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# taz.de -- Dem Altruismus auf der Spur: Zu deinem Wohle
> Warum riskieren manche Menschen ihr Leben für andere? Die Wissenschaft
> gibt Einblicke in außergewöhnliche Gehirne.
Bild: Nachts auf einer einsamen Straße aussteigen, um jemandem zu helfen? Nich…
Als es passiert, ist es dunkel. Eine junge Frau versucht, mit ihrem Auto
einem Hund auszuweichen – sie trifft ihn trotzdem. Das Auto schlingert,
beginnt sich zu drehen, kommt falsch herum auf der linken Spur der Autobahn
zum Stehen. Dann geht der Motor aus. Die junge Frau ist sich sicher, dass
sie sterben wird. Doch da kommt die Rettung. Ein Mann hält
geistesgegenwärtig an, rennt über die vier Spuren der Autobahn und hilft
ihr, das Auto wieder in Gang zu bringen. Kaum ist die Frau in Sicherheit,
verschwindet ihr Retter, bevor sie überhaupt nach seinem Namen fragen oder
sich bedanken kann.
Was hat den Mann bewogen, sein eigenes Leben zu riskieren, um einer Fremden
zu helfen? Diese Frage beschäftigt die [1][Sozialpsychologin Abigail Marsh]
seit ihrem 19. Lebensjahr – sie war die Frau im Auto. Mittlerweile ist sie
Privatdozentin und Wissenschaftlerin an der Georgetown University in
Washington, D.C., wo sie nach dem Ursprung des Altruismus sucht.
Was genau das eigentlich ist, diskutieren noch immer Philosophen und
Naturwissenschaftler. Abigail Marsh beschreibt es als freiwillige,
kostspielige Handlung, die einem anderen Individuum helfen soll. Anders
gesagt: Man möchte jemandem helfen, obwohl das für einen selbst Nachteile
haben kann. Das kann Lebensgefahr sein, aber auch Geldverlust im Falle von
Spenden, oder man kommt zu spät zur Arbeit, weil man einem gestrandeten
Fahrradfahrer hilft, seinen platten Reifen zu flicken.
Man kann noch weiter gehen und verschiedene [2][Formen des Altruismus]
definieren: Zum Beispiel ist es nicht unbedingt dasselbe, ob man etwas
spendet oder ob man sich öffentlich gegen Diskriminierung ausspricht. Auch
altruistische Bestrafung gehört dazu, wenn sich jemand entgegen der
sozialen Norm verhält.
Bei der Frage, was altruistische Menschen von anderen unterscheidet, wollen
wir uns jedoch auf die allgemeine Definition von Abigail Marsh beschränken.
Sie wollte herausfinden, ob die Gehirne von besonderen Altruisten sich von
anderen unterscheiden. Dazu untersuchte sie Menschen, die eine ihrer Nieren
gespendet hatten, um einem Fremden zu helfen – zweifellos eine
außerordentlich altruistische Tat. Und tatsächlich fanden Marsh und ihre
Kollegen heraus, dass die Amygdala (der Mandelkern) der Altruisten größer
war als bei den Kontrollpersonen.
## Angst und Stress
Diese Gehirnregion ist vor allem dafür bekannt, dass sie Gefühle vermittelt
und reguliert, insbesondere negative wie Angst und Stress. Dazu gehört,
Angst im Gesicht eines anderen Menschen zu erkennen. Genau das konnten die
Altruisten besonders gut, im Gegensatz zu Psychopathen – die zudem eine
verkleinerte Amygdala vorweisen.
Wie untersucht man Altruismus, wenn man gerade keine Nierenspender zur
Verfügung hat? Ein internationales Team um Indrajeet Patil von der Harvard
University in Massachusetts kreierte dafür eigens eine detaillierte
virtuelle Umgebung. So konnten die Wissenschaftler in die Gehirne von
Menschen sehen, die ihr Leben für andere riskieren. Auch sie fanden
Veränderungen in der Struktur, allerdings in einem anderen Bereich, der
vorderen Inselrinde. Den großen Nachteil der Studie erwähnen die Autoren
selbst: Es ist alles nur ein gespieltes Szenario. Egal, wie realitätsnah
die Grafik gestaltet ist, die Probanden wissen genau, dass es nicht die
Wirklichkeit ist. Für zukünftige Studien schlagen sie daher vor,
tatsächliche Helden zu untersuchen, die ihr Leben für jemanden riskiert
haben.
