| # taz.de -- Bundesliga-Spieler über Blindenfußball: „Ich bin wie kochendes … | |
| > Als erster blinder Fußballer hat Serdal Celebi das Tor des Monats | |
| > erzielt. Ein Gespräch über Scham, Pfostenschüsse und Stress beim Spiel im | |
| > Stadion. | |
| Bild: Würde, wie viele Fußballer, gern mit Fußballspielen Geld verdienen: Se… | |
| taz: Herr Celebi, was ist die größte Herausforderung beim Blindenfußball? | |
| Serdal Celebi: Für mich? Entspannt zu bleiben. Auf dem Platz bin ich | |
| emotional, wie kochendes Wasser. Ich bin mit 1000 Prozent dabei und schade | |
| mir manchmal selbst. Ruhe wäre manchmal gut. Ich muss Dinge noch klüger | |
| angehen, abwarten, auch einmal zurückspielen. | |
| Vor ein paar Monaten haben Sie als erster blinder Fußballer das [1][Tor des | |
| Monats] erzielt. Nach der Wahl prophezeiten Sie, Ihr Tor werde in ein paar | |
| Tagen vergessen sein. Stimmt wohl nicht. | |
| Das Tor des Monats war eine große Überraschung. Ähnlich überraschend ist es | |
| für mich, dass die Medien dranbleiben und ich zwei Monate später immer noch | |
| Interviews geben muss. Aber ich mache das gerne. | |
| Sie hatten Auftritte bei Stern TV und dem NDR Sportclub. | |
| Das war schon Wahnsinn. Du kommst da an, hast deine eigene Garderobe, du | |
| bekommst sogar dein Hemd gebügelt! So kann ich weiter Werbung für den | |
| Blindenfußball machen. Denn wir brauchen noch mehr Anerkennung. | |
| Was braucht Ihr Sport? | |
| Wir haben schon Unterstützung, aber das reicht niemals aus. Man kann nie | |
| genug Sponsoren haben. Ich spiele beim FC St. Pauli, da bekommen wir gute | |
| Unterstützung von der Abteilung Fördernde Mitglieder und von der | |
| Herrenfußball-Amateurabteilung. Auch der Chemnitzer FC, Schalke und | |
| Dortmund haben schon in den Profiverein integrierte | |
| Blindenfußballmannschaften. Aber keiner von uns verdient in Deutschland | |
| Geld. | |
| Woanders schon? | |
| In Brasilien kann man gutes Geld verdienen, die englischen Nationalspieler | |
| ebenso. Auch in Spanien, Frankreich und der Türkei vereinzelt. Es wäre ein | |
| Traum, mit seinem Hobby Geld zu verdienen. Aber deswegen habe ich natürlich | |
| nicht angefangen. | |
| Wie gehen die Regeln? | |
| Wir spielen vier Blinde gegen vier Blinde auf ein 40 Mal 20 Meter großes | |
| Feld mit Banden auf Hockey-Tore. Es gibt zwei Halbzeiten mit je 20 Minuten. | |
| Wir tragen einen Kopfschutz gegen etwaige Zusammenstöße und eine Brille, | |
| damit eventuelle Sehreste auf null gestellt werden. So herrschen gleiche | |
| Bedingungen. Die Torhüter können sehen, sie dürfen ihren Strafraum nicht | |
| verlassen. Der Torwart, der Hintertor-Guide und der Mittel-Guide geben uns | |
| Hinweise. | |
| Auf die Sie immer reagieren? | |
| Man vertraut den Rufen schon, aber ich bin kein Roboter. Wenn von außen | |
| jemand „Schuss“ ruft, kann es schon sein, dass ich mich dazu noch nicht | |
| bereit fühle. | |
| Man hört auf dem Spielfeld immer die Rufe: „Voy!“ | |
| Das ist spanisch und heißt: Ich komme. Den Spieler mit dem Ball hört man, | |
| weil der Ball rasselt. Der Gegner ist jedoch nicht hörbar, deswegen muss er | |
| sich bemerkbar machen, wenn er drei bis fünf Meter entfernt ist. Wer das | |
| nicht tut, bekommt ein Foul zugeschrieben. | |
| Ich stelle mir die Koordination nicht leicht vor: Man braucht gleichzeitig | |
| Gehör und Gefühl. | |
| Du musst auf die eigenen Spieler, auf die Guides und auf die Voy-Rufe | |
| achten, und dazu dribbeln und reagieren. Beidfüßig sein ist auch von | |
| Vorteil. Ich bin Linksfuß, und mein rechter Fuß ist wie eine faulende | |
