# taz.de -- Sängerin Netta über Empowerment: „Ich sollte die Heldin so viel… | |
> Sängerin Netta hat im Mai den Eurovision Song Contest gewonnen. Sie | |
> versteht sich nicht als politischer Mensch – eine Botschaft hat sie | |
> dennoch. | |
Bild: Manche Menschen wollen sie in ihre Normen pressen: die israelische Sänge… | |
taz: Guten Morgen, Netta. | |
Netta Barzilai: Guten Morgen nach Deutschland. Entschuldigung, ich bin | |
gerade am Frühstücken. | |
Was gibt’s? | |
Omelette, ein bisschen Gemüse, Obst. Es ist typisch israelisch: Alles ist | |
sehr frisch. | |
Können Sie sich noch an das Frühstück in Lissabon erinnern, [1][als Sie | |
dort für den Eurovision Song Contest zu Gast waren]? | |
Gut, dass Sie auf Lissabon zu sprechen kommen. Ich erinnere so gut wie | |
nichts mehr von der Stadt. Das Frühstück? Keine Ahnung. | |
Gehungert haben Sie aber nicht? | |
Natürlich nicht. Ich musste ja fit bleiben – vermutlich habe ich viele | |
Gurken zu mir genommen. Gurken haben keine Säure und sind somit | |
magenfreundlich. | |
Und die Stadt selbst? | |
Uff. Es ist nicht mal ein halbes Jahr her, aber mir fehlen die Bilder von | |
Lissabon. Man hat mir gesagt, dass es schön und lebendig ist. | |
Welche Bilder sind in Ihnen aus dieser Zeit geblieben? | |
Kaum welche. Das wundert mich nicht. Wenn man zu einem Eurovision Song | |
Contest fährt, ist das für einen sehr stressig. So sagte man mir vorher. | |
Das konnte ich kaum glauben, aber, okay, die Zeit in Israel vor dem ESC war | |
ja auch nicht gerade ruhig – all die Vorbereitungen und so. Aber in | |
Lissabon war alles noch eine Nummer schärfer. | |
Inwiefern? | |
Wer zum ESC fährt, wird kämpfen wollen, konkurrieren mit anderen, so ist | |
das. Alles ist der Frage untergeordnet: Wie schaffe ich es, so gut wie | |
möglich auf der Bühne zu sein? Alle Augen sind auf einen gerichtet, man ist | |
fast nie allein – alle beobachten einen: In welcher Form ist sie? Was wird | |
sie sagen? Wie singt sie? | |
Keine Zeit, mal sich zu entspannen? | |
(Lacht wieder herzhaft) It’s Eurovision – was denken Sie denn? Das ist | |
keine Erholungsoase, das ist eine Zeit der Entscheidung – und auf die ist | |
alles, buchstäblich alles ausgerichtet. Klingt das nach Entspannung? Eben! | |
Aber es war trotzdem eine gute Zeit? | |
Es war eine der magischsten Zeiten meines Lebens. So unerwartet für mich, | |
so unabsehbar, so grandios. | |
Wissen Sie noch, wie es Ihnen vor einem Jahr ging, ehe der Trubel los ging? | |
Eher vage. Nur, dass ich sehr schnell merkte, dass ich als Person meine | |
inneren Barrieren überwinden muss, dass ich an mich glauben kann. Jeden | |
Morgen in Lissabon sagte ich mir: Ich werde gewinnen. Ich werde mein Bestes | |
geben, nichts wird mich fürchten lassen – jede Angst würde nur eine Lüge | |
sein. So habe ich es mir jeden Morgen gesagt. Ich sagte mir: Das ist deine | |
Zeit, ich bin hier, um mit Leuten Spaß zu haben – und Menschen glücklich zu | |
machen. Die Tage von Lissabon waren für mich eine Entdeckungsfahrt – und | |
ich habe etwas entdeckt: Wieviel Kraft in mir ist – und dass ich sie habe | |
und nutzen kann. Und wie glücklich ich sein kann, wenn ich hart arbeite. | |
Und Lissabon … | |
… war kein Fun als Lissabon, sondern Fun für mich. Als Entdeckung meiner | |
selbst als menschliches Wesen, das Kraft hat und die Ziele erreichen kann, | |
die ich mir stecke. Als Frau, als Anführerin, als Musikerin, als | |
Performerin. | |
Sie waren in Israel eine nicht bekannte Musikerin, ehe es mit der | |
ESC-Auswahlshow losging. | |
Man kommt als anonyme Kandidatin und hofft, nicht gleich rauszufliegen. Ich | |
hatte kein Geld und nichts zu verlieren. Und ich hatte meine Stimme und | |
meinen Looper, ein mobiles Vokalschleifengerät mit Tönen meiner Stimme, | |
nicht mehr. Alles, was auf der Bühne sein würde, wusste ich, käme von mir. | |
Und ich wusste, dass das niemand sonst macht – es war einfach Avantgarde, | |
eine Kunst in der Nische. Niemand kannte diese Art von Musik wirklich. Aber | |
ich ahnte, dass das Publikum, das über die Kandidaten abstimmen würde, auf | |
meiner Seite sein könnte. Bullshit bemerkt das Publikum schnell. Acts, bei | |
denen die Kandidaten echt tun, aber nicht echt sind. So kam ich Runde für | |
Runde weiter. Okay, ich bekam Liebesbriefe, aber auch viel Hass – aber das | |
israelische Publikum spürte offenbar, dass Hass keine Chance gegen mich | |
haben soll. | |
Und als klar war, dass Sie in die Fußstapfen einer Dana International | |
treten könnten? | |
Da war es erst recht nicht einfach. Ich sollte die Heldin so vieler sein – | |
das musste ich erstmal verkraften. Ich ging durch viele Täler – immer noch | |