Es gibt jedoch noch andere Möglichkeiten, Altruismus zu ergründen.
Beispielsweise mit Tests, in denen die Probanden Geld verwalten müssen und
dabei auch spenden dürfen. Kanadische Wissenschaftler zeigten so, dass
ältere Menschen insgesamt altruistischer handeln als junge. Das war keine
Neuigkeit, frühere Studien hatten es bereits herausgefunden. Doch die
Kanadier waren vor allem daran interessiert, inwiefern Stress die
Selbstlosigkeit beeinflusst.
In der Realität ist Altruismus oft mit schnellen Entscheidungen verbunden –
würde das die Reaktionen verändern? Teilweise, zeigt die Studie. Ältere
Menschen mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren zeigten genauso viel
altruistisches Verhalten unter Stress wie ohne. Bei jüngeren Menschen von
etwa 20 Jahren hingegen spielte es eine Rolle. Sie handelten deutlich
großzügiger, wenn sie gestresst waren. Anscheinend eine Art, die negativen
Konsequenzen einer stressigen Situation auszugleichen, vermuten die
Autoren.
Auch ohne Stress gibt es äußere Faktoren, die uns dazu bringen, sozialer zu
handeln. Der „Watching Eye Effect“ besagt, dass man altruistischer agiert,
wenn man sich beobachtet fühlt. Dabei muss nicht einmal ein Mensch zugegen
sein. Selbst aufgemalte Augen können dazu führen, dass mehr Geld in einer
Spendendose landet, wie eine Studie an der University of Virgina zeigt.
Andere Gesichtsausschnitte wie Nase oder Mund konnten keinen solchen Effekt
erzielen.
## Am Fuße des Berges
Und wem helfen wir am liebsten? Das kann man sich leicht vorstellen: Die
Menschen können sich [3][am ehesten in diejenigen einfühlen], die ihnen
nahestehen. Familie, Freunde, Bekannte, je weiter sich die Menschen vom
eigenen Zentrum entfernen, desto schwieriger wird es. Abigail Marsh
beschreibt es als einen Berg. Man selbst an der Spitze ist sich am
wichtigsten, und am Fuß des Berges sind diejenigen, die man weder kennt,
noch wirklich wahrnimmt. „Bei besonders altruistische Menschen scheint der
Berg nicht so steil zu sein. Ihnen ist ihr innerer Kreis zwar wichtiger,
aber auch mit allen anderen Menschen fühlen sie stärker“, erklärt Marsh.
Das Mitfühlen mit dem Gegenüber ist also ein tragender Punkt in der Frage,
ob wir helfen. Damit geht einher, dass man großzügiger ist, wenn man eine
Person identifizieren kann. Hat man beispielsweise das Bild eines kranken
Kindes vor Augen, ist man eher bereit zu spenden, als wenn man gesagt
bekommt, dass Tausende Kinder an der Krankheit leiden.
Die meisten wissen nicht, ob sie Altruisten sind. Ja, gerade um Weihnachten
und Neujahr herum spendet man mal etwas an eine gemeinnützige Organisation.
Aber wie weit würde man gehen, um einem anderen Menschen zu helfen? Das
kann man erst wissen, wenn man in eine solche Situation kommt. Wer sich
jetzt jedoch zurück lehnt und denkt, „Ist doch sowieso in meinem Gehirn
festgelegt“, der täuscht sich. „Das Gehirn verändert sich jedes Mal, wenn
wir etwas lernen“, sagt Abigail Marsh. „Und Mitgefühl kann man lernen.
Würde jeder das wollen? Vielleicht nicht. Aber ich tröste mich mit dem
Gedanken, dass die Menschen auf der ganzen Welt altruistischer werden.“
28 Dec 2018
## LINKS
[1] https://aamarsh.wordpress.com/me/
[2] /!162324/
[3] /Emotionen-und-Gefuehle-erkennen/!5556144
## AUTOREN
Stefanie Uhrig
## TAGS
Hirnforschung
Abigail Marsh
Spenden
Psychologie
Empathie
Amokläufer
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