | |
und Heidegger in Paris, und die Gäste, die hier sitzen und dem Madschnun | |
lauschen, wie er voll inniger Trauer und Glück von Claptons Layla singt, | |
sie kommen aus den salzigen und sandigen, winddurchfegten Gassen von Tyrus | |
und dem kalten Zimmer mit dem Kohleofen im sechsten Stock einer | |
Mietskaserne von Offenbach.“ | |
Der Orient, er war schon vor dem Sommer 2015 da, will uns der Erzähler | |
sagen. Er ist Teil unseres Lebens, Teil unserer Gesellschaft. Er tritt uns | |
täglich in Gestalt von Kolleginnen und Freunden, Ärztinnen und | |
Gemüsehändlern, Klimaexperten und Sängerinnen gegenüber. Wir wissen das ja | |
alle selbst. Aber wenn wir über den Orient, über das ganz Andere, Fremde | |
sprechen, vergessen wir oft, was wir täglich erleben. Der Orient ist uns | |
heute so nah, dass er kein Orient mehr ist. | |
Für Goethe war der Orient weit weg. Ein Ort, von dem „so manches Große, | |
Schöne und Gute seit Jahrtausenden zu uns gelangte, woher täglich mehr zu | |
hoffen ist“. Goethe liebte die großen Dichter aus Persien, besonders Hafis. | |
Ein ganzer Band der Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe seiner gesammelten | |
Werke ist den Übersetzungen und Bearbeitungen fremder Dichtungen gewidmet. | |
Darin findet sich auch der „West-östliche Divan“, dessen Bücher mit | |
persischen Überschriften versehen sind. | |
## „Ei! Wach uff und guck! Die Welt ist aus den Fugen!“ | |
Die ersten zwei Zeilen in Goethes Divan lauten: „Nord und West und Süd | |
zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern.“ Könnte auch heute | |
geschrieben worden sein. Am Anfang von Kleebergs Roman, der laut Untertitel | |
auch „ein Divan“ ist, heißt es: „Ei! Wach uff und guck! Die Welt ist aus | |
den Fugen! Blutrot geht die Sonne im Abend auf. Der Orient zersplittert.“ | |
So ist der Rahmen gesetzt für einen großen Wurf. Michael Kleebergs Roman, | |
bei Galiani erschienen (464 Seiten, 24 Euro), erzählt uns von der Liebe | |
zwischen Ost und West in all ihren Formen, von geteilten kulturellen | |
Quellen und ähnlichen Erfahrungen. | |
Da wird vom Elend deutscher Auswanderer nach Amerika berichtet und parallel | |
von der Flucht einer syrischen Familie vor den Fassbomben Assads erzählt. | |
Da kommen die jungen Dschihadistinnen zu Wort, die ihren Schwestern davon | |
berichten, wie groß und hingebungsvoll ihr Leben an der Seite der Heiligen | |
Krieger des Islamischen Staats ist, denen sie mit Freude dienen. | |
Das erste Buch des Goethe’schen Divans heißt „Moganni Nameh“, das ist das | |
Buch des Sängers. Auch das erste von zwölf Büchern in Kleebergs Roman, der | |
sich die Struktur des Goethe-Divans zu eigen macht, heißt so. Das „Buch des | |
Sängers“ ist das Buch des Autors Kleeberg, der sich rigoros gegen das | |
Phantasma der Identität richtet. Sie ist es ja, auf die sich nicht nur der | |
aggressive, schlecht gelaunte, am Abendland in Wirklichkeit ganz | |
uninteressierte Chor der Verächter unserer widersprüchlichen Gegenwart | |
ständig mit Tremolo in der Stimme beruft. | |
## Ein spezifisch deutsches Faible für den Orient | |
„Aus irgendeiner Heimat sind wir alle hierhergekommen“, antwortet diesem | |
Chor mit Blick auf die Exilanten in der Mühlheimer Küche der Sänger, „und | |
Heimat ist’s immer, was wir suchen. Und was nehmen wir mit? Unsere | |
Identität? Ich weiß nicht, denn mit ihr reisen immer auch Mord, Tod und | |
Elend, mehr oder weniger subtil, mehr oder weniger gedanklich verbrämt, | |
aber immer gerechtfertigt durch sie, durch Identität.“ | |