| Leiche. Das Schießen mit rechts muss ich noch üben. | |
| Hört man es eigentlich, wenn man ein Tor schießt? | |
| Das kann man schon hören. Aber interessanter ist es, gegen den Pfosten zu | |
| schießen. Wenn mir das im Training passiert, lausche ich dem Klang gerne | |
| noch nach. | |
| Wann kamen Sie aus der Türkei nach Deutschland? | |
| Mit 13 Jahren, das war 1996. | |
| War der Umzug schwierig? | |
| Ich hatte Angst, von meiner Mutter getrennt zu werden. Sonst war ich nie | |
| ängstlich. Es ist schon traurig, einen Ort zu verlassen, aber ich habe mich | |
| schnell daran gewöhnt. In Deutschland hatte ich keine Freunde und musste | |
| anfangs sehr kämpfen. | |
| Wann haben Sie Ihr Augenlicht verloren? | |
| Schon in der Türkei war ich aufgrund einer Netzhautablösung sehbehindert. | |
| Nachts war ich komplett blind. In Deutschland wurde ich dann operiert, das | |
| machte es kurz besser. Ich habe mein Augenlicht dann aber trotzdem | |
| verloren. Da war ich 13. | |
| Das ist hart. | |
| Ja, du musst alles neu lernen. Ich habe mich geschämt, mir war es peinlich, | |
| rauszugehen. Obendrein konnte ich die Sprache nicht. Als ich dann mobiler | |
| wurde und lernte, mit dem Blindenstock umzugehen, habe ich mir gesagt: | |
| Egal, was die Leute über dich denken, geh raus, Serdi! Leb dein Leben, wie | |
| du möchtest. Ich bin also losgegangen. Und seitdem bin ich nicht | |
| stehengeblieben. Ich wollte auch immer wieder Sport machen, spezielle | |
| Blindensportarten wie Goalball habe ich auch ausprobiert. Aber Fußball | |
| mochte ich immer am liebsten. Ohne Fußball ist das Leben langweilig! | |
| Fiel Ihnen das Deutschlernen schwer? | |
| Ja. „Der“, „die“, „das“ bringe ich immer noch durcheinander. Und ic… | |
| auch ein bisschen faul. Trotz der schlimmen Grammatik kann ich mich | |
| irgendwie ausdrücken und die Leute verstehen mich. | |
| Warum sind Sie Physiotherapeut geworden? | |
| Ich habe mal bei einem Bürstenmacher gearbeitet. Wir saßen in einem Keller, | |
| die ganze Zeit liefen Oldies. Da wollte ich mein Leben nicht verbringen – | |
| ich wollte was mit Menschen machen. Mit einem Hauptschulabschluss mit Note | |
| 4,4 kann man allerdings nicht viel anfangen. Doch meine Ausbildung zum | |
| Masseur und medizinischen Bademeister habe ich mit Note 1,3 ab geschlossen | |
| und habe darum die Mittlere Reife. Danach habe ich gleich die Ausbildung | |
| zum Physiotherapeuten angefangen. Seit 2009 arbeite ich in einer | |
| physiotherapeutischen Praxis. | |
| Wie läuft das ab? | |
| Wenn jemand zu mir kommt, mache ich eine Anamnese. Dann kommen die | |
| Funktionsuntersuchungen. Der Sichtbefund fällt aus, also mache ich einen | |
| Hörbefund. Ich höre gleich auf die Atmung, wenn ein Patient hineinkommt. Am | |
| Geräusch der auftretenden Füße kann ich auch erkennen, ob er Plattfüße hat. | |
| Sie haben früher auch mal als Guide in der Hamburger Ausstellung „Dialog im | |
| Dunkeln“ gearbeitet. | |
| Genau. Ich ging mit den Gruppen durch die Räume und konnte die Führung ganz | |
| frei gestalten. Dabei war mir am wichtigsten, dass die Leute Spaß haben und | |
| lachen. Ich bin selbst immer gut drauf, also sollen die anderen auch gute | |
| Laune haben. | |
| Kommen Sie gut klar, wenn Sie in der Stadt von A nach B wollen? | |
| Eigentlich schon. Aber Baustellen sind ein echtes Problem. Dazu gibt es | |
| parkende Autos und Fahrräder auf den Gehwegen. Das verunsichert mich total, | |
| darauf müsste die Polizei mehr achtgeben. Die kleinen Pfosten, die im Weg | |
| stehen, sind auch wirklich schlimm. | |
| Wo wohnen Sie zurzeit? | |
