# taz.de -- Roman „Rückkehr nach Fukushima“: Eine Wunscherfüllung | |
> Adolf Muschg schreibt in seinem Roman über Liebe und Landschaft. Dabei | |
> webt er ein dichtes Netz aus Zeit, Text, Gemeinschaft und | |
> Nachkommenschaft. | |
Bild: Ein zerstörtes Haus in der Geisterstadt Okuma im japanischen Fukushima | |
Es gibt Orte, die zur großen Chiffre der menschgemachten Katastrophe | |
werden. Hiroshima, Tschernobyl oder Fukushima, Orte der Hybris, an denen | |
menschliche Technik Vernichtung in mythischer Dimension anrichtet. In | |
Fukushima wird so bald nichts mehr wachsen. Der einst fruchtbare Boden | |
lagert in Müllsäcken. Auf ewig? | |
Ausgerechnet diese Mondlandschaft besucht der Architekt Paul Neuhaus auf | |
Bitte des japanischen Übersetzers seines Bucherfolgs „Hier und Jetzt“. Die | |
Landschaft, einst Heimat, soll wieder besiedelt werden. | |
Der Architekt mit dem sprechenden Namen Neuhaus wurde in seiner Heimat | |
soeben von seiner Frau verlassen; nichts hält ihn. Der nicht mehr ganz | |
junge Mann, der den Höhepunkt geistiger Potenz erreicht, die Klimax | |
körperlicher Potenz allerdings überschritten hat, begibt sich auf | |
Aventiure. Nie fühlt man sich lebendiger als an Orten, die mit dem Tode | |
bedrohen. Mitsu, die ihm zur Seite stehende Dolmetscherin, wird Paul bald | |
mehr sein als Verständigungshilfe. Ganz unaufgeregt entfaltet sich eine | |
Liebesgeschichte zwischen alterndem Autorarchitekten und junger | |
Übersetzerin, im knackenden Takt der Geigerzähler. | |
Auf strahlendem Grund vollzieht sich die Vereinigung von Paul und Mitsu, | |
als grotesk-komischer Ritt auf dem Vulkan, der der alte Mann ist. | |
Vielleicht, weil sexuelle Vereinigung das unbedingte Da-Sein im Hier und | |
Jetzt voraussetzt? Wen kümmert da der Krebs der Zukunft! „Paul und Mitsu | |
haben nicht so viel Zeit. Aber vor einem uferlosen Horizont, wo Raum und | |
Zeit verwehen, wird es müßig, um ein paar Jahre mehr oder weniger zu | |
markten.“ | |
Ist das nicht ein bisschen abgeschmackt, eine Lovestory zwischen älterem | |
Herrn und junger Frau? Unbedingt! Dass sie Adolf Muschg trotzdem erzählt, | |
verweist auf die Funktion des Schreibens. „Warum schreiben Sie?“, so lautet | |
ja die ständige Frage des Lesers an den Schreibenden, und Muschg versuchte, | |
sie im Rahmen seiner Frankfurter Vorlesungen „Literatur als Therapie?“ zu | |
beantworten. Man muss aber weder Autor noch Psychoanalytiker sein, um zu | |
verstehen, dass Literatur dem Träumen nicht unähnlich ist. Wir haben es, | |
natürlich, mit Wunscherfüllung zu tun. | |
Muschgs Roman webt ein dichtes Netz aus den Motiven Zeit, Text, | |
Gemeinschaft und Nachkommenschaft. Unentwegt liest sein Protagonist in | |
Adalbert Stifters Erzählband „Nachkommenschaften“. Es geht um die | |
symbolische Nachkommenschaft Stifters; es geht aber auch um biologische | |
Nachkommen: Mit seiner Frau Suzanne hat Neuhaus keine Nachkommen, und | |
Nachkommenschaft wird auch auf dem eingetüteten Mutterboden von Fukushima | |
nicht mehr entstehen. | |
Die ausführlich zitierten Passagen aus Stifters Werk, in denen es um | |
Landschaftsmalerei geht, unterstreichen das übergeordnete Thema Zeit: Der | |
Landschaftsmaler hält den Augenblick fest. Seine Kunst offenbart sich dem | |
Auge des Betrachters auf einen Blick. Seit Lessing gibt es ja die | |
Unterscheidung zwischen der Erzählung als Zeitkunst – weil sich der Text | |
Zeile für Zeile, Seite für Seite entfaltet – und der bildenden Kunst, die | |
sich dem Auge unmittelbar aufdrängt. | |
Andererseits: Das Hier und Jetzt ist die Sache der Architekten und Autoren | |
eigentlich nicht. Immerzu schreiben sie sich in die Zukunft ein, setzen | |
Zeichen wie Stelen, die hoffentlich noch lange nach ihrem Tod gedeutet | |
werden. Der Autor und Architekt Neuhaus, einem Max Frisch gleich, mit dem | |
Muschg einst aus Protest gegen reaktionäre Kräfte aus dem Schweizer | |
Schriftstellerverband austrat, ist auch der Idealprotagonist eines | |
Alterswerkes. So darf man „Heimkehr nach Fukushima“ wohl nennen, immerhin | |
ist Muschg inzwischen 84 Jahre alt. Der verzweifelte Versuch der | |
Landgewinnung in Fukushima erinnert durchaus auch an das vergebliche | |
Streben von Goethes Faust. | |
## Eine vollkommene kurze Zeit | |
Der Verweis auf Faust öffnet den Blick für die Zeit der Gegenwart: Muschgs | |
Text ist ein Abgesang auf die Technofortschrittsgläubigkeit der Gegenwart | |
und träumt von halkyonischen Tagen. „Halkyonisch“, das ist eine Chiffre f�… | |
eine vollkommene, kurze Zeit. Leben im Hier und Jetzt. All das wird | |
Botho-Strauß-Lesern bekannt vorkommen, nur trägt es Muschg ohne straußsche | |
Verbissenheit vor. | |
Bei Strauß findet sich stets die grimmige Sehnsucht nach einer anderen | |
Zeitordnung, sie soll die Rückkehr zum verlorenen, goldenen Zeitalter | |
ermöglichen. Bei Muschg aber öffnet sich der Blick auf eine strahlende | |
Zukunft. Die japanische Kultur, mit Beharrungsvermögen ausgestattet wie | |
kaum eine andere, kann der linearen Kettenreaktion, die nicht mehr | |
aufzuhalten ist, vielleicht doch etwas entgegensetzen. | |
Muschgs Roman ist ein sprachliches und erzählerisches Kunstwerk. Die Texte | |
im Text verweben sich zu einem Hypertext aus literarischen Verweisen. Wie | |
der Autor und Literaturwissenschaftler Muschg – mal in groben Strichen, mal | |
in fein ziselierten Details – von seinem Protagonisten erzählt, erinnert, | |
natürlich, an die Kunst des Landschaftsmalers, der seinen Duktus dem Sujet | |
anzupassen weiß. Stifter stiftet doppelt: Als sprachliche und malerische | |
Referenz, mithin als Sinnbild für das Erzählen in groben und feinen | |
Pinselstrichen. | |
1 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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