Diese radikale antiidenttitäre Haltung Kleebergs prägt die Perspektive | |
seines Romans. Sie macht ihn trotz romantisierender Schwächen zu einem | |
wichtigen, großen Roman. Kleebergs Buch spiegelt an manchen Stellen das | |
spezifisch deutsche Faible für den Orient, das sich mit den Goethes und | |
Humboldts schmückt, aber gar nicht merkt, wie sehr auch das | |
imperialistische Orientbild des zweiten und das antiimperialistische | |
Orientbild des dritten deutschen Reichs noch heute den Blick der Experten | |
trübt. | |
Als Michael Kleeberg sein Buch der Presse vorstellte, erzählte er, wie eine | |
USA-kritische Passage, die er in Teheran vorlas, dort nicht gut ankam. Zu | |
sehr erinnerte das die Zuhörer vielleicht an die Klischees vom kleinen und | |
vom großen Satan. | |
## In der Utopieküche | |
„Ja, lasst uns Identitäten zertrümmern“, finden auch die empfindsamen und | |
klugen Leute in Bernhards Küche, die wohl Kleebergs Idealküche ist. Sie | |
heißen Zygmunt, Bernhard, Maryam, Ulla, Bernhard, Younes, Kadmos. Auch sie | |
glauben, dass Identität die Feindin der Erfahrung, der Begegnung und des | |
Austauschs ist. „Wir wollen, solange wir hier zusammen sind, die Sünde der | |
Liebe begehen, der Anverwandlung, auch wenn wir so nicht zu irgendwelchen | |
Schlüssen gelangen werden. Dieser Preis ist zu entrichten, diese Schuld zu | |
begleichen, der Lohn ist das Geheimnis.“ | |
Goethe schreibt in seinem Divan: „Wo kluge Leute zusammenkommen, da wird | |
erst Weisheit wahrgenommen.“ In der Utopieküche sind sie nicht in erster | |
Linie auf Weisheit aus. Das ist einerseits ihr Problem, das macht die Leute | |
andererseits auch so sympathisch. Dass Schlüsse ausdrücklich nicht gezogen | |
werden sollen, ist allerdings ein Trick des Autors, dessen Haltungen zur | |
Welt hin und wieder doch recht deutlich in den Erzählungen seiner Helden | |
aufscheinen. | |
Für Kleeberg ist dieser Roman die Summe einer fünfzehn Jahre dauernden | |
Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Vielstimmigkeit seiner Erzählung | |
ermöglicht es ihm, sich der Komplexität der Welt und unserer Gegenwart | |
anzunähern. | |
Kleeberg ist ein hochintelligenter Erzähler, der virtuos mit dem Umstand | |
spielt, dass die Literatur nicht anders kann, als sich Texte und | |
Sprechweisen einzuverleiben. Er tut das mit offensichtlichem Vergnügen, mit | |
Ernst und Ironie und großer Kunstfertigkeit. Auch damit macht er deutlich, | |
dass es Kultur ohne Aneignung nicht geben kann. | |
## Ein orientalisches Lied, das wie ein Walzer klingt | |
Am schönsten illustriert das im Roman die Geschichte eines beliebten | |
persischen Lieds. „Djomebasar“, der Freitagsmarkt, heißt es und erzählt v… | |
einem Mädchen und einem Jungen, „die dort jeden Freitag hingehen in der | |
Hoffnung, sich zu begegnen. Aber wenn sie einander dann sehen, sind sie zu | |
schüchtern, miteinander zu reden.“ Das Lied klingt wie ein Walzer ,“oder | |
eher noch wie ein Ländler“ und es „hört sich überhaupt nicht orientalisch | |
an“. Das hat seinen Grund. | |
Der iranische Komponist des Lieds, Tiroli Jan, hat es wohl in dem deutschen | |
Heimatfilm „Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt“ entdeckt, „wo die | |
jungen Männer und Frauen alle so schick amerikanisch aussehen, dass du dir | |
beim besten Willen nicht vorstellen kannst, was für Uniformen sie keine | |
zehn Jahre vorher getragen haben“. Das Stück ist allerdings viel älter, | |