dachte, diese Liebe zu mir könnte nicht wahr sein, alles würde mit einer | |
Enttäuschung enden. Endlich an mich selbst zu glauben war das Schwierigste | |
für mich überhaupt: „I can do it“ – das ist ein Satz, den man sich selb… | |
sehr hart erarbeiten muss. | |
„Diversity“ ist der Kern Ihrer politischen und kulturellen Botschaft? | |
Kulturell, vielleicht, aber ich kein politischer Mensch, über Politisches | |
kann ich nichts sagen. Ich mag Menschen – das ist mir wichtig, von Politik | |
verstehe ich nicht genug. Meine Botschaft lautet: „Wir sind schön – in all | |
unseren Formen, in allen Farben und Größen.“ Wenn wir akzeptieren, dass wir | |
alle schön sind, dann sind wir wirklich schön. | |
Ist ihr Eurovisionslied „Toy“ auch als [2][Kommentar zur #MeToo-Bewegung] | |
zu verstehen? | |
Ich habe in „Toy“ mehr gesehen. Okay, dass es die #MeToo-Bewegung | |
unterstützt, war prima. Diese Bewegung hat unsere Stimmen als Frauen ja | |
hörbar gemacht. Aber mein Lied meint mehr: „Toy“ ist ein Lied gegen jede | |
Art von Mobbing, Tyrannei, Gewalt und Einschüchterung. | |
Durch Regierungen, in Schulen, an Universitäten, in Jobs – und im Alltag | |
überhaupt. Leute sind in Jobs, die sie quälen, in denen sie ihre Zeit | |
verschwenden – auch gegen diese Zustände ist mein Lied gerichtet. | |
Ist „Toy“ ein autobiografisches Lied? | |
Auch. Wie oft ist mir von allen möglichen Leuten gesagt oder nahegelegt | |
worden, abzunehmen. Sie wollten mich in ihre Normen pressen – das durfte | |
ich nicht hinnehmen. Weil es ja um mein Leben, um meinen Körper geht. Ich | |
bin oft gemobbt worden, als dicke Person. Leute haben hinter meinem Rücken | |
über mich gelacht, sie haben mir signalisiert, dass ich so, wie ich bin, | |
nicht okay bin. Das war sehr schmerzlich. Immer noch, das ist nicht einfach | |
vergessen. „Toy“ ist für mich ein Appell, dass diese Menschen nicht im | |
Recht sein dürfen. | |
Haben Sie eine Vorstellung davon, weshalb Sie bei genormten Menschen | |
Aggressionen wecken? | |
Sie fürchten, in mir das Fremde zu sehen, etwas, das sie nicht kennen und | |
kennenlernen wollen. Sondern abwerten. Sie fürchteten auch das | |
Hühnergegacker, das in „Toy“ zu hören ist – das störte sie, das klang … | |
nicht schön genug. Sie fürchteten das Fremde in diesem Gegacker, weil sie | |
glauben, dass man ihnen ihre Plätze streitig macht. Sie haben Schiss davor, | |
dass du ihre Spielregeln nicht mehr anerkennst. | |
Hegen Sie nicht manchmal Gefühle, an den Bösen Rache nehmen zu wollen? | |
Nein, Rachegefühle habe ich nicht. Ich danke den Leuten, die mich mobbten, | |
wirklich. Ihr hässliches Benehmen gegen mich machte mich am Ende stärker. | |
Ich vergebe ihnen. Allen, die mich verspotteten. Meine künstlerische Arbeit | |
ist nicht einer Rache gegen andere gewidmet, sondern auch mir, um gegen | |
Mobbing mich wehren zu können – stark zu werden, um vom Spott nicht mehr | |
getroffen zu sein. Ich war nicht auf der Eurovisionsbühne, um ihnen allen | |
in die Hintern zu treten, sondern auch ihnen meine Liebe anzubieten. | |
Haben Sie nach dem Sieg bei der Eurovision mehr Liebesbriefe als zuvor | |
erhalten? | |
Es gibt jetzt viel mehr Fans, die mir ihre Liebe zeigen. Und Liebesbriefe, | |
ja, die gab es auch. Ich habe natürlich auch ein Privatleben, darüber | |
möchte ich nichts sagen in der Öffentlichkeit. Aber ich weiß alle Briefe, | |
Mails und Chats sehr zu schätzen. Warum auch nicht? Ich bin schön, | |
attraktiv, sexy … Ich habe Selbstvertrauen, das ist ein rares Gut | |
heutzutage, so selten. Wer glaubt schon im Herzen an sich? So viele sind so | |
unsicher. Dabei ist die Lösung nah: So wie du bist, ist es richtig – glaub | |
daran. Es ist ein harter Weg, um sich annehmen zu können. In den Spiegel zu | |
gucken, sich anzusehen und zu sagen: Wow – ich bin das schönste Wesen der | |
Welt! | |
Mit Blick auf das kommende Jahr: Sind Sie glücklich, das | |
Eurovisionsfestival in Tel Aviv zu haben? | |
Ja, das wird die größte Show, die die Welt je gesehen hat. Alles wird | |
voller Eurovision sein. Die Leute in Israel freuen sich auch schon | |
wahnsinnig drauf – diese Party ist für alle, an den Stränden, in den Clubs, | |
auf den Straßen, überall. Die Menschen wissen ja gar nicht, wie toll Israel | |
ist. Sie werden es im Mai herausfinden können. | |
War es eine gute Entscheidung, dass der ESC nicht in Jerusalem ist wie 1979 | |
und 1999? | |
Oh, Jerusalem ist auch magisch – man kann es besuchen, es liegt nur eine | |
halbe Stunde von Tel Aviv entfernt. | |
14 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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