| Ich wohne mit meiner Familie in Hamburg-Billstedt. Aber wir suchen eine | |
| Drei-Zimmer-Wohnung. Schreiben Sie das ruhig rein, vielleicht meldet sich | |
| ja jemand. Möglichst in Eimsbüttel. Denn da wohnt meine Schwester, außerdem | |
| ist es nicht weit nach St. Pauli. | |
| Wie haben Sie ihre Frau kennengelernt? | |
| Durch meine Tante in Istanbul. Sie hat uns vorgestellt. Also habe ich ein | |
| paar Wochen mit meiner Zukünftigen telefoniert und bin dann spontan nach | |
| Istanbul geflogen. Wir haben gemerkt, dass wir auf einer Wellenlänge waren. | |
| Am nächsten Tag waren wir verlobt. 2016 haben wir geheiratet, und letztes | |
| Jahr wurde dann unser Sohn geboren. | |
| Und Ihre Frau ist nach Deutschland gekommen, ohne die Sprache zu sprechen? | |
| Sie spricht mittlerweile ganz gut deutsch. Wegen unseres Sohnes arbeitet | |
| sie nicht. Dafür arbeite ich – wie ein Tier. Ich arbeite und spiele wie ein | |
| Tier. Was ich alles unter einen Hut kriegen muss. | |
| Ist es schwierig für Sie, Job, Familie und Sport zu koordinieren? | |
| Es ist schwierig, alles hinzubekommen. Deswegen habe ich auch in der | |
| Nationalmannschaft aufgehört. Ein Nationalspieler muss eigentlich drei Mal | |
| die Woche trainieren. Wer 40 Stunden arbeitet, kann das aber nicht leisten. | |
| Man investiert so viel Zeit, und bekommt kaum etwas zurück. Obendrein kann | |
| man sich in seinem Urlaub nicht erholen, weil man Leistungslehrgänge für | |
| die Nationalelf besuchen muss. Aber natürlich beschwert man sich nicht, | |
| weil man froh ist, Nationalspieler zu sein. In der Türkei beispielsweise | |
| sieht das ganz anders aus. Wie kann das sein, dass es in einer großen | |
| Fußballnation wie Deutschland nicht möglich ist, uns zu bezahlen? | |
| Andere Länder haben da Wettbewerbsvorteile? | |
| Ja. Bevor wir bei der Europameisterschaft antraten, konnten wir Deutschen | |
| drei Tage zusammen trainieren. Andere Nationalteams hatten mehrere Wochen. | |
| Wer erfolgreich sein will, muss die gleichen Bedingungen wie in anderen | |
| Ländern schaffen. Wir bekommen die Unterkunft und die Lehrgänge bezahlt, | |
| auch die Reise zur Weltmeisterschaft im Jahr 2014 nach Japan. Aber ich | |
| musste dafür auch extra zwei Wochen Urlaub nehmen. | |
| Wäre es für Sie eine Option gewesen, türkischer Nationalspieler zu werden? | |
| Ich lebe schon sehr lange in Deutschland, das Land hat mir so viel gegeben. | |
| Außerdem bin ich Kurde. Warum sollte ich da für die Türkei spielen? | |
| Glauben Sie, dass sehende Fußball-Profis sich etwas von Ihnen abgucken | |
| können? | |
| Ich glaube schon. Einen Pass blind zu spielen, das ist ja so ein Satz, der | |
| manchmal fällt. Ein Spieler, der ein Problem mit bestimmten Pässen hat, | |
| kann durch ein Training ohne Augen eine neue Wahrnehmung für seinen Fuß | |
| entwickeln. Das verbessert die Zielgenauigkeit. | |
| Sie sind Mitglied beim FC St. Pauli. Da verfolgen Sie sicher auch die | |
| Zweitliga-Spiele? | |
| Ich bin bei jedem Heimspiel dabei. Mein Trainer Wolf Schmidt und seine | |
| Kolleginnen der Sehbehinderten-Reportage beschreiben das Spielgeschehen | |
| live, eins zu eins. Das ist entspannend für mich, denn ich muss nichts | |
| machen. Es gibt Bier, Fußball, Fischbrötchen! | |
| Als Blinder nimmt man den Lärm im Stadion sicher noch intensiver wahr. | |
| Ja, schon. Aber nach zwei Bieren geht das. | |
| 12 Nov 2018 | |
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| [1] https://youtu.be/U6O36O-XBWQ | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Paersch | |
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