lernen wir, man kann es auf einer Aufnahme des Paul-Godwin-Tanzorchesters | |
aus Berlin von 1932/33 hören. | |
Paul Godwin hieß in Wirklichkeit Pinchas Goldfein, und auch der Name des | |
Komponisten, Mart Fryberg, war ein Pseudonym, das sich Martin Friedeberg | |
gegeben hatte. „Das heißt, unser Tiroli Jan hat nicht deutsche | |
Heimatfilmmusik arrangiert, sondern den verswingten Walzer eines jüdischen | |
Komponisten und eines jüdischen Bandleaders.“ | |
Eine andere Geschichte aus der Mühlheimer Küche handelt von der Liebe | |
dreier deutscher Frauen, die mit ihren arabischen Männern im Libanon leben | |
und mit fremden Sitten und dem Bürgerkrieg klarkommen müssen: Im „Buch der | |
drei Lieben“ wird, mit Blick auf die alten Mythen der Region, die auch die | |
unseren sind (etwa die von El, dem starken Stier, der die Erde schuf), | |
gefragt: „Warum beginnt alles, alle Ordnung, mit einem Mord?“ | |
## Hermanns Stimme ist am wichtigsten | |
Im „Buch des Idioten“ wird konsequenterweise das Hohelied jener gesungen, | |
die sich den weltlichen Hierarchien und der Herrschaft der Orthodoxie | |
gleichermaßen entziehen. Das Buch des Idioten erzählt die Geschichte | |
Hermanns, und wenn wir auf den Titel von Kleebergs Roman schauen, der auf | |
Dostojewskis Figur des Idioten, des heiligen Narren, anspielt, ist Hermanns | |
Stimme wohl diejenige, die Kleeberg im Gespräch der antiautoritären Freunde | |
in der utopischen Küche am wichtigsten ist. | |
Hermann erscheint, wie oben bereits angedeutet, zugleich als Wiedergänger | |
des Madschnun, der in der altpersischen Dichtung Nezamis über die | |
unglückliche Liebe von „Leila und Madschnun“ seinen ersten Auftritt hatte. | |
Der ehemalige Doktorand und lange verschollene Aussteiger Hermann hat seine | |
Jugendliebe, die iranische Sängerin Maryam, vor Jahrzehnten verloren und | |
dann gegen jede Wahrscheinlichkeit wiedergefunden. | |
Durch Maryam entdeckte Hermann die Gedichte von Hafis und damit die Ideen | |
der Sufis. An Hafis fasziniert Hermann, dass der Dichter „willentlich | |
Verhaltensweisen an den Tag legte, die öffentliche Missbilligung nach sich | |
zogen, nur um die Reinheit des inneren Antlitzes zu verbergen“. Hermann | |
folgt hier Goethe, der reimte: „Hafis’ Dichterzüge, sie bezeichnen / | |
Ausgemachte Wahrheit unauslöschlich; / Aber hie und da auch Kleinigkeiten / | |
Außerhalb der Grenze des Gesetzes.“ | |
## Eine Feier der Freundschaft, der Liebe und der Utopie | |
Dabei geht Hermann in deutscher Tradition dem alten Missverständnis auf den | |
Leim, bei den Mystikern in Ost und West, Letztere repräsentiert unter | |
anderem von Meister Eckhart, handele es sich um entrückte Gottesschauer, um | |
Individualanarchisten. In Wahrheit waren sie Philosophen, Eckhart war | |
Aristoteliker, die Vernunft und Dogma in Einklang zu bringen versuchten. | |
Überall, in Ost und West, waren sie stets den Technokraten der Macht | |
unterlegen. | |
Aber vielleicht gerade deshalb ist der versponnene deutsche Hippie Hermann | |
eine überaus realistische Figur, wie er da mit Maryam in der Küche von | |
Bernhard sitzt, dem Frankfurter Sponti, der auf seine alten Tage aufs Land | |
gezogen ist. Zusammen singen sie Eric Claptons „Layla“, das seinerseits von | |
„Leila und Madschnun“ inspiriert ist. Und in diesem Sinn feiert auch „Der | |
Idiot des 21. Jahrhunderts“ die Freundschaft, die Liebe und die Utopie. | |
Davon kann es nie genug geben. | |
23 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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